Im Essener Congress Center herrscht an diesem Maiabend bedingungslose Liebe zum Detail, es schlägt die Stunde der Akribie. Ist das Mikrofon richtig eingestellt? Stimmt die Beleuchtung, die Sitzordnung?
Morgen, am 9. Mai 2007, wird Herbert Lütkestratkötter auf der Hauptversammlung von Hochtief seine erste Rede als Vorstandsvorsitzender halten. Zumindest in technischer Hinsicht soll nichts dem Zufall überlassen bleiben; die Lage ist turbulent genug: Noch vor Kurzem galt Hochtief als Zerschlagungskandidat, immer noch rechnen manche mit einer Übernahme durch den neuen spanischen Großaktionär ACS. Kopfzerbrechen bereitet auch der kürzlich eingestiegene Russe Oleg Deripaska. Und vor vier Tagen erst mussten per Ad-hoc-Mitteilung Verluste im deutschen Baugeschäft eingeräumt werden.
Keine sechs Wochen ist es her, dass Lütkestratkötter den Konzern offiziell von Vorgänger Hans-Peter Keitel übernahm. Viele Fronten, viele Erwartungen, viele, nun ja, Baustellen. Was Hochtief jetzt braucht, sind Ruhe und Verlässlichkeit. Der streng gescheitelte "Dr. Lü", der sich so leicht aus seiner Gelassenheit bringen lässt wie ein Stahlbetonträger, ist da der Richtige: "Wir Münsterländer bevorzugen Hühner, die Eier legen, statt aufgeregt zu gackern."
Dabei hätte Lütkestratkötter allen Grund, nervös zu sein. Steckt er doch mitten in den ersten 100 Tagen als CEO - jener so intensiven wie prekären Phase, die nicht selten über Top oder Flop der gesamten Amtszeit entscheidet. Wer jetzt die falschen Signale sendet, das Binnenklima nicht versteht oder wichtige Leute vor den Kopf stößt, führt das Unternehmen direkt in die Krise - und ruiniert die eigene Karriere.
Manchmal geht das ganz schnell: Als Chef von KarstadtQuelle bekam Christoph Achenbach die desaströse Lage im Handelskonzern nicht in den Griff und konnte weder die verunsicherte Belegschaft noch den skeptischen Aufseher Thomas Middelhoff für sich begeistern - nach zehn Monaten war Schluss. Auch Ex-Merck-Chef Michael Römer schaffte es nicht, das Vertrauen der Eigentümer zu erwerben, und verpatzte allzu siegessicher die feindliche Übernahme von Schering - Aus nach 18 Monaten.
CEO allein zu Haus
Der Spielraum für Fehler ist drastisch geschrumpft. Die Verweildauer deutscher CEOs sank zwischen 2003 und 2006 von 6,5 auf 4,7 Jahre. Aus dem Mythos der 100-Tage-Schonfrist, einst von US-Präsident Franklin Roosevelt für die Politik eingeführt, "ist eine unerbittliche Prüfung der Manager-Leistung geworden", bilanziert Stefan Reckhenrich von Egon Zehnder International.
Die Personalberatung hat in einer weltweit unter knapp 70 CEOs aus dem Finanzsektor durchgeführten Studie die Faktoren für einen erfolgreichen Start untersucht. Sie gelten aber im Grunde für alle Branchen. Dabei zeigte sich etwa, dass nur jeder fünfte CEO eine Einführung vom Vorgänger erhielt. Paradox: So sorgfältig der neue Chef ausgewählt wird, so sehr ist er ab Tag eins auf sich allein gestellt. Einsam in corporate terra incognita.
In den ersten Wochen ist die Fülle neuer Aufgaben schier unüberschaubar, die Erwartungen von Mitarbeitern, Märkten und Medien sind gigantisch. Kein Wunder, dass Siemens-Chef Peter Löscher den Beginn seiner Amtszeit geradezu generalstabsmäßig plante, den Vorstand grundlegend umbaute und dem Konzern eine Radikalkur in Redlichkeit verpasste - der Druck war extrem.
Ein neuer CEO trifft von der ersten Minute an weitreichende Entscheidungen - oft ohne die Firma in allen Facetten zu kennen. Das, was er am meisten bräuchte, ist am strengsten limitiert: Zeit. Es gibt weder Honeymoon noch Probezeit, die Märkte sind ungeduldig.
Ähnlich einem Herrscherwechsel im Mittelalter, folgt der Amtsantritt als CEO einer bestimmten Dramaturgie. Sie startet mit der intensiven Erkundung des Schlachtfelds: Firmen- und
Branchenstruktur, Trends, Geschäftszahlen - und der Strategien, die der Vorgänger bereits getestet hat. Nichts ist peinlicher als eine bahnbrechende Idee, die leider schon ein Jahr zuvor grandios gescheitert ist. "Sizing up the challenge" hat Zehnder diese erste Phase genannt, die idealerweise vor Amtsantritt beginnt. "Besonders mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden wird vorab die grundlegende Ausrichtung geklärt", sagt Reckhenrich.
Drei Punkte sollten vor Tag eins als innere Agenda klar sein: Welche Themen sind zentral? Wer sind die wichtigsten Leute? Welche Ziele habe ich?
Nachdem der neue König offiziell vom modernen Erzbischof, also dem Aufsichtsratschef, eingeführt worden ist, "kommt es darauf an, die oft messiasähnlichen Erwartungen zu managen", sagt der Münchener Organisationspsychologe Mathias Lohmer. Das Unternehmen dämmert dahin, wie gelähmt von einer Mixtur aus Hoffnung und Angst. Alle warten, wie es weitergeht, manche fürchten um ihren Job. Es gilt, Normalität zu schaffen und Ruhe zu bewahren. Stets ist die Herausforderung die gleiche: Alles besser machen, aber bloß nichts verändern. Der größte Fehler wäre jetzt, ganz schnell ganz viel ganz konkret zu versprechen - und dann kläglich zurückzurudern.
Wichtigste Regel: Zuhören und fragen
"Evolution statt Revolution", verkündete denn auch "Dr. Lü". Die alte Strategie sollte fortgesetzt, gleichzeitig sollten Dienstleistungen wie Flughafenbeteiligungen und Projekte mit der öffentlichen Hand ausgebaut werden. Statt in einer Ansprache gab der neue Hochtief-Primus die Parole in Gesprächen mit Vorständen, Bereichsleitern und anderen Führungskräften aus: "Ich will direkt mit Leuten reden. Das ist aufwendig, aber man weiß, wo die Glocken hängen."
Obwohl bekennender Verächter von Management-Ratgebern, formuliert Lütkestratkötter damit die entscheidende Regel für neue CEOs: zuhören und fragen. "Er muss präsent sein, muss wie ein reisender Anthropologe die Wünsche, Ideen und Ängste der Mitarbeiter kennenlernen, statt sich in seinem Küchenkabinett einzubunkern", sagt Psychologe Lohmer. Auch alles besser zu wissen ("In meiner letzten Firma haben wir das immer so gemacht") oder über die Vergangenheit des Unternehmens schlecht zu reden sind schlimme Fettnäpfchen.
Das Management by walking around sollte klar strukturiert sein (Mit wem rede ich wann?) und möglichst viele, anfangs vor allem interne Stakeholder einbeziehen: Vorstand, Mitarbeiter, Aufsichtsrat, Kunden, Gewerkschaften, Presse. Die Schlüsselpersonen, laut Zehnder-Studie: der Aufsichtsratsvorsitzende und direkte Mitarbeiter. Aus der eigenen Agenda und Gesprächsanalysen destilliert sich schließlich die Strategie.
Wer nicht, wie "Dr. Lü" nach vier Jahren bei Hochtief, intern aufrückt, für den gerät die Welcome-Tour der ersten Tage zum Parforceritt durch unbekanntes Terrain. Gleich am 1. Oktober, seinem ersten Arbeitstag als Chef von EnBW, traf Hans-Peter Villis auf dem Städtetag Baden-Württemberg in Stuttgart die Oberbürgermeister im Ländle - wichtige Kunden also und zum Teil auch Aktionäre. Dann weiter nach Karlsruhe, sich den engsten Mitarbeitern vorstellen, abends Gespräche mit Vorstandskollegen.
Danach ging es Schlag auf Schlag: Ministerpräsident Günther Oettinger, Betriebsrat, Belegschaftsversammlung, Glos, Steinmeier, und immer 150 Prozent Konzentration: "Das sind keine Small-Talk-Runden, da wird sofort inhaltlich hart diskutiert." Es geht um viel: Finanziell ist EnBW nach vier Jahren unter Utz Claassen zwar saniert. Ob der Neue der Richtige ist, eine plausible Wachstumsstrategie zu fahren und sich gegen den machtbewussten Großaktionär EdF zu behaupten, muss er in den kommenden Wochen noch beweisen.
Am Anfang steht die Agenda
Villis muss extern werben und intern motivieren. Obwohl von außen, von Eon Nordic, an die EnBW-Spitze gerückt, verzichtete er darauf, Vertraute mitzubringen: "Ich glaube, ich kann Leute gut begeistern." Welche Manager wie performen, verrät ihm auch ein Audit, das noch vor seiner Zeit in Auftrag gegeben wurde. Und für das Erforschen der ungeschriebenen Gesetze und Beziehungsgeflechte hat er spezielle Informanten: "Meine Sekretärin und mein Fahrer - die wissen alles."
Tatsächlich gibt es für das Grundproblem des CEOs - die gefilterte Information - keine bessere Lösung, als die entscheidenden Zwischentöne in vielen Gesprächen quer durch die Hierarchien zusammenzupuzzeln. "Dann hat man so viele Referenzpunkte, dass keiner seine Agenda verstecken kann", sagt Thomas Pütter, der als Chef des Private-Equity-Geschäfts der Allianz schon ein halbes Dutzend CEOs eingestellt hat.
Natürlich, räumt Pütter ein, bleibt in Sanierungs- oder Notfällen kaum Zeit, sich mit der Kultur zu beschäftigen: "Da geht es um schnelle Liquidität und harte Schnitte. Erst danach ist Zeit für langfristige Maßnahmen."
Will der Neue nicht den Anfangsdrive verschenken, kommt aber auch in "Weiter so"-Übergaben rasch der Punkt, an dem Führung und Strategie gefragt sind. Sonst wird aus Analyse schnell Paralyse. "Kicking off the role" und "Assuming conceptual leadership" nennt Zehnder diese Phasen.
Das Dilemma dabei bringt Hans Berger auf den Punkt, seit Januar 2007 CEO der HSH Nordbank: "Natürlich sollte man von Anfang an eine Agenda haben. Aber es ist nicht klug, diese gleich zu kommunizieren." Eine (neue) Strategie wird ein Vorstandsvorsitzender eher gegen Ende der ersten 100 Tage verkünden.
Bis dahin kann er mit kleineren Veränderungen, "quick little wins", Duftmarken setzen. Das können Symbole sein, die Erreichbarkeit und Präsenz demonstrieren, wie bei Postbank-Chef Wolfgang Klein, der statt einer klassischen Einstands-Mail seinen 24.000 Mitarbeitern einen Brief schickte. Oder wie Villis, der gern in der EnBW-Kantine isst, wo sich Vorgänger Claassen kaum je blicken ließ.
Veränderungen in Schlüsselpositionen sind dagegen nicht nur beliebte Signale, sondern oft überlebenswichtig. Motto: Grausamkeiten am Anfang. Ein Zögern kann sich später bitter rächen. Jeder vierte der in der Studie befragten CEOs gab rückblickend an, er hätte die Leistungen seiner Top-Manager intensiver analysieren und die Underperformer schneller auswechseln sollen.
Ehemalige Konkurrenten intensiv einbinden
Eine gängige Maßnahme ist ein Management-Audit, wie es die HSH Nordbank 2006 durchführte. Damals war Berger noch Vize, doch das Audit-Ziel wurde zu seiner wichtigsten Mission als CEO: "Wir kamen aus der behüteten Welt der Landesbanken und mussten fit werden für den rauen Wind der Kapitalmärkte. Vor allem auch personell."
Nicht alle Vorstände zeigten sich den künftigen Strapazen der Börsenotierung gewachsen, die das Geldhaus für 2008 anstrebte, inzwischen aber wegen der anhaltenden Finanzkrise auf unbestimmte Zeit verschoben hat: Firmenkundenchef Ulrich Ellerbeck ging im November 2006; von Eckehard Dettinger-Klemm, für das Kapitalmarktgeschäft zuständig, trennte sich der designierte HSH-Chef Berger kurz darauf - und konnte nach Amtsantritt die Vakanzen im Vorstand nach seinen Vorstellungen besetzen. Bis Ersatz gefunden war, wurde die Bank allerdings über Monate von einem Rumpfvorstand geführt - viel Unruhe für ein Institut, das zu dieser Zeit zügig an die Börse strebte.
Ihr Wissen über Leistungen und Netzwerke verschafft internen Aufsteigern wie Berger einen Vorteil; auch Postbank-Chef Klein sorgte für seine Wunschaufstellung, indem er drei Manager, die er seit Jahren kennt, in den Vorstand holte, darunter seinen Vertrauten Marc Heß für das Finanzressort. Nicht alle waren begeistert: Der Ex-McKinsey-Mann sei zu wenig ansprechbar, rede zu viel mit Beratern, klagen manche.
CEOs, die von außen kommen, bringen häufig Gefolgsleute mit, um eine Art Loyalitätsbastion aufzubauen. Das kann sinnvoll sein, wenn in Kernfunktionen wie der des CFOs ein offensichtliches Kompetenzdefizit herrscht. Gehe es aber nur um das wohlige Gefühl der Vertrautheit, sei der Schachzug nicht unbedingt klug, meint Allianz-Mann Pütter: "Die kennen die Firma ja auch nicht. Ob ich aber allein oder zu dritt im Schlamassel stecke, ist egal." Tatsächlich kann es geschickter sein, sogar ehemalige Konkurrenten um den Chefposten intensiv einzubinden: Schon die Tatsache, dass sie auch als CEO im Gespräch waren, unterstreicht ja ihre Fähigkeiten. Und wer Angst vor starken Mitarbeitern hat, gehört eh nicht in einen Führungsjob.
"Assuming overall leadership" hat Zehnder die vierte und letzte Phase in den ersten 100 Tagen genannt. "Liegt der Fokus zunächst auf dem Unternehmen selbst, geht es hier auch um den externen Auftritt", sagt Reckhenrich. Dabei wirft eine oft unterschätzte Variable lange Schatten: der Vorgänger.
Als etwa der neue Premiere-Vorsteher Michael Börnicke vor einigen Wochen die bierselige Journalistenrunde auf dem Oktoberfest früh verließ, um mit dem Chef der Deutschen Fußball Liga zu telefonieren, musste er kurz darauf wieder in der Zeitung lesen, wie "farblos" und "blass" er sei, wo doch Vorgänger und Kommunikationsgenie Georg Kofler stets bis in die Puppen mit Anekdoten und Rainhard-Fendrich-Imitationen geglänzt habe.
Postbank-CEO: Kaum Zeit zum Nachdenken
"Ein bisschen genervt" habe ihn das schon, sagt Börnicke, diese ständigen Vergleiche, doch grundsätzlich sei er entspannt: "Ich hab meinen eigenen Stil, und das Schlechteste wäre, den zu verändern." Schließlich, so ist zu hören, wurde der nüchterne Finanzvorstand im September unter anderem zum Chef ernannt, um die Premiere-Welt wieder etwas faktenorientierter und nachhaltiger zu machen als unter Tausendsassa Kofler. Auch mit Blick auf die Verhandlungen über die Bundesliga-Rechte, von denen das Premiere-Schicksal abhängt: "Kofler hat stark polarisiert, ich mache es der ARD nicht so einfach, weil ich pragmatischer bin."
Es weht unter Börnicke, so zurückhaltend er wirkt, ein anderer Wind; die Mitarbeiter werden stärker in die Pflicht genommen. Zehn-Uhr-Meetings fangen jetzt tatsächlich um zehn an und nicht um elf wie früher. Beim Führungskräfte-Training bimste Ex-Stabhochspringer Carlo Thränhardt den Managern ein, wie sie jeden Tag noch eine Schippe drauflegen können, und wenn das neue Programm vorgestellt wird, verlangt Vielarbeiter Börnicke, dass alle dabei sind, vom Pförtner bis zum Vorstand: "Jeder muss Premiere-Botschafter sein, da bin ich knallhart."
Der Mann, der eher auf dem Fußball- als auf dem Golfplatz anzutreffen ist, will authentisch bleiben. "Den Stil des Vorgängers zu kopieren ist genauso verschwendete Zeit wie Veränderung um der Veränderung willen", sagt Wolfgang Klein, der vom Marketingvorstand zum Postbank-Chef aufrückte und wie Börnicke auf einen Charismatiker folgte.
Ohnehin blieben Klein kaum Atempausen, um über die Schärfung des eigenen Profils zu sinnieren oder das zu tun, "was ein CEO in den ersten 100 Tagen so tut". Denn sein Stabwechsel im Juli hätte kaum schlechter getimt sein können, ohne dass er selbst etwas dafür konnte. Kaum einige Tage im Amt, erwischte ihn die Subprime-Krise, und im allgemeinen Banken-Bashing interessierten niemanden die Beteuerungen des jüngsten Dax-Konzernchefs, seine Bank sei mit dem Thema längst durch.
Vielleicht, meint der Marathonläufer pragmatisch, "war es aber auch gut, dass ich kaum Zeit hatte, über meine neue Rolle zu viel nachzudenken und darüber die externen Probleme zu vernachlässigen. Wer das tut, hat nicht erst nach 100 Tagen ein Problem".
Es sei, sagt Psychologe Lohmer, in der Rampenlichtposition als Nummer eins die vielleicht größte Herausforderung für einen neuen CEO, "zu dem zu stehen, was man selbst für das Beste hält, anstatt nur auf die Erwartungen Dritter zu schielen". Wer dennoch scheitert, geht wenigstens aufrecht und mit wehenden Fahnen unter.