Künstliche Intelligenz beim Onlinehändler Otto

Keine Angst: KI ist auch nur Software

22.09.2017 von Rolf Röwekamp
Der Onlinehändler Otto hat ein KI-basiertes Feature zur Analyse von Produktbewertungen in seinem Webshop eingeführt. IT-Bereichsvorstand Michael Müller-Wünsch kann dennoch die Euphorie um Künstliche Intelligenz nicht nachvollziehen. Am Ende gehe es um Software-Entwicklung, und dabei mache nun mal der Algorithmus den Unterschied.
  • Ein Algorithmus durchforstet die Produktbewertungen der Kunden und erkennt ihre Interessen.
  • Eine Deep-Learning-Anwendung analysiert darüber hinaus die Stimmungen in Kommentaren erkennen
  • Für CIO Müller-Wünsch ist KI keine Raketenwissenschaft: Es gilt, ein Stück Software auf einem Stück Hardware lauffähig zu machen.
  • Herausfordernd ist nur der Algorithmus, der über den Nutzen einer KI-Anwendung entscheidet
Michael Müller-Wünsch, Bereichsvorstand Technology (CIO) bei der Otto Einzelgesellschaft: "KI ist und bleibt nichts anderes als Software. Am Ende geht es darum, ein Stück Software auf einem Stück Hardware lauffähig zu machen."
Foto: Otto

Nicht nur die Unternehmen, auch die Kunden müssen heute oft mit riesigen Datenmengen umgehen. Wer beispielsweise eine Waschmaschine in einem Webshop kaufen möchte und dabei auf 1200 Kundenrezensionen stößt, wird diese niemals alle lesen.

Millionen solcher Kunden landen tagtäglich auf der Website Otto.de, wo sie aus mehr als zwei Millionen Artikeln auswählen können. Dabei steigt das Transaktionsvolumen ständig, weil auch die Zahl der Besucher und Produkte immerzu wächst. Um die so entste­henden Datenmengen in den Griff zu bekommen und zu analysieren, setzt die Otto Einzelgesellschaft (kurz Otto), eine von rund 120 Gesellschaften der Otto Group, auf Methoden der künstlichen Intelligenz (KI).

"Es war faszinierend"

Natürlich waren die Otto-Mitarbeiter zunächst vorsichtig, sie mussten herausfinden, ob die Ergebnisse korrekt sind oder zumindest nach und nach besser werden. Man dürfe nicht in blinde Technikgläubigkeit verfallen und den Resultaten der Software vorbehaltlos trauen, nur weil sie von KI-Spezialisten entwickelt worden sei, so Michael Müller-Wünsch, bei Otto Bereichsvorstand Technology (CIO). Doch die Deep-Learning-Anwendung lernte tatsächlich schnell dazu: "Es war faszinierend zu sehen, wie das System durch Hinzuführen von immer mehr neuen Datensätzen, nämlich den Kommentaren der Kunden von otto.de, sinnvolle Cluster bildete und die Ergebnisse immer besser wurden."

Unterhalb der Produktbeschreibung finden sich heute immer die zehn am häufigsten genannten Keywords in den Kommentaren. Will der Kunde etwa einen Föhn kaufen und klickt auf den Begriff "Preis", erhält er alle Kundenmeinungen zu diesem Aspekt. Dabei sieht er auch, wie viele Kommentare den Preis positiv, durchschnittlich oder negativ bewerten. Weitere Keywords in diesem Beispiel sind etwa "Qualität", "Handhabung", "Design" oder "Haare".

Seit Mai durchforstet ein Algorithmus die Produktbewertungen der Kunden und identifiziert die am häufigsten benannten Themen. Unterhalb der Produktbeschreibung finden sich jetzt immer die zehn am häufigsten genannten Keywords in den Kommentaren.
Foto: Otto GmbH

"In dem Projekt haben wir den Methodenbaukasten der neuronalen Netze und des Machine Learnings verwendet und uns dabei wiederum auf Algorithmen aus dem Teilbereich des Deep Learnings konzentriert", berichtet Müller-Wünsch. Künstliche Intelligenz oder Artificial Intelligence stehen als Oberbegriffe über diesen und weiteren Methoden. Machine Learning steht für selbstlernende Systeme, die aus Daten Muster erkennen und diese Erkenntnisse auf unbekannte Daten anwenden können.

Die Methode Deep Learning ist wiederum ein Teilbereich des Machine Learnings, um komplexe Konzepte zu erlernen. Neuronale Netze ermöglichen es beim Deep Learning, Strukturen innerhalb großer Datenmengen zu erkennen und die Erkennungsgenauigkeit ständig zu verbessern. Letztlich zielen alle Methoden der KI darauf ab, das bislang den Menschen vorbehaltene Entscheidungs- und Verständnisverhalten auf Computer zu übertragen. Völlig selbstlernende KI-Systeme, die sich per Definition ohne menschliches Eingreifen weiterentwickeln, gibt es allerdings noch nicht.

"KI ist und bleibt nichts anderes als Software"

Was so geheimnisvoll und abgehoben klingt, holt Müller-Wünsch gleich auf den Boden der Tatsachen zurück: "KI ist und bleibt nichts anderes als Software. Am Ende geht es darum, ein Stück Software auf einem Stück Hardware lauffähig zu machen." Auf Netzwerkmodelle werden neuronale Netzwerk-Regelwerke gelegt, worüber dann große Datenvolumina geschoben und dabei Klassifika­tionsmethoden angewendet werden. "Diese Vorgehensweise ist genauso methodisch untermauert, wie wir es aus der klassischen Softwareentwicklung auch schon kennen.

Hier geht es nur um andere Paradigmen - aber trotzdem um handwerklich ordentliches Technologie-Arbeiten. So gesehen ist die KI an sich nichts Besonderes", entmystifiziert Müller-Wünsch. Auch brauche man für KI keine eigenständige Technologie-Infrastruktur aufzubauen. Es geht nach wie vor um Software, Hardware und Daten. Viele Dinge seien einfacher, als Anbieter, Berater und Marketing einem oft glauben machen möchten: "Ein KI-Projekt ist ein ganz normales Technologieprojekt."

Künstliche Intelligenz aus der Cloud
Microsoft Machine Learning
Azure Machine Learning ist ein vollständig verwalteter Cloud-Dienst, mit dem Anwender Predictive Analytics-Lösungen generieren und bereitstellen können.
Microsoft Cognitive Services
Die Cognitive Services von Microsoft enthalten unter anderem Dienste für Bildanalyse und Gesichtserkennung.
Amazon ML
Amazon Machine Learning unterstützt den Anwender bei der Fehleranalyse von Vorhersagemodellen.
Amazon Bot
Mit Amazon Lex können Chatbots beispielsweise für Verbraucheranfragen erstellt werden.
Google API
Über APIs lassen sich Google AI-Services in eigene Anwendungen integrieren.
Google Tensorflow
Das von Google stammende Open-Source Framework Tensorflow ist die Basis von Cloud ML.
IBM Bluemix
IBM bietet auf der Cloud-Plattform Bluemix zahlreiche Watson-basierte AI-Anwendungen.
IBM ML
IBM Machine Learning ermöglicht die Entwicklung und den Einsatz selbstlernender Analysemodelle in der Private Cloud.
HPE Haven
Mithilfe der Gesichtserkennungs-API von HPE können Entwickler in Fotos gefundene Daten importieren, extrahieren und analysieren.
Salesforce Einstein
Salesforce Einstein: Predictive Content liefert Kunden auf Basis von maschinellem Lernen eine individuelle Empfehlung für das beste Produkt.

Fachkräftemangel bei KI nicht größer als in anderen Bereichen

So verwundert es kaum, dass Müller-Wünsch unter seinen Mitarbeitern kein spezifisches Qualifizierungsdefizit im KI-Bereich feststellen kann. Der Fachkräftemangel betreffe Bereiche wie Business Analytics, Netztechnologien oder mobile Applikationen gleichermaßen. Sein Informatikdiplom und seine Doktorarbeit haben ihn Ende der 80er Jahre mit der KI in Berührung gebracht, und das Thema wird schon seit Jahrzehnten standardmäßig an Hochschulen gelehrt.

Deshalb gibt es bei Otto längst Experten, die sich mit KI auskennen. Andere Mitarbeiter werden zu Spezialisten weiterentwickelt, neue Kollegen laufend gesucht. Außerdem erleichtert die Open-Source-Community mit vorgebauten Technologiekomponenten die Arbeit. "KI lässt sich also ganz klassisch handwerklich umsetzen", sagt Müller-Wünsch.

Algorithmus und Wissensextraktion machen den Unterschied

Worin liegt dann die Herausforderung? "Das Geheimnis von KI ist der Algorithmus und die Wissensextraktion, sonst nichts", so Müller-Wünsch. "Der Algorithmus entscheidet darüber, ob man Vernünftiges oder Unsinniges aus seinen Daten herausholt."

Das von Otto selbstentwickelte Feature der aggregierten Produktbewertung sei nichts anderes als ein Algorithmus, den die Mitarbeiter jetzt als Microservice aufrufen könnten. Um diesen und andere Services zugänglich machen und die Datensätze der Kundenrezensionen durchschieben zu können, baut Otto seine IT-Architektur in Richtung einer Business-Service-orientierten Architektur um: also weg von monolithischen Systemen hin zu flexiblen, Service-orientierten Bausteinen.

Otto-Zentrale in Hamburg Bramfeld
Foto: OTTO

Ohne Methoden der KI werden Unternehmen kaum sinnvolle Erkenntnisse aus ihren Massendaten ziehen können. Deswegen rät Müller-Wünsch CIOs, KI mit offenen Armen anzunehmen und nach Anwendungsfällen in ihren Unternehmen zu suchen. "Es ist und bleibt der Fluch der IT - und gleichzeitig die größte Chance auf unserem Wachstumskurs: Wir brauchen Mechanismen, die der Datenmengen Herr werden."

Projekt | Aggregierte Produktbewertungen

Wer bei Otto.de einkauft, kann die Kundenempfehlungen zu den Produkten intelligent filtern lassen. Ein Algorithmus identiziert nicht nur die häufigsten Aspekte in den Bewertungen, er erkennt auch Stimmung und Tonalität.

Zeitrahmen: Die Entwicklungszeit – und dazu zählt maßgeblich das Trainieren des Algorithmus – hat etwas länger als drei Monate gedauert. In dieser Zeit hat der Algorithmus anhand von 1000 beispielhaften Rezensionen und mit Hilfe eines Expertenteams von Otto gelernt, Aspekte aus den Kommentaren der Nutzer zu extrahieren und zu bewerten, ob die Aussagen positiv, neutral oder negativ gemeint sind.

Mitarbeiter: Bereichsübergreifendes Projektteam Business Intelligence/E-Commerce

Produkte: Neuronale Netze/Deep Learning

Dienstleister: Eigenentwicklung

Einsatzort: Deutschland; für rund 6 Millionen aktive Kunden

Internet: www.otto.de