6 disruptive Szenarien

McKinsey: Big Data erfüllt Erwartungen noch nicht

29.03.2017 von Werner Kurzlechner
Das McKinsey Global Institute legt in einer aktuellen Studie dar, dass sich ihre 2011 formulierte Erwartungen an Big Data nicht realisiert haben. Dennoch halten die Analysten daran fest, dass sich die enormen Potenziale bald entfalten werden.
  • Gewaltiges Automatisierungspotenzial durch Machine Learning
  • Orthogonale Daten sorgen für Disruption
  • Anwender müssen drei Schritte auf einmal bewältigen
  • Business Translators und Data Scientists bleiben rar
  • Silostrukturen lähmen die Entwicklung
Studienergebnisse auf einen Blick: McKinsey sieht sechs disruptive Entwicklungen, die mit Big Data verbunden sind, und drei Aspekte des Umgangs mit Daten.
Foto: McKinsey Global Institute

Für skeptische CIO-Naturen ist es eine immerwährende Frage: Steckt hinter der Technologie, die verkauft werden will, wirklich Substanz oder nur Marketing? Ist am Ende alles nur ein Hype? Die Analysten von McKinsey greifen diese Grundfrage für das Thema Big Data nun selber auf. Sie kommen erwartungsgemäß zu dem Befund, dass Big Data und Datenanalyse generell wichtig sind und immer wichtiger werden. Kein aufgeblasener Hype also.

Dennoch gibt es einen guten Grund dafür, die Frage überhaupt zu stellen. Denn tatsächlich, so arbeitet ein Autorensextett des McKinsey Global Institute (MGI) in der Studie "The Age of Analytics: Competing in a Data-Driven World" heraus, haben sich mit dem Thema verknüpfte Erwartung bislang weithin nicht erfüllt.

Vergleich mit McKinsey-Studie von 2011

Bezugspunkt dieser Feststellung ist eine MGI-Studie aus dem Jahr 2011, die das transformatorische Potenzial von Big Data ausmalte. Die dort getätigten Prognosen haben also mittlerweile einige Jahre auf dem Buckel, und die Möglichkeiten der Analyse-Technologie werden heute mitnichten so ausgeschöpft, wie dort umrissen.

Zwar stellen die Autoren der aktuellen Studie fest: "Wir sind überzeugt, dass das Potenzial nicht überschätzt wurde." So verdopple sich das weltweite Datenvolumen weiterhin alle drei Jahre. Datenspeicherung sei sehr viel günstiger geworden, entsprechend hätten sich die Kapazitäten in diesem Bereich erheblich vergrößert. Außerdem seien Data Scientists mittlerweile durchaus verbreitet und mit der Entwicklung immer ausgereifterer Algorithmen gut beschäftigt.

Die prognostizierten Fortschritte sind noch nicht eingetroffen

Nur: Die 2011 in Aussicht gestellten Fortschritte haben sich bislang kaum realisiert. Seinerzeit hatte das MGI fünf Branchen mit besonderem Disruptions-Potenzial definiert. Immerhin zu 50 bis 60 Prozent konnte das vorhandene Potenzial für das Segment der ortsbezogenen Daten realisiert werden. Ein Hindernis bleibt hier laut Studie die Durchdringung des Smartphone-Marktes mit GPS-Technologie - und zwar weltweit. Die weiteren vier Branchen hinken sehr viel stärker hinter den Erwartungen her.

Big Data in der Automobilbranche
Big Data Status in der Automobilbranche
Für 94 Prozent der Befragten ist Big Data & Analytics im Unternehmen bereits relevant.
Anwendungsfelder
Die Unternehmen haben Big Data & Analytics wahrgenommen und sehen es größtenteils als ein „must have“ in der Automobilindustrie.
Datenaustausch
Im Moment fehlt es an einem bereichsübergreifenden und geregelten Datenaustausch entlang der automobilen Wertschöpfungskette.
Technische Voraussetzungen
Laut der Mehrheit der Befragten sind die technischen Voraussetzungen für Big Data & Analytics ansatzweise gegeben.
Stellenwert Datenaustausch
Für den effizienten Nutzen von Big Data & Analytics muss ein geregelter Datenaustausch über alle Bereiche hinweg stattfinden.
Budget für Big Data
Die Investitionen für Big Data & Analytics werden in den kommenden Jahren deutlich steigen.
Big Data Potenziale
Ohne die entsprechende Verknüpfung der Bereiche kann das Potenzial von Big Data & Analytics nicht ausreichend ausgeschöpft werden.
Kundendaten aus dem Web
Big Data & Analytics spielt eine immer stärker werdende Rolle bei der Generierung und Auswertung von Kundendaten aus dem Web.
Big Data in der Produktion
Im Bereich der digitalen Produktion sind noch viele Big-Data- und Analytics-Potenziale ungenutzt.
Die größten Herausforderungen

Nur 30 bis 40 Prozent des potenziellen Wertzuwachses erreichen die Retail-Unternehmen. McKinsey stützte seine optimistische Prognose ursprünglich auf die Händler in den USA, stellt aber fest, dass sich die Lage in der Europäischen Union kaum anders darstellt. Nur zu 20 bis 30 Prozent schöpft die Fertigungsbranche ihr Potenzial aus. Mit 10 bis 20 Prozent liegen die Werte für den öffentlichen Sektor in der EU und für die Gesundheitsbranche in den USA noch darunter.

Data Scientists und Business Translators fehlen

Klammert man die Healthcare-Firmen in Nordamerika aus, die laut Studie vor allem von Akzeptanz- und Interoperabilitätsproblemen ausgebremst werden, sind es ähnliche Hürden, die Big Data bisher nicht zu nehmen wusste. Durchweg gilt das für immer noch existierende Datensilos - in den verschiedenen Behörden der EU etwa oder in verschiedenen Unternehmen und Unternehmensteilen der Handelshäuser. Retail und öffentlicher Sektor plagen sich überdies in besonderem Maße mit Mangel an Analyse-Fachkräften, in der Industrie ist die Skepsis der Entscheider ein Bremsfaktor von hohem Gewicht.

"Viele Unternehmen tun sich damit schwer, datengetriebene Erkenntnisse in die alltäglichen Geschäftsprozesse einzuspeisen", konstatieren die Studienautoren. "Eine weitere Herausforderung ist das Rekrutieren und Binden der richtigen Talente - nicht nur Data Scientists, sondern auch Business Translators, die einen profunden Umgang mit Daten sowie branchenspezifische und funktionale Expertise kombinieren."

Menschlicher Faktor entscheidend für Big Data & Analytics-Erfolge

Der menschliche Faktor ist laut Studie ohnehin entscheidend für greifbare Big Data & Analytics-Erfolge. Firmen, in denen viele Digital Natives zu finden sind, tun sich auf diesem Feld generell leichter. Die schlechte Nachricht von McKinsey: Fachkräfte werden noch auf Jahre hinaus knapp bleiben. Es bleibt schwierig, Data Scientists und Business Translators zu finden.

Data Scientists sind knapp - und Business Translators ebenso.
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Daneben erschwert eine doppelte Aufgabenstellung die Lage vieler Unternehmen. Bevor sie - ausgerüstet mit einer passenden Strategie und dem benötigten Know-how - tatsächlich Honig aus den neuen Möglichkeiten saugen können, gilt es, bestehende Silo- und Legacy-Strukturen zu überwinden und die Datenintegration voranzutreiben. Die Studienautoren rechnen hier in den kommenden Jahren mit einer Fülle an Projekten.

Die Datenanalyse gleicht aus Anwendersicht laut Studie einem Dreiklang: Daten müssen generiert, aggregiert und analysiert werden, damit das profitable Ökosystem vollständig ist. Das größte Datenvolumen fällt - auch was die Use Cases angeht - im Bereich der Aggregation an. Der Wertanteil ist indes bei der Analyse selbst am größten.

"Orthogonale" Daten führen zu Disruptionen

Eine besonders disruptive Wirkung geht nach Ansicht der Analysten von "orthogonalen" Daten aus (orthogonal: griechisch 'rechtwinklig'). Der Begriff soll aussagen, dass die Daten hinsichtlich Typ und Quelle gewissermaßen quer zu den etablierten Daten stehen. Ein Beispiel dafür sind Telematikdaten über das Fahrverhalten, die von Unfallversicherern ausgewertet werden können - orthogonal zu den demografischen Daten, die bislang die alleinige mathematische Grundlage für die Prämien darstellen. Laut Studie kann auch das Internet der Dinge als Quelle für orthogonale Daten dienen. Zu denken ist hier beispielsweise an vernetzte Lichtsysteme, die die Zahl der Anwesenden in einem Raum erkennen und den Energieverbrauch dahingehend optimieren.

6 disruptive Modelle

Orthogonale Daten werden nach Einschätzung der Autoren die Wettbewerbsbasis auf vielfältige Weise verändern. Sie werden die bislang genutzten Daten aber nicht ersetzen. "Wahrscheinlicher ist, dass ein Unternehmen orthogonale mit vorhandenen Daten integriert." Insgesamt erkennt McKinsey sechs disruptive Modelle, die weitreichende Big Data-Potenziale umreißen. Die Berater haben jeweils auch die Branchen im Blick, die besonders betroffen sein dürften.

1. Durch orthogonale Daten ermöglichte Geschäftsmodelle: Versicherungen, Gesundheitswirtschaft, Personalwesen

2. Echtzeit-Matching auf übergroßer Datenbasis: Transport und Logistik, Automotive, Smart Cities und Infrastruktur

3. Radikale Personalisierung: Healthcare, Handel, Medien, Bildung

4. Massive Datenintegration: Banken, Versicherungen, öffentlicher Sektor, Personalwesen

5. Datengetriebene Entdeckungen: Life Sciences und Pharmazie, Materialwissenschaften, Technologie

6. Verbesserte Entscheidungsfindung: Smart Cities, Healthcare, Versicherungen, Personalwesen

Besonderes Augenmerk auf Machine Learning

Einen beträchtlichen Teil der Studie widmen die Autoren den jüngsten Fortschritten im Bereich Machine Learning. Lernende Maschinen können laut McKinsey in 80 Prozent der dafür in Frage kommenden Fälle Automatisierung ermöglichen. Ausstrahlung hat das auf diverse Anwendungsfelder: vom Kundendienst über das Logistik-Management und die Analyse medizinischer Werte bis hin zum Schreiben von Literatur - durch Software und ohne menschlichen Autor.

Sprache: Gigantisches Potenzial vorhanden

"Der Wertpotenzial liegt überall, sogar in Branchen, die sich bisher nur langsam digitalisieren", heißt es in der Studie. "Diese Technologien könnten Produktivitätszuwächse und eine bessere Lebensqualität generieren - einhergehend mit Jobverlusten und anderen Zerrüttungen."

Untersucht wird in der Studie, welche Voraussetzungen derzeit für Automatisierung bestehen. In 99 Prozent der Fälle geht es bei den betroffenen Aktivitäten um das Erkennen bekannter Muster. Mit 79 beziehungsweise 76 Prozent folgen danach aber bereits das Generieren und das Verstehen von Sprache. Durchbrüche in der Verarbeitung menschlicher Sprache durch Roboter hätten deshalb nach Einschätzung der Analysten ein äußerst disruptives Potenzial.

Diese Grafik zeigt, dass in vielen Branchen das Potenzial von Big Data noch nicht ausgeschöpft ist.
Foto: McKinsey Global Institute

Die 2011 an Big Data formulierten Erwartungen haben sich also bisher nicht wirklich erfüllt. Dennoch hält das MGI an seiner hohen Messlatte fest. "Data & Analytics erschüttern schon viele Branchen - und die Auswirkungen werden sich zuspitzen, sobald der Einsatz eine kritische Masse erreicht", lautet das Fazit der Studie. "Eine noch größere Welle der Veränderung zeichnet sich am Horizont ab, wenn Deep Learning ausgereift ist - was Maschinen noch nicht gekannte Möglichkeiten des Denkens, des Problemlösens und des Verstehens von Sprache gibt."