Mit überraschenden Übernahmen macht der Markt für Enterprise-Content-Management (ECM)-Systeme immer wieder von sich reden. Erst im Juni kaufte der kanadische Anbieter Hummingbird die Oldenburger Reddot Solutions AG. Die Expertenmeinungen über die weitere Marktentwicklung gehen allerdings diametral auseinander: Während eine Gruppe eine weitere starke Konsolidierung voraussagt, hält das andere Lager nur noch wenige Übernahmen für wahrscheinlich.
Den Markt für ECM-Systeme treiben einerseits zurzeit Rechtsvorschriften wie Basel II, Sarbanes Oxley Act und GDPdU (Grundsätze zum Datenzugriff und zur Prüfbarkeit digitaler Unterlagen), weil durch sie Unternehmen Dokumente langfristig und geordnet speichern müssen. Andererseits erhoffen sich CIOs von ECM-Lösungen, die jährlich um mehr als 80 Prozent wachsende Menge von unstrukturierten Daten wie Mails, Text-Dateien und PDFs zu managen.
Bernhard Zöller, Vorstand des Verbands Organisations- und Informationssysteme (VOI) und Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Zöller & Partner, schätzt das Marktvolumen für ECM-Systeme in Deutschland auf rund eine Milliarde Euro. Im Jahr 2004 entfielen dabei rund 650 Millionen Euro auf Software und Services und 330 Millionen Euro auf Hardware. Die Gartner Group errechnete für das Jahr 2004 weltweit einen Umsatz mit neuen Lizenzen von knapp 1,2 Milliarden Dollar, Steigerungsraten von gut zehn Prozent im Jahr 2003 und mehr als acht Prozent im Jahr 2004. Europa kam dabei auf ein Wachstum von 13 Prozent.
Aufgrund der weiter sinkenden Hardwarekosten und steigender regulatorischer Anforderungen geht Zöller davon aus, das künftig auch mittelständische Unternehmen verstärkt in ECM-Systeme investieren werden. So prognostiziert er für Deutschland ein jährliches Wachstum von zehn Prozent. Allerdings gehen die Meinungen stark darüber auseinander, welche und wie viele Anbieter sich den Umsatz in Zukunft untereinander teilen werden.
Große Anbieter vernachlässigen KMUs
Zöller hält in absehbarer Zeit nur noch sehr wenige Übernahmen für wahrscheinlich. Neben den vier großen Anbietern IBM, EMC/Documentum, Opentext/Ixos und Filenet tummeln sich rund 25 weitere Anbieter mit jährlichen Umsätzen zwischen zwei und 400 Millionen Euro auf dem deutschen Markt.
Kleinere Anbieter reagieren Zöllers Meinung nach schneller und flexibler auf die Bedürfnisse von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU). Die großen Anbieter vernachlässigen dieses Segment noch immer viel zu stark. Zudem seien die Systeme der Großen für mittelständische Unternehmen selbst geschenkt häufig noch zu teuer, weil KMU den Betrieb der Lösungen nicht bezahlen können. "Die Lizenzumsätze der kleineren ECM-Anbieter in Deutschland wachsen prozentual stärker als die der großen Spieler", stellt Zöller fest.
KMU fragen auch deswegen immer stärker nach ECM, weil sie inzwischen die Lösungen auch bezahlen können. "Die Investitionsbremse durch hohe Hardwarepreise wie für Speicher gibt es nicht mehr", sagt Zöller. Alle Faktoren zusammen lassen ihn zu dem Schluss kommen: "Solange die großen Anbieter keine KMU-fähigen Produkte erfolgreich anbieten, wird es keine Konsolidierung geben."
Anwender sind momentan einfach zufrieden zu stellen
Analyst Martin Böhn von Würzburger Beratungsunternehmen Barc sieht noch einen weiteren Grund, warum sich der Markt beruhigt hat: Anwender sind momentan einfach zufrieden zu stellen. Nur große Kunden verlangen zurzeit weitreichende Lösungen mit vielen Funktionen. Die meisten anderen Unternehmen brauchen im Moment nur einfache Funktionen, wie Böhn in Gesprächen immer wieder feststellt. "CIOs reden anfangs immer über große Lösungen. Doch nach fünf Minuten merkt man, dass viele immer noch an den kleinen klassischen Anwendungen wie Archivierung und Postkorb-Workflow arbeiten." Hier sieht er die große Chance für kleinere Anbieter, die diese Basisfunktionen alle bieten.
Zwar schließt Böhn Übernahmen nicht grundsätzlich aus, wenn ein Anbieter noch mal richtig Geld in die Hand nimmt oder neu in den Markt gehen will. Im Moment sei allerdings nicht abzusehen, dass das jemand macht. "In den nächsten zwei Jahren sehe ich wenige Übernahmen, die Großen haben ihre Claims abgesteckt; sie müssen nicht viele Funktionen dazukaufen."
Dagegen ist die Zeit der großen Konsolidierung für Ulrich Kampffmeyer, den Geschäftsführer des Hamburger Beratungsunternehmens Project Consult, noch lange nicht vorbei. Er geht vielmehr davon aus, dass noch eine Reihe von Firmen aufgekauft wird. "Sehr viele Mittelständler nagen an der Bettkante. In diesem Jahr werden in Deutschland noch ein bis zwei Unternehmen übernommen oder gehen Kooperationen ein", prognostiziert der Berater.
Die Spieler auf dem Markt sind wachsam. "Sobald ein Unternehmen einen ECM-Anbieter mit vielen Funktionen und mit einem Schlag einen großen Kundenstamm übernimmt, wird es zu einem riesigen Verteilungs- und Preiskampf kommen", ist Kampffmeyer sicher. Der würde dann zur endgültigen Konsolidierung beitragen, weil die meisten das nicht durchhalten. Vor 2007/2008 kommt der Markt nicht zur Ruhe: "Bis dahin wird er noch ein paar Mal durchgepflügt."
Der Lösungscharakter entscheidet
Umgekehrt werden neue Firmen kommen. Weil aber der Eintritt in den überbesetzten deutschen Markt schwer ist, werden neue Anbieter ihren Erfolg über Partnerschaften suchen. Als Kandidaten nennt Kampffmeyer Unternehmen wie Quest und Meridio. So steigt gerade ECM-Anbieter Meridio durch eine Kooperation mit Microsoft Huckepack ins deutsche Geschäft ein.
Um am Markt zu bestehen, müssen Anbieter den Lösungscharakter ihrer Systeme stark betonen, rät Barc-Analyst Böhn. Techniklastige Präsentationen und der Hinweis, dass jemand den größten Web-Application-Server der Welt in seinem System einsetzt, interessieren Anwender nicht. "CIOs wollen wissen, wie sie mit dem System ihre alltäglichen Probleme - wie etwa Briefe verarbeiten - lösen und ihre ERP-Systeme in den Griff bekommen können", sagt Böhn.
So sieht Böhn selbst einige große Anbieter trotz umfangreicher ECM-Lösung zu technisch aufgestellt. Player wie Documentum und Filenet seien in der Beziehung besser aufgestellt, weil sie stärker den Lösungscharakter betonen. Böhn rät allen Anbietern, diesen Weg einzuschlagen: "Das beste Konzept gewinnt den Auftrag. Middleware und Hardware interessieren Anwender wenig."
Auch werben Anbieter damit, alle Features von Wettbewerbern an ihre Lösung anzubinden und zu integrieren. Doch Berater Zöller weist auf die hohen Kosten für den laufenden Betrieb der Integration hin. Allein bei jedem Update einer Softwarekomponente eines anderen Herstellers muss die Zusammenarbeit mit den anderen Modulen meist neu abgestimmt werden - falls alle Module überhaupt noch zusammenarbeiten. "Deswegen suchen Anwender Komplettlösungen. Das ist die dramatischste Änderung auf dem Markt", so Zöller. "Zum Preiswettbewerb ist ein Funktionswettbewerb hinzugekommen."
Selbst wenn Anbieter mit weitreichenden Suiten werben, rät Zöller zur Vorsicht. Meistens seien die Funktionen der gekauften Anbieter noch nicht in eine große Lösung integriert. Der Branchenwitz lautet deshalb: Auf welcher Plattform läuft die Suite? Auf einer Powerpoint-Präsentation. Auch Zöller hält viele Suiten noch in der Phase der "Broschürenintegration": "Es dauert teils Jahre, bis Systeme von gekauften Unternehmen in eine Basis-Architektur integriert sind."
Neue Modekürzel verwirren nur
Unterdessen adressieren große Anbieter Mittelständler mit billigeren abgespeckten Versionen. Gartner prägte dafür den Begriff ECM-Lite: Einstiegslösungen mit wenigen Standardfunktionen wie einfaches E-Mail-Management und Posteingang. Zwar gibt es solche Angebote schon länger, doch das neue Kürzel ECM-Lite soll das Geschäft beleben. Allerdings bewirken die ständig neu kreierten Kürzel auch das Gegenteil.
In dem Kürzel-Wust sieht Analyst Böhn sogar ein echtes Investitionshemmnis. Anwender seien zum Teil irritiert, ob sie ECM, CMS (Content-Management), nur Web CM oder DMS (Dokumenten-Management-System) brauchen. Selbst das Sammelkürzel ECM ist nicht unumstritten: Für einige drückt das E für Enterprise besser aus, worum es geht. Kritiker halten ECM dagegen nur für das nächste Modewort. Dagegen sei DMS ein gut eingeführter Begriff. Nur wirkt ECM besser, wie Böhn weiß. "Wenn die Anbieter mit DMS zum Kunden gehen, dürfen sie oft nur mit Technikern reden. Doch mit dem Kürzel ECM bekommen sie auch Manager als Gesprächspartner."
Anbieter versuchen auch über Business Process Management (BPM) bei Anwendern Fuß zu fassen. Denn zu Prozessen gehört es, viele verschiedene Dokumente im Unternehmen zu integrieren. "Viele haben gemerkt, dass bei BPM noch eine Menge Effizienzprobleme begraben liegen", erklärt Kampffmeyer.
Neueren Datums ist das Kürzel ECI (Enterprise Content Integration). Doch auch hier füllen Anbieter und Analysten alten Wein in neue Schläuche. Die unternehmensweite Integrationsidee von ECI hält Böhn zwar für absolut richtig, nur dahinter stecke kein Differenzierungsmerkmal: Das können und machen alle Anbieter.
Forrester Research ließ es nicht nehmen, mit OIA (Organic Information Abstraction) einen weiteren Begriff zu schaffen. Dabei geht es um die höhere Qualität von Metadaten, mit denen Dokumente versehen werden. Denn um Prozesse stärker zu verzahnen und zu automatisieren, brauchen Unternehmen ausführlichere Meta-Informationen. Für Kampffmeyer steckt dahinter nichts bahnrechend Neues: "Um Metadaten geht es schon seit Jahrzehnten, das war immer ein Unterthema von Records-Management. Viele Anbieter haben proprietäre Lösungen schon im Angebot."
ECM wird Mainstream
Welche Kürzel sich durchsetzen und welcher Anbieter am Ende der Konsolidierung noch besteht, bleibt offen. Sicher ist dagegen, das sich ECM von einem obskuren Thema der IT-Abteilung zum Mainstream entwickelt. Denn ECM-Systeme weisen viele Schnittstellen zu Basistechnologien wie Storage, Portalen und Information-Management auf. So entwickelt sich ECM selbst zur Basistechnologie.