Stress im Job

Millionengehalt, aber kein Mittagessen

23.01.2019 von Simon Hage
Immer mehr Führungskräfte leiden unter den Belastungen ihres Jobs. Viele vernachlässigen sogar Grundbedürfnisse wie Essen oder Schlafen. Facharzt Bernd Sprenger erklärt wie Burnout sich äußert, wer besonders betroffen ist - und wie man sich dagegen wappnen kann.
Bernd Sprenger ist Psychotherapeut und Chefarzt der Oberbergklinik Berlin-Brandenburg. Die Klinik ist spezialisiert auf Burnout, Angsterkrankungen, Depressionen und Suchterkrankungen.
Foto: Bernd Sprenger

Herr Sprenger, Sie betreuen Menschen, die durch Stress am Arbeitsplatz krank geworden sind. Welche Berufsgruppen sind besonders gefährdet?

Bernd Sprenger: Das beginnt bei Beamten im Schuldienst, im Polizeidienst und im Politikbetrieb in Berlin und führt über Ärzte bis hin zu Managern und Selbstständigen. Betroffen sind also all diejenigen, deren Arbeitsalltag von hoher Komplexität und gleichzeitig großem Engagement geprägt ist.

Angenommen, ich treibe täglich etwa eine halbe Stunde Sport und bemühe mich um eine halbwegs ausgewogene Ernährung. Ich versuche außerdem, den Arbeitsplatz einigermaßen rechtzeitig zu verlassen, um auch meine sozialen Kontakte adäquat zu pflegen. Bin ich damit halbwegs gewappnet gegen Burnout?

Bernd Sprenger: Im Prinzip ja. In unserer modernen Gesellschaft kommen die vier Grundbedürfnisse Essen, Schlafen, Bewegung und soziale Bindung viel zu kurz. Viele Menschen schlafen chronisch zu wenig, dadurch verdoppelt sich das Herzinfarktrisiko. Realität ist auch, dass manche Top-Manager, die Umsätze in Milliardenhöhe verantworten und Millionen verdienen, es nicht einmal schaffen, regelmäßig zu essen. Das Paradoxe ist: Je reicher und technisch perfekter wir werden, desto stärker vernachlässigen wir die elementarsten Bedürfnisse.

Sie selbst gehören zu einer gefährdeten Berufsgruppe. Sind Sie besorgt, vor lauter Stress eines Tages selbst einen Arzt konsultieren zu müssen?

Bernd Sprenger: Bis jetzt nicht. Ich nehme das, was ich meinen Patienten erzähle, persönlich sehr ernst. Ich laufe jeden Morgen 40 Minuten. Und ich sorge dafür, dass ich mindestens eine Mahlzeit pro Tag gemeinsam mit meiner Familie einnehme. Ich schlafe genug und lasse dafür auch öfter mal am Abend einen Spielfilm oder ein Theaterstück sausen, obwohl ich mich eigentlich dafür interessiert hätte. Außerdem überlege ich sehr genau, wie viel Arbeit ich mir zumuten kann - und wann zwischendurch mal eine kurze Pause notwendig ist. Das erfordert eine hohe Disziplin.

"Man muss erst einmal brennen"

Welches sind die häufigsten Symptome, die Ihre Patienten beklagen?

Dieses Interview erscheint mit freundlicher Genehmigung von manager-magazin.de.
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Bernd Sprenger: Wenn jemand auszubrennen droht, fängt die Symptomatik zunächst so versteckt an, dass derjenige gar nichts davon bemerkt. Nur die Umwelt des Betroffenen stellt fest: Der hat plötzlich gar kein Interesse mehr an Dingen, die ihm früher einmal Spaß gemacht haben. Die Symptome, die der Patient selbst erkennt, sind meist somatischer Natur, etwa Einschlaf- oder Durchschlafstörungen.

Es geht weiter mit psychosomatischen Problemen wie Verdauungsbeschwerden, Kopfschmerzen oder Rückenproblemen - jeweils ohne somatischen Befund. Sprich: Man lässt sich beispielsweise wegen starker Rückenschmerzen röntgen, doch der Orthopäde findet nichts. Auf der nächsten Stufe folgen psychische Symptome: anhaltende Niedergeschlagenheit und die Unfähigkeit, emotionale Ressourcen zu mobilisieren.

Wie viele Menschen leiden an Burnout-Problemen, ohne es zu wissen?

Bernd Sprenger: Da kann ich keine konkreten Zahlen nennen. Allerdings stellen wir hier in der Klinik fest, dass immer mehr Menschen an entsprechenden Symptomen leiden. Dabei handelt es sich primär um besonders Leistungsfähige und Leistungswillige. Ein Spruch besagt: Man muss erst einmal brennen, um ausbrennen zu können. Primär betrifft die Burnout-Problematik also Menschen, die etwas im Beruf erreichen wollen und Idealismus besitzen. Wer seine Arbeit eher auf die leichte Schulter nimmt, ist weniger gefährdet.

"Komplexität unterschätzt"

Sie plädieren also für mehr Gleichgültigkeit im Job?

Bernd Sprenger: Oh nein, das wäre ein großes Missverständnis. Ich rate dazu, das Engagement so zu dosieren, dass man leistungsfähig bleibt. Eine gleichgültige Haltung gegenüber dem Job macht auf Dauer ebenfalls krank, weil man dann keinerlei innere Anbindung an seine Tätigkeit empfindet.

Es geht darum, einen Mittelweg zu finden zwischen völliger Teilnahmslosigkeit und einem Übereifer, der an die Substanz geht. Wer sich häufig überfordert fühlt, sollte beispielsweise verstärkt Unterstützung von Kollegen wahrnehmen und Aufgaben delegieren. Dadurch gewinnt eine Führungskraft Ruhe und Kreativität für die wirklich wichtigen Aufgaben.

Sind ältere Führungskräfte stärker vom Burnout betroffen?

Bernd Sprenger: Nein, das ist ganz unterschiedlich. Jüngere Führungskräfte sind in der Regel zwar körperlich und psychisch sehr fit, darüber hinaus sehr gut ausgebildet. Sie unterschätzen aber häufig die Schwierigkeit der Aufgabe - die soziale Komplexität des Unternehmens: Wie sind die Hierarchien strukturiert? Welche Kommunikationsregeln existieren? Ältere, erfahrene Fachkräfte kommen damit ganz gut zurecht, verlieren aber häufig den Anschluss bei technischen Neuentwicklungen und fühlen sich dadurch überfordert.

Was konkret meinen Sie mit sozialer Komplexität? Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Bernd Sprenger: Ein Jung-Manager tritt nach einem hervorragenden Universitätsabschluss seinen ersten Job in einem Großunternehmen an und macht dort rasch Karriere. Er eckt aber immer wieder an, weil er nicht bemerkt, dass er anderen ständig auf die Füße tritt. Seine Kollegen beginnen dann, ihn zu meiden und geben ihm nicht mehr alle erforderlichen Informationen.

Er wird nicht mehr eingeladen in informelle Zirkel - merkt das aber gar nicht, weil er immer nur sachbezogen handelt. Ihm fehlt die emotionale Intelligenz. Plötzlich bemerkt der junge Manager, dass er nicht mehr weiterkommt. Das erste Projekt misslingt - er kommt langsam auf die Abwärtsschiene und wird depressiv.

"Übersteigerter Perfektionismus"

Was würden Sie einem solchen Patienten raten?

Bernd Sprenger: Zunächst muss er einen Schritt zurücktreten und sich das Gesamtbild anschauen.Burnout-Patienten haben gewöhnlich eine sehr eingeschränkte Wahrnehmung. Sie sehen nur das Böse, das ihnen widerfährt. Sie sind aber oft blind für ihren ganz persönlichen Beitrag zur Symptomatik. Wer sich ausgebrannt fühlt, überschätzt in der Regel die Macht der äußeren Strukturen - und unterschätzt die eigenen mentalen Fähigkeiten.

Dabei gibt es kaum einen Arbeitsplatz, den man nicht aus eigener Kraft zum Besseren wenden könnte - wenn auch in kleinen Schritten. Viele tragen unbewusst einen übersteigerten Perfektionismus mit sich herum, der entscheidend zum Ausbrennen beiträgt.

Stress muss nicht immer schlecht sein, er kann auch Ansporn bieten. Ab wann wird der hohe Arbeitseifer zur Gefahr für die Gesundheit?

Bernd Sprenger: In der Stressforschung unterscheidet man den Eustress vom Disstress, den guten vom schlechten Stress. Eustress liegt immer dann vor, wenn ich mich trotz hoher Anforderungen wohlfühle, wenn mein Organismus die Leistung halten oder sogar noch steigern kann. Der Organismus ist auf Stress ausgelegt, er will sogar beansprucht und trainiert werden - allerdings maßvoll.

Bildlich gesprochen: Wer angemessen trainiert und dabei in neue Leistungsbereiche vorstößt, stärkt Muskeln und die Kondition. Keinesfalls darf man jedoch aus dem Stand einen Marathon laufen - sonst klappt man zusammen. Das wäre Disstress.

Übertragen auf das Arbeitsleben bedeutet das: Ich muss meine Leistungsfähigkeit sukzessive steigern und langsam dazulernen. Wenn ich mich ständig überfordert fühle - etwa wegen zu hohen Zeitdrucks oder zu hoher Komplexität - dann bildet sich der Knoten namens Burnout.

"Aus dem Verkehr gezogen werden"

Wie lassen sich akute Burnout-Probleme lösen?

Bernd Sprenger: Wer es nicht mehr schafft, sich innerhalb seines Hamsterrades selbstständig zu regenerieren, muss für eine Weile aus dem Verkehr gezogen werden. Die meisten Patienten kommen hier an und wollen ihre Krankheit genauso schnell bewältigen, wie sie auch durch das Arbeitsleben hetzen. Sie erreichen die Klinik am Freitagnachmittag und wollen bis spätestens Dienstag zum nächsten Meeting wieder gesund sein. Das geht natürlich nicht.

Zunächst einmal müssen die Patienten ihr körperliches Gleichgewicht finden, damit man überhaupt mit ihnen arbeiten kann: Dazu gehört ein gesunder Schlaf, eine medizinische Trainingstherapie und ausgewogene Ernährung. Danach beginnt der psychotherapeutische Teil, der die Ursachen des Burnouts analysiert. Drittens suchen wir nach Möglichkeiten, die Alltagsroutine am Arbeitsplatz zu verändern.

Die Krankenkassen dürften sich wenig zahlungsfreudig zeigen, wenn Führungskräfte zur Erholung in Ihrer Klinik einchecken.

Bernd Sprenger:Burnout selbst ist zwar keine Krankheit im Sinne der "International Classification of Diseases". Aber es ist ein Summenbegriff für viele Symptome, die sich dahinter verbergen: Übergewicht, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Störungen, Depression, Angstzustände, Suchterkrankungen. Das sind Krankheiten, deren Bekämpfung von den Krankenkassen bezahlt werden muss.

Und wie reagieren die Arbeitgeber, wenn Beschäftigte sich wochenlang ausklinken und von Ihnen therapieren lassen?

Bernd Sprenger: Das ist völlig unterschiedlich. Manche Arbeitgeber sehen sich eher als Verwertungsmaschinerie und lassen ihre Angestellten nur ungern ziehen. Ich denke, solchen Unternehmen wird nicht die Zukunft gehören. Denn eine Vielzahl der Stellen für Hochqualifizierte wird künftig nicht mehr so leicht zu besetzen sein. Der kluge Arbeitgeber achtet darauf, seine wichtigste Ressource zu erhalten: die Mitarbeiter.