Projektmanagement

Kommentar zum gestoppten SAP-Projekt bei Otto

01.10.2012 von Stephanie Borgert
Bei Großprojekten ist es wichtig zu unterscheiden zwischen komplex und kompliziert sowie einfach und chaotisch. Beraterin Stephanie Borgert kommentiert das gescheiterte SAP-Projekt bei Otto.

Die Schlagzeile bei CIO.de lautet "Otto kippt SAP-Riesenprojekt". Meine erste Assoziation dazu ist: „Oh je, wieder ein krisengeschütteltes Großprojekt am beziehungsweise im Abgrund." Beim Lesen des Artikels erwarte ich die üblichen Begriffe, Formulierungen und Erklärungen. Und richtig, die Otto Group erklärt, das Projekt sei 'zu komplex' gewesen. Dass der Grad der Komplexität bei Otto auf Grund der vielen Geschäftseinheiten, Fachlichkeiten, Anforderungen, Standorte, zu integrierenden IT-Systeme und beteiligten Menschen sehr hoch ist, kann ich gut nachvollziehen.

Stephanie Borgert ist Coach, Trainerin und Beraterin bei ICT-Coaching.
Foto: ICT-Coaching

Aber, warum scheitert das Projekt deswegen? Ist es an der Komplexität selber gescheitert? Wenn ja, was heißt das genau? Ist es daran gescheitert, dass wir in unserer Arbeitswelt noch keine echte Vorstellung davon haben, wie wir mit Komplexität umgehen? Oder daran, dass wir meistens versuchen, mit althergebrachten Methoden, Tools und Techniken in einem komplexen Umfeld erfolgreich zu sein? Der Artikel liefert keine Antwort auf diese Fragen, das Unternehmen Otto wahrscheinlich auch nicht.

Die Konsequenz, die das Scheitern der Zentralisierung mit und durch SAP-Software haben wird, lautet 'Dezentralisierung'. Dazu tauchen auch gleich die nächsten Fragestellungen auf: Soll darüber die Komplexität des Vorhabens reduziert werden? Oder verteilt? Oder verdrängt? Das dritte Buzzword in dem Artikel - 'Analysephase' - verleitet mich zu einer Hypothese: Eventuell geht es den Projektverantwortlichen in der Otto Group ähnlich wie vielen anderen - der Umgang mit der Komplexität ist einfach noch nicht klar.

Wie man komplex mit kompliziert unterscheidet

Bevor man sich damit auseinander setzt, wie Komplexität zu meistern ist, sollte man sie erkennen und unterscheiden können. Wir verwechseln oftmals komplex mit kompliziert. Mit komplizierten Dingen umzugehen, sind wir gewohnt, denn schließlich werden wir in unserem Kulturkreis über Schule, Ausbildung und Studium genau darauf trainiert. Es gilt zu analysieren, zu kategorisieren, die Berechenbarkeit herzustellen und immer die Relation zwischen Ursache und Wirkung benennen zu können. Nach diesen Grundideen werden die meisten Projekte aufgesetzt und gemanaged. Das ist ok und zielführend, solange wir uns in einem Umfeld befinden, dass als geordnet zu bezeichnen ist.

Die verschiedenen Kontexte des Cynefin Framework nach Dave Snowden.
Foto: ICT-Coaching

Ein Flugzeug oder eine IT-Anwendung sind kompliziert. Bei beiden macht es Sinn über Fachwissen zu verfügen, um die Zusammenhänge zu verstehen. Aber auch als Laie kann ich über eine entsprechend lange Analysezeit verstehen, wie ein Flugzeug oder eine Software funktioniert. Ursache und Wirkung lassen sich in Zusammenhang bringen, auch wenn die Relation nicht immer offensichtlich ist und es mehrere richtige Lösungen geben kann. Kompliziert ist das Umfeld der Experten. Hier lässt sich mit Kenntnissen und Logik arbeiten, es geht darum, die Dinge zu betrachten, sie zu analysieren und daraus Entscheidungen abzuleiten.

Wechselwirkungen in Großprojekten sind nicht mehr zu erfassen

Ein Projekt der Größenordnung wie das "Passion for Performance" (P4P) der Otto Group ist mit Sicherheit hochkomplex. Das bedingt zum einen die Anzahl der beteiligten Elemente und zum anderen die Wechselwirkungen untereinander. Kann überhaupt ein Mensch noch kognitiv erfassen, welche Auswirkungen einzelne Aktionen oder Entscheidungen auf das Gesamtsystem haben? Klare Antwort: "Nein."

Willkommen in der ungeordneten Welt. In einem Umfeld, in dem Ursache und Wirkung nicht mehr offensichtlich sind und schon gar nicht über Analysen oder Best Practice bestimmt werden können. In einem komplexen Umfeld kann die Relation zwischen Ursache und Wirkung nur in der Retrospektive erkannt werden, niemals a priori. Wie können wir dann aber entscheiden und handeln? Durch Probieren, Betrachtung der Wirkungen und Reagieren. Das Management von Komplexität ist die Kunst 'Muster zu erkennen' und sie zu verstärken, beziehungsweise zu dämpfen.

Muster erkennen

Jedes komplexe System produziert Muster - die Mitarbeiter eines Unternehmens beispielsweise werden eine Stimmung "machen" zur Zentralisierung der Anwendungslandschaft. Zeigt sich die Mehrheit positiv dieser Veränderung gegenüber oder gibt es viel Abwehrverhalten? Das ist ein Muster. Positive Muster werden verstärkt, negative möglichst gedämpft.

Management-Kompetenzen Geduld und Mut

Da es gerade auch für die positive Beeinflussung menschlichen Verhaltens kein Patentrezept gibt (weil das genau komplex ist) gilt es seitens des Managements zu probieren, welche Maßnahmen die Mitarbeiter "mitnehmen". Zwei wesentliche Management-Kompetenzen in komplexen Kontexten sind daher Geduld und Mut. Geduld, da Muster nicht notwendigerweise ad hoc entstehen und Mut, weil dieses Vorgehen nicht kompatibel zu den herkömmlichen Management-Methodiken ist.

Einfache und chaotische Projektelemente

Weil wir gerade schon dabei sind, komplex von kompliziert zu unterscheiden, schauen wir doch auch noch auf zwei weitere Kontexte, die uns in jedem Großprojekt begegnen. Einfach und chaotisch. Beide werden im CIO-Artikel ebenfalls angesprochen: "Der Schaden für Otto, der durch den Stopp des Projektes entsteht, soll sich im zweistelligen Millionenbereich bewegen" und "der interne IT-Dienstleister GTP wird sich neu aufstellen müssen".

Das Scheitern von P4P kostet x Euro, das ist schön einfach. Es gibt genau eine Ursache-Wirkungs-Relation, die ist nachvollziehbar und für alle erklärbar. Das einfache Umfeld zeichnet sich genau dadurch aus. Dazu gehören in einem Projekt beispielsweise Verträge, Verfahrensanweisungen und - das obere Management. Jeder, der schon einmal Projekt orientiert gearbeitet hat, kennt die Berichtswege und -richtlinien "nach oben".

Es wird reported über Ampeln, in wenigen 'Management-tauglichen' Folien, Informationen werden verdichtet, bis auch der letzte Rest Komplexität atomisiert ist. "Oversimplification" ist die latente Gefahr an dieser Stelle. Eventuell war auch das ein Problem bei Otto. Wenn das Management eine einfache Welt vorgesetzt bekommt, wird es die Komplexität nicht einschätzen können und auch keine "anderen" Methoden im Management als gerechtfertigt ansehen.

Chaos braucht stringente und diktatorische Führung

Die Vermutung liegt nahe, dass GTP im Moment in einer Krise steckt. Das Umfeld für den IT-Dienstleister könnte gerade chaotisch sein. Im Chaos herrschen keinerlei nachvollziehbare Wirkzusammenhänge mehr, auch nicht retrospektiv. Projekte kennen diesen Kontext als Krise, wenn beispielsweise massive Einschnitte bei den Ressourcen gemacht werden, der Markt plötzlich Neuerungen hervorbringt oder das eigene Unternehmen mit einem Mitbewerber fusioniert.

Für eine Phase, die besser kurz sein sollte, gibt es keine gültigen Regeln und Leitplanken, an denen sich die Menschen orientieren können. Im Chaos ist stringente und geradezu diktatorische Führung nötig, um das System zu stabilisieren und es weiter (oder wieder) arbeitsfähig zu machen.

Im Falle des SAP-Riesenprojekts bei Otto finden sich für alle vier beschriebenen Umfelder Beispiele. Das ist kein Wunder, denn jedes Projekt hat einfache, komplizierte, komplexe und manchmal auch chaotische Elemente. Der Schlüssel zu mehr Erfolg für diese Art Großprojekt kann darin liegen, die Elemente zuordnen zu können. Nur wenn ich weiß, ob ich etwas Kompliziertes oder Komplexes betrachte, kann ich auch die richtigen Entscheidungs- und Vorgehensweisen auswählen. Ansonsten befinde ich mich in "Verwirrung".

Kompliziertes oder Komplexes richtig zuordnen

Ein erster kleiner Schritt kann darin liegen, das Projekt wirklich nur der IT zuzuordnen, wenn es kompliziert ist. Wir sind das Kategorisieren so gewohnt, dass die erste Assoziation mit einem 'IT-Projekt' ist, dass es durch genügend Analysen, genügend Experten und stringente Tools und Techniken locker durchführbar sein muss. P4P hat sicher einen IT-Anteil im Projekt, gehört aber ganz klar nicht in die geordnete Welt. Ein solches Projekt ist komplex, es ist anders und muss daher auch anders gemanaged werden.

Stephanie Borgert ist Coach, Trainerin und Beraterin bei ICT-Coaching.