An Selbstbewusstsein fehlt es Stefanie Kemp, seit November 2007 Group Information Officer (GIO) beim Wuppertaler Direktvertriebs-Unternehmen Vorwerk, nicht: Während fast alle IT-Entscheider SAPs Software-Produkte für unverzichtbar halten, sind die Programme aus Walldorf für Kemp keineswegs gesetzt, wenn es um die wichtigste Aufgabe geht, die eine Software bei Vorwerk haben kann: die Unterstützung der unterschiedlichen Vertriebsorganisationen im Unternehmensverbund. Komplex ist dieser Bereich deshalb, weil Vorwerk hier unterschiedliche Gleise parallel befährt. Den Kobolt-Staubsauger, den Thermomix, das Feelina Bügelsystem und Jafra Kosmetik verkaufen weltweit mehr als 500.000 freie Berater im Direktvertrieb. Hinzu kommen 23.000 fest angestellte Mitarbeiter in den Verwaltungen, der Produktion und den Dienstleistungsgesellschaften. Diese arbeiten im B2B-Geschäft für andere Unternehmen, etwa im Bereich Gebäude-Management.
"Die Visionen und Ziele der verschiedenen Vertriebe sind unterschiedlich ausgerichtet," sagt Stefanie Kemp. Möglicherweise nicht die ideale Ausgangslage für ein SAP-Projekt. "In Bereichen wie Finanzen und Controlling nutzen wir bewusst die Möglichkeiten, die uns ein Standard wie SAP bietet. Wir reflektieren anhand vorgegebener Standardprozesse unsere eigenen Abläufe und stellen sie gegebenenfalls um,“ sagt Kemp. Beim Vertrieb dagegen bewegt sich Vorwerk zwischen zwei Welten - der der fest gezurrten Standards und der von flexiblen, aber teuren Eigenentwicklungen - und bekommt aus beiden nicht das Optimum.
Mit dieser Selbsterkenntnis ist Stefanie Kemp den meisten ihrer Kollegen deutlich voraus. In der Regel unterschätzen IT-Entscheider das Einsparpotential bei den SAP-Eigenentwicklungen drastisch. Das ist das wichtigste Ergebnis einer Untersuchung des ERP-Dienstleisters West Trax. Grundlage ist ein Vergleich der Selbstauskünfte von 417 Nutzern des CIO-Tools KPI Analyzer mit über 770 Auswertungen der West Trax Benchmarking-Datenbank. Überraschend ist dabei nicht die - schließlich auch im restlichen Leben verbreitete - Neigung, sich Dinge schön zu reden, wohl aber das Ausmaß, in dem das geschieht. Einige Branchen wie zum Beispiel Konsumgüter, Energie oder Fertigung schätzen das Sparpotention noch nicht mal halb so hoch ein, wie sie laut Benchmarking-Ergebnissen tatsächlich ist.
Den Grund dafür sieht Diana Bohr, Chief Technology Officer bei West Trax Deutschland in Hahnstätten, vor allem in der unzureichenden Kommunikation zwischen Fachabteilungen und IT-Entscheidern. "Der C-Level ist in der Regel schlecht darüber informiert, wie viele Eigenentwicklungen im Unternehmen vorhanden sind, und noch viel weniger ist er sich darüber im Klaren, was das ständige Maßschneidern kostet."
Als Beispiel nennt Bohr einen internationalen Konsumgüter-Filialisten, der unbedingt eine länderübergreifende Gutscheinverwaltung in sein SAP-System einbauen wollte. "Dabei mussten nicht nur unterschiedliche Sprachen, sondern auch die verschiedenen Kostenstellen und Abrechnungssystem berücksichtigt werden. Ein riesiger Aufwand mit hohen Kosten und am Ende unbefriedigendem Ergebnis.“ Nach Ansicht von Diana Bohr müssten sich in solchen Fällen die IT-Abteilungen viel öfter trauen, dem Vorstand einen Wunsch auszuschlagen beziehungsweise ihm eine abseitige Idee mit Hinweis auf die Kosten auszureden. "Das Problem dabei ist, dass sich natürlich niemand entbehrlich machen will", glaubt Bohr. "Wer sagt, dieses oder jenes Tool brauchen wir eigentlich gar nicht, der könnte seine Vorgesetzten natürlich damit auf den Gedanken bringen, dass man ihn als Programmierer am Ende auch nicht mehr braucht."
Salamitaktik bringt Unglück
Besser läuft es in Unternehmen, in denen niemand den Ehrgeiz hat, sämtliche Probleme grundsätzlich mit SAP lösen zu wollen. Die Software AG aus Darmstadt etwa entschied sich beim Kunden-Management (CRM) ganz bewusst für die Lösung des amerikanischen Software-als-Service-Anbieters Salesforce.com. Und auch bei der Projektverwaltung kommen die Darmstädter ohne SAP aus. "Die hier genutzten Programme kosten uns nur einen Bruchteil der entsprechenden Alternativen von SAP," sagt Ivo Totev, Chief Marketing Officer der Software AG. Das liegt allerdings nicht nur daran, dass SAP so hohe Preise aufruft, sondern auch an der typischen Mechanik von SAP-Projekten. Ivo Totev: "Beim Anpassen einer Standardanwendung lassen sich die Beteiligten meistens erst mal ein kleineres Budget vom Vorstand absegnen, damit die Sache ins Laufen kommt. Und dann rücken sie scheibchenweise mit den schlechten Nachrichten raus: Wir brauchen hier vielleicht doch ein wenig mehr, und dort und da hinten sowieso."
Meistens sind die Executives selbst an dieser Salamitaktik ihrer IT-Abteilungen Schuld, schließlich dient das teure Herumdoktern an der Standardanwendung auch der Befriedigung bizarrer Neigungen oder übersteigerter Eitelkeiten. "Jeder Controller will seine ganz persönlichen Auswertungen, auch wenn es in SAP standardmäßig zehn verschiedene Analyse-Tools gibt, die im Grunde genau das zeigen, was er braucht. Das geht so weit, dass eine Zahl auf einem Report unbedingt oben rechts stehen muss statt unten links," erzählt Paul Riedo, der beim Schweizer Telekommunikationsunternehmen Swisscom für die SAP-System verantwortlich ist. "Und dieses oben rechts statt unten links kostet eben viel Geld."
Einfach nicht jeden Wunsch erfüllen
Zu viel, findet auch Andreas Werner-Scheer, Direktor Informationsverarbeitung und Organisation bei der Münchner Hypothekenbank. Mit einem Standardisierungsgrad von mehr als 57 Prozent sind die Münchner Branchenspitze. Dem Beratungsunternehmen West Trax zufolge, das auch die Systeme der Hypothekenbank durchleuchtete, liegt der Branchendurchschnitt bei einem Standardisierungsgrad von 40 Prozent. Und während der Wettbewerb im Schnitt auf einen Eigenentwicklungsanteil von 44 Prozent kommt, beträgt er bei der Hypo nur rund 29 Prozent. Das Geheimnis solcher Effizienz? Einfach nicht jeden Wunsch erfüllen. "Wenn wir die Fachabteilungen gefragt hätten, was sie alles haben wollen, hätten wir 70 Prozent Eigenentwicklungen", sagt Werner-Scheer.
"Bevor man sich für Standard-Software entscheidet, muss man sich im Klaren sein, dass damit die Philosophie verbunden ist, die Prozesse den Gegebenheiten der Software anzupassen und nicht umgekehrt.“ Dass bedeutet allerdings nicht, dass die Hypo-IT alle Nutzer in ein starres Korsett zwängt, das möglicherweise gar nicht den Anforderungen der Branche entspricht. Doch statt für alle erdenklichen Sonderfälle eigene Anwendungsteile zu entwickeln, setzt Werner-Scheer auf Add-Ons der Firma IBS.
SAP im Vertrieb umstritten
Vorwerk ist diesen Weg nicht gegangen, was Group Information Officer Stefanie Kemp bis heute bereut: Während es bei den betriebswirtschaftlichen Anwendungen gelang, die SAP-Welt konsequent aufzuräumen, sorgte bei den Vertriebslösungen die Kombination aus SAP-Standardteilen und selbst entwickelten Zusatzelementen für eine gefährliche Mischung, die das Unternehmen bis heute Geld kostet. Auch deshalb steht es in der Sternen, ob SAP die Vertriebsmannschaften bei Vorwerk auch in Zukunft mit Informationen versorgen wird.
"Bei der Konzeption von Folgelösungen haben wir nicht genug getan, den Fehler gestehen wir uns ein", sagt Kemp. Beispielsweise wurde den IT-Verantwortlichen erst nach und nach klar, dass eine klare Strategie für den Spagat zwischen den Erwartungen der anspruchsvollen Anwender im Vertrieb und der gewünschten Reduzierung der Komplexität fehlte. Ergebnis: Für unterschiedliche Vertriebseinheiten der europäischen Standorte und der verschiedenen Unternehmensteile machte die IT fast alles möglich. Außerdem zog Vorwerk nicht in Erwägung, für Aufgaben im Vertrieb vorgefertigte Add-Ons zuzukaufen, die branchenspezifische Anpassungen an SAP ermöglichen. Statt dessen stieg man gleich in die Eigenentwicklung ein.
Eigenentwickler mit nur 22 Prozent
"Wer von den Vorteilen einer Standard-Software profitieren will, sollte möglichst Nahe an diesem Standard bleiben," findet Diana Bohr vom ERP-Dienstleister West Trax. So wie Kurt Trillsam, IT-Direktor bei Modine Europe GmbH aus Filderstadt. Der Anteil der Eigenentwicklungen in den SAP-Systemen des Automobilzulieferers liegt mit 22 Prozent weit unter dem Branchendurchschnitt. Was allerdings nicht heißt, dass Trillsam nicht dadurch auch noch Neues über seine SAP-Anwendungslandschaft lernen kann. "Wir haben durch die Analyse einige selbst entwickelte Programmteile entdeckt, die wir kaum noch nutzen. Aber sie zu beseitigen, hat zur Zeit keine Priorität", sagt Trillsam. Diese Analyse geschah mit Hilfe des Auswertungswerkzeugs KPI-Scan. Bei diesem Verfahren sammelt West Trax über Standardschnittstellen Leistungsinformationen in den SAP-Systemen der Anwender. Der Aufwand dafür beträgt weniger als 30 Minuten. Der Clou ist, dass die so gesammelten Werte über das System nicht nur zusammengefasst, sondern auch in einem Kennzahlensystem abgeglichen werden.
Auch Vorwerk setzt mittlerweile verstärkt auf Performance-Messungen, denn Stefanie Kemp hat keineswegs vor, sich vom Status Quo in Sachen Vertriebssysteme entmutigen zu lassen. Sie ist unter anderem angetreten, um das Thema SAP und Vertrieb doch noch in den Griff zu bekommen. Ein wichtiger Beitrag dazu ist die Analyse der Systemlandschaft, um zu ermitteln, welche versteckten Kostenfresser das IT-Budget besonders belasten. Bis zur endgültigen Entscheidung lässt sich Vorwerk Zeit zur gründlichen Prüfung: Erst im kommenden Jahr wird feststehen, wie die Vertriebs-IT der Zukunft aussieht. Die Umsetzung erfolgt dann in den nächsten drei Jahren.
IT-Prozesse keine Geschäftsmodelle
Im Vergleich dazu ist Paul Riedo von Swisscom in einer traumhaften Situation: Sein Arbeitgeber strukturiert gerade um, wobei sämtliche Telefonaktivitäten des Unternehmen bei der Swisscom Schweiz gebündelt werden. Und die bekommt ein komplett neues SAP-System. "Greenfield Approach" nennt Riedo diesen Vorgang zärtlich, weil dabei quasi naturbelassenes Grünland mit ganz neuen Kulturpflanzen versehen wird. Glücklich ist Riedo darüber vor allem deshalb, weil die Analyse der vorhandenen SAP-Systeme durch West Trax eine Fülle ungenutzter Eigenentwicklungen ans Tageslicht gefördert hatte. "Der Standardisierungsgrad", gesteht Riedo, "ist bei uns bisher eigentlich gering."
Ursache der zu vielen Eigenentwicklungen ist - bei der Swisscom und anderswo - seiner Meinung nach ein grundsätzlicher Irrtum. Paul Riedo: "Viele betriebswirtschaftlich orientierte Entscheider sagen: Wenn wir alles standardisiert haben, dann unterscheiden wir uns ja nicht mehr vom Wettbewerb. Deshalb wollen sie alles ganz individuell haben. Der Prozess wird betriebswirtschaftlich designt, und dann sollen die Tools ihn optimal abbilden. Die Prozesse können aber nicht das Geschäftsmodell sein."
Oder vielleicht doch, jedenfalls das von SAP. Der Software-Riese aus Walldorf lebt prächtig davon, dass seine Kunden erst Standard-Software kaufen und sie anschließend bis zur Unkenntlichkeit umbauen. Vor allem der Wechsel von einem Release auf das Nächste wird zum Trauma, wenn die SAP-Landschaft zerklüftet ist wie die Rückseite des Mondes. Nicht wenige Unternehmen versuchen deshalb das Upgrade so lange wie möglich hinauszuzögern. Was die SAPler zu verhindern suchen. Helmuth Gümbel, Managing Partner und SAP-Experte bei der Unternehmensberatung Strategy Partners aus dem Schweizerischen Scuol: "Das läuft dann so, dass der IT-Chef zum Vorstand sagt: Wir müssen upgraden. Fragt der: Warum das? Läuft doch alles super. IT-Chef: Aber SAP stellt die Wartung ein. Vorstand: Kann man die nicht verlängern? IT-Chef: Doch, kostet 500.000 Euro. Vorstand: Und was kosten Alternativen? IT-Chef: Sechs Millionen. Also wird natürlich geupgradet."
Vor einigen Jahren, als es in den Unternehmen noch nicht 150 Controlling-Tools gab, konnten IT-ler mit Mut bei den Upgrades wenigstens das System entschlacken. Helmuth Gümbel: "Ich habe CIOs schon dazu geraten, einfach alle Reports, die sie für unwichtig oder überflüssig halten, in den Wochen vor dem Upgrade verspätet oder voller Fehler auszuliefern. Wenn sich niemand beschwert, kann man sich die Migration dieser Elemente getrost sparen."
Benchmarken Sie Ihre SAP-Systeme mit dem CIO KPI-Analyzer.