"Bei meinem Antrittsgespräch am 3. April 2016 zeigte mir der CFO der Geschäftseinheit Xella Baustoffe Deutschland eine ausgedruckte E-Mail", erinnert sich Michael Baars, ehemaliger CIO der Xella Group. "Das war ein bisher unbearbeitetes Ticket an den Helpdesk des damaligen Dienstleisters, das im September 2015 gestellt worden war."
Die IT des Duisburger Baustoffherstellers hatte es damals mit vielen unzufriedenen Benutzern zu tun. "Neben dem Helpdesk verantwortete dieser Dienstleister allerdings auch die gesamte restliche Infrastruktur und hat einen desaströsen Job gemacht," ärgert sich Baars. Auch Florian Ziegler, Baars Nachfolger als CIO, berichtet von schlechten Erfahrungen mit dem amerikanischen Outsourcing-Partner: "Wir hatten regelmäßig größere Ausfälle der Infrastruktur und Verfehlungen im Umfeld der IT-Security."
Nur weg vom IT-Dienstleister
Anfangs versuchte Baars noch, gemeinsam mit dem damaligen Servicepartner die größten Brandherde in der IT einzudämmen. Doch auch hier habe der Dienstleister keine Lösungen liefern können. "Nachdem das fehlgeschlagen war, hatte die Xella das Vertrauen in den Outsourcing-Partner komplett verloren und dessen Dienstleistungen auditieren lassen," sagt Baars. Das Ergebnis: Dem Dienstleister konnten 70 schwerwiegende Verstöße in der Erfüllung der Vertragspflichten nachgewiesen werden. "Das objektive Ergebnis des Audits führte entsprechend zu der strategischen Entscheidung, die Zusammenarbeit so schnell wie möglich durch eine ordentliche und außerordentliche Kündigung vorzeitig zu beenden," so Baars.
Daneben hatte das Team um Baars auch Schwierigkeiten im Backoffice. Die Angestellten arbeiteten auf mehreren teils veralteten Office- und Windows-Versionen und es gab vier unterschiedliche Citrix-Farmen. Eine neue Infrastrukturstrategie sollte die Probleme lösen. Gemeinsam mit einem anderen Dienstleister definierte Baars die künftige IT-Landschaft. Als Basis dient Microsoft Azure. Auf der Cloud-Plattform laufen nun alle Anwendungen, die zuvor im eigenen RZ betrieben wurden. Darüber hinaus fiel die Entscheidung, Office 365 einzuführen. Damit mussten die Systeme konzernweit auf Windows 10 umgestellt werden.
Erst migrieren, dann optimieren
Laut Vertrag hatte Xella nur ein Jahr Zeit für den Abschied vom alten Dienstleiter. Daher konnten bei der Migration nur knapp 40 Prozent der IT-Landschaft auf aktuelle Betriebssystem-, Datenbank- und Applikations-Releases gebracht werden. Die restliche Infrastruktur verschob das IT-Team in einem Lift-and-Shift-Ansatz in die Azure Cloud und erstellte eine Roadmap, um die Altsysteme schrittweise zu optimieren. Baars: "Das war zwar nicht die eleganteste Lösung, aber aus Zeitgründen die einzige Möglichkeit. Nach der erfolgreichen Transition zum neuen Dienstleister kann Xella aus einer Position der Stärke heraus nacharbeiten."
In einigen Teilen der Anwendungslandschaft laufen noch selbst entwickelte Altapplikationen, die mit aktuellen Betriebssystemen oder Datenbanken nicht kompatibel sind. Das muss laut Baars vorerst so bleiben. Das Team prüft, ob die Altsysteme durch Software-as-a-Service-Angebote ersetzt oder in der SAP-Suite untergebracht werden können. Wenn beides nicht möglich ist, müsse die jeweilige Anwendung in einer modernen Entwicklungsumgebung neu gebaut werden, so Baars.
"Mit dem Wechsel zu Azure haben wir uns genügend Luft verschafft, um das auch mit knappen Ressourcen zu stemmen," sagt der IT-Manager. Sein Nachfolger Ziegler ergänzt: "Wir arbeiten neben der Migration auch an einigen Digitalisierungsprojekten und unterstützen das Business bei Transaktionen im Bereich Merger and Acquisitions sowie bei Carve-outs. Trotz der Vielzahl der Aufgaben haben wir es geschafft, mittlerweile etwa 50 Prozent der Anwendungen zu restrukturieren und auf den neuesten Stand zu bringen."
Neuer Partner und Insourcing
Um die neue Infrastruktur zu hosten, entschied sich Baars nach einer Ausschreibung für die COC AG. Der Burghausener Dienstleister betreibt für Xella die heute konsolidierte Citrix-Farm, die Microsoft Azure Cloud sowie sämtliche Office-365-Services. "Wir haben uns bewusst für einen Partner auf Augenhöhe entschieden", erläutert Baars. "Bei dem damaligen Dienstleister lagen wir bezüglich der Priorität irgendwo auf Platz 967, bei COC sind wir unter den Top Drei."
Zusätzlich hat der CIO die IT-Aufbauorganisation für die Infrastruktur so gestaltet, dass der neue Provider strategisch, taktisch und operativ gesteuert werden kann. Damit soll sichergestellt werden, dass sich das Unternehmen aus eigener Kraft weiterentwickelt.
Wichtige Services für interne Kunden holte Baars zurück ins Unternehmen. Probleme wie das über acht Monate unbearbeitete Ticket wollte er unbedingt vermeiden. Helpdesk, Nutzer-Services und die Betreuung für Windows 10 liegen nun in der Verantwortung der Xella-IT. "Dadurch hat sich das interne Image der IT deutlich verbessert", erklärt Ziegler. Die Kollegen sind vor Ort und können schnell und persönlich helfen."
Auf dem Weg zu S/4 Hana
Bereits vor Baars Antritt als CIO hatte die Xella Gruppe 2014 entscheiden, die 22 Landesgesellschaften, die alle separate SAP-Lösungen einsetzten, auf ein globales SAP-ERP-System umzustellen. Bereits 2016 waren acht Länderorganisationen migriert, bis 2020 gliederte das IT-Team die restlichen 14 Märkte ein. Zeitgleich sollten die Release-Stände aktualisiert werden. Ab September 2017 migrierte das Unternehmen die gesamte SAP-Landschaft schrittweise auf die Hana-Plattform. Seit April 2020 arbeiten alle Regionen bis auf Russland auf SAP ERP ECC 6.0. Der weitere Schritt in Richtung S/4 Hana ist geplant.
Digitalisierung mit Hybris
Schon 2016 hatte Baars beschlossen, auch die kundenseitigen Prozesse auf Vordermann zu bringen. Das Unternehmen wollte möglichst früh mit Kunden in Kontakt treten, um diese in Produktentscheidungen etwa für Baustoffe einzubeziehen. Dazu musste die gesamte Prozesskette digitalisiert werden.
"In der alten IT-Welt waren Marketing, Service und Commerce voneinander losgelöst und somit nicht integrierte Lösungen", erinnert sich Michael Baars. "Das CRM-System von Siebel diente beispielsweise nur als bessere Schreibmaschine für Besuchsberichte." Der neue Ansatz: Marketing, Commerce, Customer Relationship Management (CRM), Product Information Management (PIM) und Content Management System (CMS) sollten in einer großen Suite untereinander und mit dem Backend verknüpft werden. Da Xella bereits SAP als Fundament nutzte, fiel die Entscheidung nach einem Auswahlprozess für SAP Hybris.
"Wir haben das Ökosystem als digitales Haus aufgebaut," so Baars. "Das SAP ERP ist das stabile Fundament für alle Fulfillment-Prozesse zur Auftragsabwicklung. Darauf setzen CRM, PIM und CMS auf, um strukturierte Kunden-, Produkt- und Content-Stammdaten zu erhalten. Darauf stützen sich wiederum Marketing und Commerce, um erfolgreiche Kampagnen sowie B2B- und B2C-Prozesse abbilden zu können." Die Königsdisziplin sei, den Kunden über Portale komplette digitale Services anzubieten.
Brücken zur lokalen IT schlagen
Die einzelnen Xella-Marktregionen waren bis 2016 auch organisatorisch dezentral aufgestellt. Das führte dazu, dass Vorgaben der zentralen Unternehmens-IT zum Teil nicht ausreichend von den lokalen Teams umgesetzt wurden. Um solche Probleme zu vermeiden, setzte Baars einen "Global IT Coordinator" ein. Er bildet das Verbindungsglied zwischen zentraler und lokaler IT. Danach stellte der CIO für die vier IT-Hauptdisziplinen Netzwerk, Citrix, Azure und Office 365 ein Kernteam auf. Diesem Team werden jeweils zwei lokale IT-Koordinatoren aus anderen Regionen zugeordnet. Diese arbeiten neben ihren lokalen Hauptaufgaben auch in einer virtuellen Arbeitsgruppe mit dem Kernteam für eine Disziplin zusammen.
Florian Ziegler sieht in der neuen Organisation mehrere Vorteile: "Wir sorgen dafür, dass die lokalen Abteilungen die Corporate IT bezüglich strategischer oder Governance-Entscheidungen besser verstehen, schaffen einen globalen Know-how-Austausch und stellen sicher, dass bei Ausfällen immer eine Vertretung vorhanden ist." Wichtige lokale Themen und Impulse könnten umgekehrt leichter auf die Gruppenebene gehoben werden. Zudem sporne es die lokalen Mitarbeiter an, sich über ihr Tagesgeschäft hinaus mit Trendthemen zu beschäftigen, was wiederum dem Innovationsgeist des gesamten Unternehmens zugutekomme.
Die Umstrukturierung setzte der Baustoffhersteller innerhalb eines halben Jahres um und investierte viel Zeit. Alle Beteiligten wurden aus ganz Europa zum Firmenhauptsitz in Duisburg eingeflogen und arbeiteten von Anfang an gemeinsam an der Gestaltung der neuen Organisation mit. "Der ganze Aufwand hat sich aber gelohnt," so Baars. "Weil jeder mitgestaltet hat, klappte der Rollout reibungslos, und die Teams funktionieren seitdem sehr gut."
Mehr Effizienz durch Cloud-Dienste
Nachdem Xella sich von seinem damaligen Dienstleister getrennt und die neue IT aufgebaut hat, steht Ziegler nun vor der zweiten Phase des Projekts. Dabei geht es vor allem um die Optimierung der verschiedenen IT-Systeme. "Die Migration musste schnell gehen, daher haben wir anfangs nicht alle im Azure-Baukasten zur Verfügung stehenden Cloud-Mechanismen genutzt," so der neue CIO.
"Selbst ohne die jetzt eingeleitete Optimierung ließ sich ein im Vergleich zu den früheren Outsourcing-Kosten beeindruckender Business-Case rechnen." Reserved Instances, steuerbare Serverlaufzeiten oder ein gedeckelter "Burst Mode" von virtuellen Maschinen seien Beispiele, wie Xella als Unternehmen ohne Einbußen hinsichtlich der IT-Performance die Kosten dauerhaft senken könne.
Die Verbesserungen durch das Migrationsprojekt will das Xella-Management über Governance-Prozesse in den operativen Betrieb überführen. Dazu zählen beispielsweise Performance- und Kostenerhebungen, die in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess dazu beitragen sollen, dass die IT transparent und kosteneffizient bleibt. Hierzu soll die Leistung der IT-Abteilung für die Fachbereiche mithilfe von KPIs und SLAs messbar und nachvollziehbar werden.
Langer Atem statt schneller ROI
"Bei so einem großen Umbauprojekt muss der IT und der Geschäftsführung bewusst sein, dass es um langfristige strategische Ziele geht", erklärt Baars. "Man darf nicht nach einem halben Jahr einen ROI erwarten." Projekte wie die Einführung eines CRM-Systems schafften erst die Voraussetzung, um ein Unternehmen in der Breite digitalisieren zu können: "Somit sollte der Business Case ganzheitlich auf dem digitalen Geschäftsmodell und seiner Roadmap gerechnet werden."