RUND 1,4 MILLIONEN KUNDEN besuchen täglich die Super- und Fachmärkte des Schweizer Handelskonzerns Migros. Wenn sie auf weiße Regalböden schauen, ist der schlimmste Fall eingetreten: Leerverkauf heißt das Schreckenswort. Wenn sich dann noch in den Lagerräumern der Filialen die Kartons und Paletten türmen, wird es Zeit, das Warenwirtschaftssystem zu überdenken. Das hat Migros getan: Sechs Jahre hat CIO Rudolf Schwarz investiert, um Lagerräume zu reduzieren und die passende Ware zum richtigen Zeitpunkt in die Läden zu bringen.
Den Anstoß zum Projekt gab im Jahr 1998 eine McKinsey-Studie, in der die Berater Verbesserungspotenziale in der Logistik aufdeckten. Aus den Ergebnissen leitete Migros auch eine Vereinheitlichungsstrategie für die IT ab: alle IT-Kerngeschäfte erneuern und die IT-Landschaft komplett neu bauen, um eine durchgängige Systemlandschaft zu schaffen. Bis dahin unterhielten alle zehn Migros-Genossenschaften, die 14 Industriebetriebe und der Migros-Genossenschafts-Bund ihre eigenen IT-Systeme.
In 17 Einzelprojekten zu SAP-Retail
Zu den insgesamt 17 Einzelprojekten zählte die Schaffung einer zentralen Warenwirtschaft für Trockensortimente und Non-Food. Das Ziel: eine einheitliche Warenkette von der Produktion über den Transport bis zum Verkauf schaffen. Von Oktober 2001 bis Mitte 2003 hob Migros die Bereiche Trockensortimente auf ein gemeinsames Warenwirtschaftssystem von SAP. Von 2001 bis November 2004 folgte der Roll-out eines weiteren SAP-Retail-Systems für den Bereich Non-Food. Parallel dazu entwickelte und realisierte ein Team aus drei Migros-Genossenschaften das Warenwirtschaftssystem für Frischesortimente auf Basis von SAP Retail.
Allein das Warenwirtschaftssystem für Non-Food bewegt die Daten von rund 530000 Artikeln, wickelt täglich 20000 Aufträge aus den Filialen mit 1,3 Millionen einzelnen Bestellpositionen ab und bearbeitet rund 12000 Lieferfahrten zu den Geschäften. „Damit hat die IT die Basis für das Business geschaffen, schneller auf Marktänderungen zu reagieren und effizienter zu arbeiten“, resümiert Schwarz.
Nur kostete es zunächst viel Geld, diese flexible integrierte IT-Landschaft bereitzustellen. Migros gab in diesen Jahren viel für Logistik und IT aus. Diese Investitionen ließen sich durch Prozess- und IT-Nutzen innerhalb von drei Jahren bezahlen.
Erste Benefits musste Schwarz allerdings sehr schnell vorweisen. Schließlich bezahlen die Business Units für die Projekte an das Profit-Center IT. Deshalb habe er gegenüber dem Business immer mit Nutzenpotenzialen argumentiert, denn niemand hätte Geld für Technologieprojekte wie eine Stammdatenablösung gegeben. „In der ersten Zeit habe ich viel Zweifel am Gesamtprojekt gehört“, sagt Schwarz. Erst als das Team nach anderthalb Jahren die ersten sechs Industriebetriebe vollständig auf SAP umgestellt und mit zentralem Betrieb reibungslos produktiv gesetzt hatte, legte sich die Kritik langsam. In den Industriebetrieben stellt Migros selbst Produkte wie Schokolade, Kaffee und Frischwaren her. Sie liefern 90 Prozent ihrer Waren an Migros-Filialen und tragen 2,9 Milliarden Euro zum Migros-Gesamtumsatz von 13 Milliarden Euro bei.
Automatisierungsgrad über 80 Prozent
Weiterer Business-Nutzen durch die IT ergab sich aus dem deutlich höheren Automatisierungsgrad, der bei Bestellungen von 60 auf über 80 Prozent stieg. Mitarbeiter in den Filialen müssen weniger Aufträge händisch aufgeben. Die Bestelldaten werden automatisch erstellt und an die Verteilerzentren in Suhr (Aargau) und Neuendorf (Solothurn) gesendet. Als Folge der automatisierten Lieferkette erhöhten sich auch die Umschlaghäufigkeit von Waren und die Lieferbereitschaft der Industriebetriebe.
Geschwindigkeit spielt die zentrale Rolle. Die IT muss jederzeit bereit sein, neue Anforderungen aus dem Business abzudecken. Um die Bedürfnisse des Business frühzeitig zu erkennen, trifft sich Schwarz regelmäßig mit den IT-Verantwortlichen aus den Genossenschaften und mit dem Marketing. Auf Basis dieser Gespräche wird einmal im Jahr eine Matrix mit aktuellen und geplanten Projekten erstellt. Die Maxime: Die IT ist gegenüber den Business Units in der Verantwortung, alle neuen Technologien vorausschauend aufzusetzen. Was sich selbstverständlich anhört, gestaltete sich in der Praxis zunächst schwieriger. Er räumt ein: „Wir mussten lernen, dass es zu unserer Aufgabe gehört, nicht zu warten, sondern in Vorleistung zu gehen.“
Dabei weist sich Schwarz beinahe eine missionarische Rolle zu. „Wir müssen den Fachbereichen zeigen, was wir technologisch alles können, und sie davon überzeugen, es einzusetzen.“ Denn für ihn deckt die Migros-IT inzwischen fast alle möglichen Anforderungen aus dem Business ab. Mittlerweile steigen die Anfragen aus dem Business auch schon.
Verbesserungspotenzial sieht Schwarz auch darin, die Lieferkette noch feiner zu justieren und durch Prognosen zu unterstützen. Ein Fernziel ist es zu erkennen, wo ab welcher Uhrzeit keine Ware mehr im Regal steht. Dafür stehen Migros Verfügbarkeitsdaten seit den 70er-Jahren zur Verfügung. „Diese Prozesse müssen wir noch besser einschleifen“, sagt Schwarz. „Aber die ganz großen Verbesserungen sind in der Lieferkette schon ausgereizt.“
Größere Potenziale sieht Schwarz dagegen darin, Lieferanten stärker elektronisch anzubinden. Bislang sind erst 300 von ihnen elektronisch mit Migros verbunden. Zwar gehören sie zu den größten Zulieferern, doch will Migros bis Ende 2006 gut 3000 der rund 3200 Unternehmen integrieren. Inzwischen unterstützt das Marketing die Lieferantenanbindung sehr stark.
Testlabor für neue Technologien
Noch im Labor stehen laut Schwarz dagegen andere Entwicklungen. So sieht er große Potenziale darin, Kassenprozesse zu beschleunigen. Hier soll RFID-Technik eines Tages dazu führen, dass die Waren im Einkaufswagen an der Kasse auf einmal eingelesen werden. Dann muss der Kunde die Ware nicht auf das Fließband legen und die Kassiererin sie nicht mehr über den Scanner ziehen. Noch liegt die RFID-Erkennungsquote allerdings zu niedrig, wie Ergebnisse aus dem „M-Lab“ der Universität St. Gallen belegen, in denen Migros zusammen mit SAP neue Techniken wie RFID und Wireless-Technologie testet.
Selbst Softwareanbietern fehlt es gelegentlich an Wissen, wenn es um das Thema Retail geht. Schwarz berichtet, wie zu Beginn der Projekte weder SAP noch Implementierungspartner IBM mit den Problemen des Handels vertraut waren. So mussten beide Generaldienstleister für Spezialanwendungen wiederum Unterlieferanten beauftragen.
Allerdings resultiert für Schwarz der Erfolg im Markt nicht daraus, ob ein Handelskonzern ein bestimmtes Tool einsetzt. „Händler unterscheiden sich nicht dadurch, ob sie das Warenwirtschaftssystem von SAP oder von Retek nehmen.“ Marktentscheidend sei vielmehr der einheitliche Einsatz von Standardsoftware: „Wer durchgängige Systeme nutzt und neueste Technologie einsetzt, der hat im Handel die besseren Karten“, sagt Schwarz. Nur so können Händler schnell neuen Anforderungen seitens der Kunden und Lieferanten nachkommen.