Das Thema der IT-Governance ist in den letzen Jahren viel diskutiert worden. Unternehmen und ihre IT-Leiter weltweit haben viel Zeit und Energie investiert, um die Steuerung der IT in den Griff zu bekommen. Branchenübergreifend nimmt in fast keinem Bereich eines Unternehmens die Governance einen derart prominenten Stellenwert ein. Begriffe wie Marketing-Governance oder Fertigungs-Governance sind bei weitem keine so geläufigen Themen, die in den Unternehmen, in der Fachpresse oder auf Veranstaltungen in ähnlicher Weise diskutiert wurden. All das deutet darauf hin, dass es in der IT ein spezielles Problem geben muss. Wie kommt es, dass wir uns alle sehr intensiv mit dem Thema der IT-Governance befassen, ja befassen müssen?
Der Grund hierfür dürfte darin liegen, dass sich die IT-Branche für reifer hält, als sie es ist. Tatsächlich handelt es sich aber immer noch um ein vergleichsweise sehr junges Technikgebiet, dessen Weltmarktpotenzial bekanntlich vor 60 Jahren vom damaligen CEO der IBM, Thomas Watson, auf "ungefähr fünf Computer" geschätzt wurde. Wir müssen uns also eingestehen, dass die IT nach wie vor ein unreifer Technologie- und Management-Bereich ist, der naturgemäß vor Problemen steht, die "reifere" Disziplinen nicht haben. Eines davon ist die Steuerung.
Wenn man dies akzeptiert, ist der nächste Schritt hin zur Etablierung einer effizienten IT-Steuerung geradezu selbstverständlich: Man wendet sich Bereichen zu, die in ihrem Branchen- beziehungsweise Entwicklungsrhythmus weiter sind, um von ihnen zu lernen. Hier kann man erfahren, wie mit bestimmten Problemen umgegangen wird. Wenn dabei Ähnlichkeiten und Unterschiede erkannt werden, können sie berücksichtigt und somit letztlich für die Optimierung und Professionaliisierung der eigenen IT genutzt werden.
Bei der Bayer AG ist man in der glücklichen Lage, dass sich "reifere" Unternehmensbereiche wie zum Beispiel Fertigung sowie Forschung&Entwicklung (F&E) auf dem eigenen Werksgelände befinden. Und man hat dort gelernt, zuzuschauen. Sicher würde es den Rahmen dieses Beitrages sprengen, auf alle ITAktivitäten des Konzerns, deren Governance und die Parallelen mit anderen Unternehmensteilen detailliert einzugehen. Lassen Sie mich deshalb die aus meiner Sicht größten und bedeutendsten IT-Aufgaben herausgreifen: "Run und Change". Die vergleichbaren Konzernbereiche sind selbstverständlich Fertigung und F&E. Analog zu einem solchen Vergleich ist das zugrunde liegende Verständnis der IT demzufolge das eines "vollständigen" Unternehmens, das alle Schritte in der Wertschöpfungskette "vom Kunden - zum Kunden" abbildet. Die Separierung von Fertigung und F&E stellt auch gleich eine erste Parallele zwischen der Differenzierung der IT von anderen Unternehmensbereichen dar. Diese Trennung war in der Entstehungsgeschichte und der weiteren Entwicklung der IT in Unternehmen nicht immer selbstverständlich.
IT-Governance für das "Run"
Ein Grundgedanke, der in die IT-Governance für das viel zitierte "Run" übernommen werden sollte, ist der der Produktorientierung. Dies bedeutet, den Fertigungscharakter im IT-Betrieb deutlich stärker auszuprägen, was wiederum die gesamten IT-Abläufe nachhaltig beeinflusst. Konkrete Auswirkungen dieser Herangehensweise sind unter anderem die Etablierung von Stückpreisen, die Adressierung von Fertigungskosten sowie die kontinuierliche Entwicklung der Produktivität. Wie in der Fertigung anderer Unternehmen und Branchen müssen auch zur Steuerung der IT die entscheidenden Kenngrößen definiert und aufgeschlüsselt werden. Im IT-Betrieb fällt dies heute noch manchmal schwer, weil die Bereitschaft für das Denken und Reden in entsprechenden Kategorien nur sehr gering ausgeprägt ist.
Für manche Services ist der Produktcharakter aber schon heute einfach zugänglich und die Services sind entwickelt. So verkauft zum Beispiel die Bayer Business Services GmbH die Personalabrechnung pro Mitarbeiter, die Administration von Rechnungen je Buchung, die Bereitstellung von PCs einschließlich Service-Agreement über PC-Lifecycle-Mietkontrakte oder die Abwicklung von Einkaufsprozessen je Beschaffungsvorgang. Andere Bereiche verfügen jedoch über hochkomplexe Applikationen, die weltweit für Tausende von Usern im Einsatz sind - und bei denen nur bekannt ist, was sie im Jahr kosten. Mit den Anwendern ist bisher lediglich vereinbart, dass die Kosten für die weltweite Bereitstellung dieser Systeme einschließlich der Änderungen, die darin erforderlich sind, in Rechnung gestellt werden. Für solche Produkte gilt es in Zukunft von Beginn an zu klären: Was ist das Produkt, um das es sich hier eigentlich handelt? Was wird wirklich verkauft? Wie stellt sich das Produkt aus der Sicht des Kunden dar?
Bei der Adressierung derart komplexer Services ist man zunächst einmal mit einem grundlegenden Strukturierungsproblem konfrontiert. Wie kann man aus einem solchen Konglomerat ein Produkt oder eine Produktstruktur machen? Diese Strukturierung muss unter drei Gesichtspunkten vorgenommen werden: Zunächst geht es um die Herstellersicht, die uns zu den Fragen nach den Kostentreibern und deren Differenzierung bringt. Diese Betrachtungsweise stellt den Einstieg in kosteneffizientes Handeln dar. Der zweite Gesichtspunkt berücksichtigt die Strukturen am Markt. Mit anderen Worten: Es geht um die Frage, was in welcher Struktur angeboten wird? Gibt es zum Beispiel einen SAP-User als Produkt? Wie ist dieser charakterisiert? Wonach wird differenziert? Auf diese Weise werden die Überlegungen des Marktes hinsichtlich der Definition der Produkte mit berücksichtigt. Und die dritte und wichtigste Dimension ist jedoch die strategische Überlegung, in welcher Struktur der Kunde über dieses Produkt "nachdenkt"? Wonach möchte oder kann er möglicherweise steuern? Denkt er in Katego-rien von Rechnungspositionen, von Transaktionen per User, von gespeicherten Datenmengen? Was, beziehungsweise wie ist also letztlich die Produktwahrnehmung des Anwenders?
Die Ausrichtung einer Steuerung an diesen - durch die Produktorientierung getriebenen - Fragen hat zur Folge, dass der IT-Betrieb in einer anderen Logik optimiert wird als dies heute üblicherweise in der IT geschieht. Der IT-Betrieb lässt sich auf diese Weise in den Rhythmus der Produktivitätssteigerung bringen. Dies ist, man sollte es an dieser Stelle noch einmal betonen, eine der zentralen Aufgaben der IT-Governance.
Stark verallgemeinernd haben viele der Fragen, die sich im IT-Betrieb stellen, mit der Transaktionsproblematik zu tun. Dies gilt es sehr deutlich von den Bereichen zu trennen, in denen eine Innovation, eine Veränderung angeboten wird. Hier empfiehlt es sich, einen Change-Prozess zu organisieren, der auch klaren Projektcharakter hat. Als Ergebnis eines solchen Change-Projektes wird natürlich der Produktionsprozess modifiziert oder ein neuer initiiert.
IT-Governance für den "Change"-Bereich
Anders als im Run-Bereich gilt es im Change-Bereich das Innovationspotenzial oder den Wertbeitrag jenseits der Kosteneffizienz zu betonen. Dies ist die zweite zentrale Aufgabe der IT-Governance. Innerhalb des Bayer-Konzerns trifft man auf viele Arbeitsvorgänge, die hohen Innovationscharakter besitzen. Medikamente, Pflanzenschutzprodukte, hochwertige Werkstoffe und zukunftsweisende Systemlösungen wie Lautsprecher auf Schäumebasis oder die selbstleuchtende Folie, um nur ein paar zu nennen. Diese innovativen Produkte stellen einen wichtigen Teil des Geschäftes von Bayer dar.
Der IT im Unternehmen kommt eine ähnliche Rolle zu: Auch die IT muss einen Katalog vorweisen können, der sich neben den bestehenden Produkten und Services durch einen nachhaltig innovativen Anteil auszeichnet. Die Innovationen gehen dabei über die vom Kunden nachgefragten und die vom Markt bereitgestellten Dienstleistungen hinaus. Sie umfassen auch das eigene innovative Potenzial des Change-Bereiches, das den Kunden mit sehr hilfreichen Innovationen überrascht. Als verantwortlicher CIO möchte ich deshalb mindestens einmal im Jahr den "Neuigkeiten-Katalog" der Bayer Business Services sehen. Und ich möchte ihn von den Inhalten her so gestaltet sehen, dass unsere Kunden im Bayer-Konzern sich freuen, wenn der Katalog kommt, das aktuelle Tagesgeschäft zur Seite legen und ihn begeistert durchblättern.
Mit diesem Verständnis gehe ich in einen Bereich, der beispielsweise ERP-Systeme betreut oder der Finance&Accounting, Services anbietet, und frage: Was ist der Innovationsanteil für das nächste Jahr? Nach dem ersten ungläubigen Staunen kommen nun aus allen Bereichen mehr und mehr innovative Ideen. Aber neben dem innovativen Teil hat eine aussichtsreiche Innovation immer auch ihre ökonomische Basisstruktur zu haben. Die Innovation muss attraktiv sein, sie muss sich aber auch rechnen und einen nachweisbaren und nachhaltigen wirtschaftlichen Nutzen für den Kunden haben.
Wie schon beim "Run" werden auch hier durch diesen neuen Ansatz der IT-Governance bestehende Paradigmen herausgefordert. So kann es durchaus schon eine Innovation darstellen, wenn sich jemand überlegt, wie er seinem Kunden helfen kann, die Zahl unerwünschter Mails einzuschränken. Auch wenn damit weniger Speicherkapazität verkauft werden wird. Als Dienstleister würde es zudem eine größere Innovation bedeuten, beim Kunden nicht nur das Spam-Problem rein technisch anzugehen, sondern auch den inhaltlichen Datenmüll effektiv zu minimieren. Daneben gibt es noch einen zweiten Aspekt: Die Innovation, die sich auf den eigenen IT-Shop bezieht. Auch hier lässt sich von anderen, reiferen Bereichen lernen.
Wie sich an den IT-Governance-Beispielen für die Bereiche "Run" und "Change" zeigt, kann die vergleichsweise "junge" IT viel von anderen, gereiften Unternehmensbereichen lernen. Dies gilt selbstverständlich auch für alle anderen IT-Management-Disziplinen - etwa Standardisierung und Security.
In der Entwicklung der IT bei Bayer wurde in den letzten Jahren deutlich die Trennung von Governance und Services betrieben. Damit sollten der Service-Charakter und die Professionalisierung der Dienstleistungen stärker betont werden. Insgesamt ist die Tatsache, dass derzeit viel über IT-Governance gesprochen wird, ein Indiz der Unreife dieser Branche. Die IT-Manager sind deshalb gut beraten, die Bereitschaft zu entwickeln, aus Industriebereichen, die älter sind, mehr Erfahrungen gemacht haben und auch mehr umgesetzt haben, nach den übertragbaren Lernschritten zu fragen. Die Ausrichtung der Steuerung des Run-Bereiches an einer ausgeprägten Produktorientierung sowie die Ausrichtung der Steuerung des ChangeBereiches am innovativen Wertbeitrag sind dabei zwei zentrale Elemente, die übernommen werden können. Die Übernahme geeigneter Steuerungselemente wird unter anderem auch zu einer Beschleunigung der Entwicklung des IT-Bereiches führen.
Bisher verfolgen wenige Unternehmen diesen Weg und dies auch erst seit kurzer Zeit, sodass kaum Langzeiterfahrungen zu diesem Ansatz vorliegen, über die berichtet werden könnte. Bei Bayer haben wir begonnen, diesen Weg zu beschreiten. Unsere Erfahrungen sind vielversprechend.