Der fünftgrößte Automobilzulieferer der Welt arbeitet mit einem "Dual-Mode-Betriebssystem", sagt Jürgen Sturm, CIO der ZF Friedrichshafen AG. Dahinter stehe der Leitgedanke "Excel and Explore": Bestehendes verbessern und zugleich Freiräume schaffen für Neues. Das klingt nach einer brauchbaren Maxime für ein Unternehmen, das 1915 unter dem Namen Zahnradfabrik GmbH gegründet wurde und zunächst Zahnräder und Getriebe für Luftfahrzeuge, Motorwagen und Boote produzierte. Mit 230 Standorten in 40 Ländern, fast 150.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von gut 36 Milliarden Euro gehört ZF heute zu den führenden Herstellern von Antriebs-, Fahrwerk- und Sicherheitstechnik.
Mit den Umbrüchen in der Automobilbranche war die Idylle am Hauptsitz in Friedrichshafen am Bodensee indes schon länger getrübt. Im Januar 2020 kippte die Stimmung endgültig, als infolge der ersten Corona-Fälle chinesische Automobilhersteller ihre Produktion herunterfuhren oder den Betrieb einstellten. "Unsere OEM-Kunden in China legten eine Vollbremsung hin", erinnert sich Sturm. Angesichts der engen Verflechtung mit Kundensystemen und der Just-in-Time-Fertigung von Komponenten spürte der Zulieferer die Folgen unmittelbar. "Wir mussten sofort reagieren", so der CIO. Binnen kürzester Zeit stoppte auch ZF die Produktion und schickte Mitarbeiter in Kurzarbeit.
Gravierende Folgen für die IT
Für die IT waren die Folgen gravierend. Sturm berichtet von einem "extremen Kosten-Management", das nun gefragt war. Dabei lasse der Innovationsdruck nicht nach, im Gegenteil: "Die Krise befeuert den Zwang zu Veränderungen noch, die Megatrends in der Automotive-Branche entwickeln sich weiter." Elektrifizierung, Shared Mobility, autonomes Fahren und Connectivity bestimmen demnach weiterhin die strategische Ausrichtung des Automotive-Zulieferers.
Kein einfacher Job für den IT-Chef: Er muss die laufenden Kosten drücken, dabei aber weiter in wichtige digitale Initiativen investieren. Der promovierte Ingenieur betreibt vor diesem Hintergrund ein "aktives Portfolio-Management". Mit anderen Worten: Alle Projekte kommen auf den Prüfstand, einige wurden bereits gestoppt. Bis auf weiteres konzentriere man sich auf "Mission-critical"-Vorhaben, sagt Sturm, hat aber auch ein allmähliches Abflauen der Krise im Blick.
In China etwa nahmen einige Hersteller bereits im April den Betrieb sukzessive wieder auf; ZF begann vor allem in den 40 Werken vor Ort, aber auch in Europa damit, Teile für den asiatischen Markt zu fertigen. Zwar hofft der CIO, dass die Produktion in der zweiten Jahreshälfte schrittweise wieder hochgefahren werden kann, doch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie sind schon jetzt dramatisch.
Nach groben Schätzungen könnte der Absatz im laufenden Geschäftsjahr um 20 Prozent einbrechen. Ende Mai kündigte ZF an, bis 2025 bis zu 15.000 Stellen zu streichen. Dessen ungeachtet beschäftigt sich Sturm intensiv mit dem "Restart" und ist überzeugt, dass die Digitalisierung in dieser Phase einen Schub auslösen wird. ZF konzentriert sich auf dabei auf vier Handlungsfelder:
Digitalisierung in den Produkten und Services,
Digitalisierung in der Produktion (mit dem Schwerpunkt Industrie 4.0),
Digitalisierung aller Geschäftsprozesse beispielsweise in Einkauf, Materialwirtschaft, Finanzen, Human Resources und
Digitalisierung der Workforce.
Im letztgenannten Feld geht es laut Sturm um die Ausrüstung der Mitarbeiter mit digitalen Arbeitsmitteln, vor allem aber auch um die Einführung neuer, agiler Arbeitsmethoden. Besonders wichtig in der Coronakrise ist die virtuelle Zusammenarbeit, die ZF vor allem über Microsoft Teams organisiert. Neben der klassischen Kommunikation mit Chats und Videokonferenzen nutzt der Hersteller beispielsweise virtuelle Projekträume, in denen Mitarbeiter gemeinsam an neuen Systemen arbeiten.
"Als die Corona-Welle im März nach Deutschland schwappte, waren wir gut vorbereitet", so der CIO. Für die weltweit rund 105.000 IT-Nutzer war Teams bereits implementiert. Schon kurz nach Beginn der Krise arbeiteten bis zu 60.000 Kollegen aus dem Home Office; das IT-Team verachtfachte die dafür notwendigen VPN-Kapazitäten.
Vor allem die Kommunikation wurde zu einem entscheidenden Faktor, berichtet Sturm. ZF setzte mehrere "Corona Task Forces" ein und etablierte neue Formate wie eine "Virtual Coffee Corner", in der das weltweite IT-Team regelmäßig zu erforderlichen Corona-Maßnahmen informiert wurde. Für die wichtigsten Fragen zur Pandemie stellte die IT einen "Corona Chatbot" für alle Mitarbeiter bereit. Die Maßnahmen kamen bei der Belegschaft gut an, blickt der IT-Chef zurück: "Wir bekamen viel positives Feedback von den Usern."
Next Generation Mobility
Geht es um digitale Produkte und Services, orientiert sich ZF Friedrichshafen an seiner "Next-Generation-Mobility"-Strategie. Das erklärte Ziel: Eine emissionsfreie, sichere, komfortable und erschwingliche Mobilität für Menschen und Güter. Was das in der Praxis bedeutet, veranschaulicht Sturm gern mit einem kurzen Video, das er auch anlässlich der Hamburger IT-Strategietage 2020 zeigte: Auf einer Teststrecke rast ein Sattelschlepper auf ein Stauende zu. Kurz bevor es zum Crash kommt, weicht der LKW automatisiert aus und kommt neben den PKW zum Stehen. Für das Ausweichmanöver sorgen intelligente mechatronische Produkte im Fahrzeuginneren, die unabhängig vom Menschen sehen und handeln können.
Das Produktportfolio der Friedrichshafener hat sich im Lauf der Jahre dementsprechend verändert. Längst geht es nicht mehr nur um Antriebs- und Fahrwerkstechnik. Für das autonome und assistierte Fahren offeriert das Unternehmen etwa komplette Steuerungs- und Sicherheitssysteme. Dazu gehört auch ein breitgefächertes Sensor-Portfolio mit Radar-, Lidar- und Kamerasystemen. Ein zentrales Element für das autonome Fahren bilden die integrierten Rechner (Onboard Units) in den Fahrzeugen. Mit seinem "ZF ProAI"-Hochleistungsrechner ist ZF inzwischen auch zum Computerhersteller geworden.
"Die IT ist in diesem Feld Enabler und stellt beispielsweise die Entwicklungsplattformen bereit", erläutert Sturm. Ein Megatrend dabei ist die virtuelle Entwicklung und Erprobung von Systemen. Dabei fallen naturgemäß riesige Datenmengen an. Ein voll ausgebautes Sensor-Set für das autonome Fahren generiert pro Stunde und Fahrzeug neun Terabyte Daten. Besonders rechen- und speicherintensiv sind auch Crash-Simulationen, die ZF in der Produktentwicklung fährt.
Hybrid Multi Cloud
Nur mit eigenen Rechenressourcen sind solche Aufgaben kaum zu stemmen. "Wir skalieren über die Cloud", sagt der CIO und verweist auf die "ZF Hybrid Cloud Architecture". Hybrid sei das Setup, weil man sowohl On-Premises- als auch Public-Cloud-Ressourcen einbeziehe. Es gehe aber auch darum, eigene Kernkompetenzen zu erhalten. Multi Cloud bedeutet für Sturm, dass im Grunde alle Cloud-"Hyperscaler" im Boot sind, darunter AWS, Microsoft und Google. Gemeinsam mit IBM hat ZF eine "Data Bridge" für die Verbindung von Private- und Public-Cloud-Systemen entwickelt. In Asien setzt der Automobilzulieferer - schon aus regulatorischen Gründen - auch auf lokal starke Anbieter wie Alibaba oder Baidu.
Wenn statt Cloud-Ressourcen eigene stationäre Systeme zum Einsatz kommen, gibt es dafür in der Regel physikalische Gründe. Beim Entwickeln und Testen neuer Hardware etwa spielten schon aufgrund der großen Datenmengen Latenzzeiten eine entscheidende Rolle, erklärt der IT-Chef. In solchen Fällen sei ein eigenes Rechenzentrum in unmittelbarer Nähe die bessere Wahl. Daneben prüfe man in Sachen Cloud-Nutzung aber auch kommerzielle und kundenbezogene Randbedingungen.
Digital Manufacturing Platform
Das wichtigste Projekt in der Fertigung ist für den CIO die "ZF Digital Manufacturing Platform" (DMP). Sie soll die rund 230 Standorte weltweit mit sämtlichen Maschinen und Anlagen in den Werken bedienen. Sturm: "Unsere Plattform regelt den Datenfluss zwischen den Werken und steuert die gesamte Logistik für Teile, Beschaffung, Produktion und Distribution." Auch Digital Twins sollen künftig darauf laufen und erlauben, die Produktion in Echtzeit zu überwachen und zu unterstützen.
Die aus mehreren Layern bestehende Fertigungsplattform wäre schon für sich genommen ein komplexes Projekt. Doch Sturm hat eine noch größere Herausforderung zu meistern: "Als Zulieferer müssen wir auch die großen Plattformen unserer Kunden nahtlos bedienen können." Die fallen durchaus unterschiedlich aus. Volkswagen etwa baut gemeinsam mit AWS an seiner Industrial Cloud, über die alle 122 Werke des Konzerns vernetzt werden sollen.
BMW geht einen anderen Weg: Zusammen mit Microsoft und weiteren Partnern arbeiten die Bayern an der Open Manufacturing Platform (OMP). Daraus soll eines Tages eine branchenunabhängige und standardisierte Produktionsplattform auf Basis von Open-Source-Software entstehen. Auch ZF Friedrichshafen setzt große Hoffnungen in OMP und ist im Februar der gleichnamigen Allianz beigetreten, die 2019 von Microsoft und der BMW Group gegründet wurde.
Neben ZF haben sich auch Bosch und der Brauereikonzern Anheuser-Busch Inbev der Initiative angeschlossen. Die OMP agiert unter dem Dach der Joint Development Foundation (JDF), die wiederum Teil der Linux Foundation ist. OMP-Lösungen würden veröffentlicht und mit der Community geteilt, versprechen die Gründer, "unabhängig von der Technologie, dem Lösungsanbieter oder der Cloud-Plattform, die zum Einsatz kommt."
Business Relationship Management
Für Projekte wie DMP kann Sturm auf die Unterstützung von CFO Konstantin Sauer zählen, an den er auch berichtet. Als zentraler Dienstleister arbeite die IT aber mit allen Vorstandsressorts eng zusammen, betont er. Dedizierte CIOs für einzelne Divisionen oder Regionen gibt es bei ZF Friedrichshafen nicht. Sturm vertraut auf mehrere "Business Relationship Manager" (BRM), die digitale und IT-Themen in der gesamten Organisation vorantreiben sollen.
Die Schnittstellenfunktion gibt es in unterschiedlichen Ausprägungen. So kann ein BRM einer Fachabteilung oder der IT zugeordnet sein, auch Mischformen sind möglich. "Die disziplinarische Zuordnung ist weniger wichtig", sagt Sturm. Entscheidend sei, dass der Business Relationship Manager die wichtigen Themen voranbringe.
Innovation Management
Zu diesen Themen gehören insbesondere technische Innovationen. Der Automobilzulieferer hat dafür eine Reihe von Initiativen angestoßen. So gibt es beispielsweise Technology Roadshows, Pitch Nights, Design Thinking Labs und einen "Idea Channel" für die Mitarbeiter. Sturm reicht das noch nicht. "Digitale Initiativen müssen auch skalieren", fordert er.
Im nächsten Schritt komme es darauf an, mit Innovationen in die Fläche zu gehen. "Am Ende muss die Digitalisierung aus den Fachbereichen getrieben werden", ist der Chief Information Officer überzeugt. Die IT agiere dabei als Unterstützer und stelle die Technologien, Plattformen sowie die Rahmenbedingungen für datenzentrierte Geschäftsprozesse in einer Gesamtarchitektur bereit.
Das Marktforschungs- und Beratungshaus Gartner hat in diesem Kontext den Begriff des "Citizen Developer" geprägt. So weit will Sturm nicht gehen. Allerdings nutzt auch ZF Friedrichshafen bereits Low-Code- und No-Code-Plattformen, mit denen Mitarbeiter ohne tiefe Programmierkenntnisse in den Abteilungen eigene Lösungen entwickeln können. ZF sei dabei, solche Systeme auszurollen. Last, but not least wolle man mit neuen Technologien auch Prozessverbesserungen erreichen. In vielen Bereichen setze das Unternehmen zudem auf Robotic Process Automation (RPA), um einfache Abläufe in der Verwaltung zu automatisieren.
Blockchain-Plattform für Fahrzeuge
Eine besondere Rolle für den Automotive-Spezialisten spielt das Thema Blockchain. Schon 2016 startete ZF im Rahmen eines Design-Thinking-Workshops zum autonomen Fahren ein erstes Projekt. Die Ausgangsfrage lautete: Was braucht ein autonomes Fahrzeug wie ein Roboter-Taxi, um mit der ihn umgebenden Infrastruktur interagieren zu können? Die Team-Mitglieder dachten etwa an Batterieladestationen, Parkplatzbuchungen oder die Abrechnung von Passagierfahrten.
Daraus entstand die "Car eWallet V2X Transaction Platform", ein Blockchain-basiertes Transaktionssystem, über das sich unterschiedlichste Dienste abwickeln lassen. Die Initiative entwickelte sich so erfolgreich, dass ZF sie 2018 als "Corporate Spin-off" ausgründete. An dem Startup können sich auch externe Kapitalgeber beteiligen.
Transformation auf allen Ebenen
Die vielfältigen digitalen Initiativen werden auf lange Sicht das gesamte Unternehmen transformieren, erwartet der CIO. Der Vorstand treibe den Wandel aktiv voran. Und so wird ZF Friedrichshafen wohl auch in den kommenden Jahren mit einem Dual Mode-Betriebssystem unterwegs sein. Sturm: "Bestehendes verbessern, optimieren und automatisieren. Das ist auch künftig unabdingbar." Die entscheidende Frage aber laute für ihn: "Können wir einen Beitrag leisten für künftige Generationen?" Die Kunst bestehe darin, zugleich die notwendigen Freiräume für Neues zu schaffen und die Zukunft zu gestalten.