Anwender verstehen SAP-Strategie nicht

SAP sucht Anschluss im CX-Geschäft

07.11.2023 von Martin Bayer
Nach den Unruhen in SAPs CX-Sparte versuchen die Anwender zu verstehen, wie die Zukunft ihres Kundenmanagements aussehen könnte. Mit SAP, oder vielleicht auch ohne?
Was hat SAP in Sachen CRM vor? Das ist für viele Kunden derzeit nicht einfach zu verstehen.
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Welche Rolle spielen CRM und Kunden-Management noch in der SAP-Strategie? Das fragen sich momentan viele Kunden. Nach diversen Umstrukturierungen Anfang des Jahres und Gerüchten, SAP könnte sich ganz aus dem Geschäft mit Lösungen für das Customer Experience (CX) Management zurückziehen, tun sich SAP-Anwender schwer, die diesbezügliche Strategie ihres Softwarelieferanten zu verstehen. Das hat eine Umfrage der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG) vom Sommer 2023 ergeben.

Christian Klein, CEO und Vorstandssprecher von SAP, hatte in den vergangenen Monaten immer wieder durchblicken lassen, sich auf das Kerngeschäft rund um Enterprise Resource Planning (ERP) und die neue Produktgeneration S/4HANA konzentrieren zu wollen. CRM und CX spielten nur noch eine Nebenrolle. Viele Kunden begannen sich zu fragen, ob die entsprechenden SAP-Lösungen überhaupt noch eine Zukunft haben.

Dabei klangen die Töne aus Walldorf vor einigen Jahren noch ganz anders. Im Sommer 2018 kündigte der damalige SAP-Chef Bill McDermott eine breit angelegte Offensive gegen Salesforce im CRM-Geschäft an. "Wir werden den Markt neu definieren", sagte der für seine markigen Sprüche bekannte US-Manager. Außer den Parolen ist davon nicht viel übriggeblieben. Nachdem sich der erst 2019 von Salesforce geholte CRM-Guru Bob Stutz 2021 in den Ruhestand verabschiedete, verpufften SAPs Ambitionen vollends.

SAP hat CRM-Anschluss verloren

Seine führende Rolle im weltweiten CRM-Geschäft hat SAP längst verloren. 2011 waren die Walldorfer laut Gartner noch globaler Marktführer mit einem Anteil von fast 20 Prozent, danach verlor der deutsche Softwarekonzern kontinuierlich an Boden. Den Markt dominieren heute andere - ganz vorne Salesforce, gefolgt von Adobe und Oracle. Das hat eine Untersuchung von Gartner im Mai 2023 ergeben.

diese Anbieter wissen offenbar, was sie tun, verspricht das CRM-Business doch traditionell gute Geschäfte. Den Gartner-Analysten zufolge beliefen sich Die globalen Umsätze in diesem Softwaresegment im vergangenen Jahr auf 96 Milliarden Dollar, ein Plus von 14 Prozent im Vergleich zum vorangegangenen Jahr. Damit machten Lösungen für das Kundenmanagement fast 12 Prozent des gesamten weltweiten Softwaregeschäfts aus. Das Segment wuchs 2022 zudem schneller als der Softwaremarkt, der insgesamt um 10,7 Prozent zulegte.

Doch SAP tut sich schwer mit dem CX-Thema, ein roter Faden in der Produktstrategie ist kaum zu erkennen. Nachdem Salesforce vor über zehn Jahren an die Spitze des Marktes gestürmt war und die Pole Position seitdem auch nicht mehr abgegeben hat, reagierte SAP in erster Linie mit Zukäufen, die das hauseigene On-premises-CRM ergänzen und konkurrenzfähiger machen sollten.

Zukäufe sollten SAPs CRM-Strategie neuen Schwung geben

2013 wurde für 1,5 Milliarden Dollar Hybris übernommen, ein Anbieter von E-Commerce-Lösungen. Es folgten 2017 Gigya (350 Millionen Dollar) für das Customer Identity Management, 2018 Callidus Cloud (2,4 Milliarden Dollar) mit einem Sales Performance Management Tool sowie der Experience-Management-Spezialist Qualtrics für acht Milliarden Dollar und zuletzt 2020 mit der österreichischen Emarsys ein Anbieter von Lösungen für das Omnichannel Marketing.

Aus den eigenen CRM-Funktionen und Zukäufen schnürte SAP verschiedene Cloud-Pakete, die mittlerweile in diversen Versionen vorliegen. Es gibt eine Sales Cloud, eine Service Cloud und eine Commerce Cloud. Für das Digital Marketing baut SAP auf die zugekaufte Emarsys-Lösung. Übergreifend offeriert SAP seine Customer Data Platform (CDP) sowie ein Customer Identity and Access Management, das im Wesentlichen auf der zugekauften Gigya-Software basiert. Über die verschiedenen Angebote hinweg spannte SAP 2018 einen Schirm: die Suite C/4HANA - in Anlehnung an die neue ERP-Generation S/4HANA, die das Softwarehaus 2015 vorgestellt hatte.

Heute ist C/4HANA bei SAP kein Thema mehr. In Walldorf fasst man die unterschiedlichen Lösungen unter dem allgemeinen Label CX zusammen. Insgesamt blieb es in den vergangenen Jahren still um das Thema Kunden-Management. Im Rampenlicht stand klar S/4HANA und der immer stärker werdende Sog in Richtung Cloud.

SAP verheiratet CX mit den Industries

Anfang 2023 kündigte SAP eine Reorganisation der internen Strukturen an, um das Thema CX neu auszurichten. Die Bereiche CX und Industries sollten zusammengelegt werden. Das Ziel der SAP-Verantwortlichen: Sich stärker auf bestimmte Zielbranchen auszurichten und entsprechend branchenfokussierte CX-Lösungen anzubieten. Geleitet wird der Bereich von Ritu Bhargava, die SAP 2021 als Stutz-Nachfolgerin von Salesforce abgeworben hatte. Bhargava fungierte zunächst als Chief Product Officer für den CX-Bereich, heute ist die Managerin President und Chief Product Officer für die Sparte Industries & CX/CRM bei SAP.

Die Konzentration SAPs auf das Kerngeschäft rund um ERP und S/4HANA sorgt in Reihen der Anwender für Irritationen. Was passiert, wenn wesentliche IT-Prozesse des Kundenmanagements nicht mehr in der gleichen Geschwindigkeit entwickelt werden wie das ERP, fragten sich die DSAG-Mitglieder Anfang Februar dieses Jahres. "Was bedeutet es für den Lead-to-Cash-Prozess, der zu den Kernprozessen gezählt wurde, wenn wesentliche Komponenten aus dem CX-Portfolio wie angekündigt an Priorität verlieren?"

Eigentlich sollten die Kunden im Rahmen ihrer IT-Investitionen auf ein verlässliches SAP-Portfolio vertrauen können, sagte Jens Hungershausen, Vorstandsvorsitzender der DSAG. Doch die herrschende Dynamik des Portfolios fordere Anwenderunternehmen und Partner heraus.
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Grundsätzlich habe man zwar Verständnis dafür, wenn vereinzelt Features oder Funktionen im Umfang verändert oder aus der Roadmap entfernt würden. Kunden könnten jedoch erwarten, dass SAP eindeutige Meilensteine für seine Entwicklungs-Roadmap vorgebe. "Hier braucht es Verlässlichkeit statt weiterer Risiken", hieß es in einer DSAG-Mitteilung. Doch wenn wesentliche Komponenten des Produktportfolios entgegen der bisherigen öffentlichen Kommunikation zurückgefahren würden, stelle das SAP als grundsätzlich vertrauensvollen Anbieter in Frage.

Viele Anwender verstehen SAPs CX-Strategie nicht

Diese Ansage bezieht sich vor allem auf den CX-Bereich. Von Mitte Juni bis Ende Juli hat die DSAG 113 Mitgliedsunternehmen aus verschiedenen DSAG-Arbeitskreisen zu ihren Einschätzungen zum Thema SAP CX befragt. Die Ergebnisse sind wenig schmeichelhaft für SAP und machen deutlich, dass es an dieser Stelle Klärungsbedarf gibt.

35 Prozent der Unternehmen erklärten, noch nichts von den Änderungen in SAPs CX-Strategie gehört zu haben. Doch selbst wenn die Neuausrichtung bekannt ist, heißt das in etlichen Fällen nicht viel. Gerade einmal ein gutes Drittel der Befragten glaubt beurteilen zu können, was die neue strategische Ausrichtung SAPs in Sachen CX für den eigenen Betrieb bedeutet.

DSAG-Fachvorstand Thomas Henzler spricht von einer "gewissen Dynamik" in der SAPs CX-Bereich. Das mache es nicht einfacher, die dahinter steckende Strategie zu verstehen.
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DSAG-Fachvorstand Thomas Henzler spricht von einer "gewissen Dynamik", die nach wie vor in SAPs CX-Bereich herrsche. Nachdem zunächst der Eindruck entstanden sei, SAP reduziere sein Engagement, versuche der Konzern nun, dies zu revidieren. Zumindest die ersten Produkteindrücke wiesen Henzler zufolge in die richtige Richtung.

Migrationsszenarien bleiben unklar

Aus Sicht des DSAG-Vertreters gibt es jedoch noch jede Menge offene Fragen. Beispielsweise sei nicht klar, wie die Zukunft der verschieden Versionen V1 und V2 der Sales und Service Cloud aussähen. Diese Frage dürfte vor allem Kunden umtreiben, die sich aufgrund des nahenden Wartungsendes für ihre SAP-CRM-On-Premises-Lösung nach einer Nachfolgelösung umsehen. Funktional seien die Produkte der V1-Generation am weitesten ausgereift. SAPs Fokus liege jedoch klar auf den V2-Lösungen, die aber teils noch Funktionslücken aufwiesen. Es stelle sich also die Frage, ob Kunden nun noch auf die 'alte' Generation von Sales- und Service-Lösung gehen sollten oder doch lieber gleich auf die neueste Generation - mit dem damit verbundenen Risiko von Funktionslücken.

Viele Anwender können noch nicht bewerten, was SAPs neue CX-Strategie für ihr Unternehmen bedeutet.
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Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Henzler zufolge gibt es derzeit keine Migrations-Tools von V1 auf V2. Diese sollen offenbar erst in den nächsten Monaten herauskommen. Hinzu komme, dass es sich bei V1 und V2 um völlig unterschiedliche Technologien handle. "Hier sind keine einfachen Lift-and-shift-Migrationen möglich", sagt der DSAG-Mann.

Auch die Nutzer von SAPs Marketing Cloud brauchen einen Plan, wie sie weitermachen wollen. Der Softwarekonzern hat seine Lösung abgekündigt und empfiehlt den Umstieg auf die mit der Akquisition von Emarsys zugekauften Lösung. Das Problem: Emarsys hat seine Stärken im B2C-Marketing. Das will nicht so recht zum neuen Industry-Fokus SAPs in Sachen CX passen.

SAP-Kunden könnten auf andere Anbieter umschwenken

Angesichts der offenen Migrationsfragen könnte es passieren, dass SAP Kunden verliert. Rund jeder zehnte Marketing-Cloud- und CRM-on-premises-Anwender gab im Rahmen der DSAG-Umfrage an, zu einem anderen Softwareanbieter wechseln zu wollen. Etwa ein Drittel hat sich noch nicht entschieden, ob sie SAP treu bleiben wollen oder von der Fahne gehen.

Auch die Kosten dürften eine wichtige Rolle spielen. DSAG-Fachvorstand Henzler verweist auf die von SAP angekündigten Preiserhöhungen für die Cloud-Lösungen in Höhe von 3,3 Prozent jährlich. Außerdem müssten die Anwender angesichts unterschiedlicher funktionaler Umfänge der Cloud-Dienste damit rechnen, zusätzliche Lösungen einsetzen zu müssen, beispielsweise die Customer Data Platform als zentralen Integrationspunkt für den Austausch von Kundendaten zwischen S/4HANA und der Sales und Service Cloud V2. Henzlers Prognose: "Es ist nicht unwahrscheinlich, dass aus einer Total-Cost-of-Ownership-Betrachtung die Kosten für CX-Landschaften steigen werden."

Aus Sicht der Anwendervertreter gibt es also noch viel Klärungsbedarf seitens SAP. Momentan informiere der Anbieter zwar, werde aber zu wenig verbindlich, kritisiert Henzler. "Das lässt Raum für Spekulationen." SAP habe in der Vergangenheit im Bereich Marketing und Vertrieb schon öfter Dinge angekündigt, dann aber nicht geliefert. Dementsprechend verständlich sei die Skepsis der Anwenderunternehmen.

SAP soll klare und verlässliche Wege aufzeigen

"Umso wichtiger ist es nun, dass SAP den Kunden klare Wege aufzeigt von den bisherigen CX-Lösungen in die neue CX-Welt sowie entsprechende Rahmenbedingungen festlegt", fordert Henzler. "Denn sollte der Aufwand vergleichbar mit dem einer Implementierung eines Drittherstellers sein, werden einige Kunden das Thema CX noch einmal ganzheitlicher betrachten."

SAP arbeitet derweil an ganz anderen Stellen, um sein CX-Portfolio für Kunden attraktiver zu machen. Der Softwarekonzern hat neue Funktionen für generative KI in seinem CX-Portfolio angekündigt. Dazu gehört auch der erst kürzlich vorgestellt Assistenz-Bot "Joule". Die neuen KI-Funktionen sollen SAP zufolge auf operativen Daten in den eigenen Systemen sowie auf Daten aus Quellen von Drittanbietern zurückgreifen können. Damit erhielten Unternehmen eine ganzheitliche Sicht auf ihre Kunden, verspricht der Anbieter.

Ritu Bhargava, President und Chief Product Officer für die Sparte Industries & CX/CRM bei SAP, verspricht den Kunden intelligentere CX-Lösungen von SAP.
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"Um Kunden in den Mittelpunkt einer Unternehmenstransformation stellen zu können, bedarf es eines starken, personalisierten Kundenerlebnisses mit intelligenten CX-Lösungen", sagte SAPs Industries- und CX-Verantwortliche Bhargava. Diese neuen KI-Funktionen im SAP-CX-Portfolio versetzten Unternehmen in die Lage, Kunden enger zu binden und ihre Marktposition auszubauen.

SAP tunt sein CRM mit künstlicher Intelligenz

Zu den neuen KI-Funktionen zählen unter anderem rollenbasierte CX-Tools, die durch automatisierte Routineaufgaben die Produktivität und Effizienz erhöhen sollen. Für das Serviceteam könne KI beispielsweise im Falle eines Kundenproblems die Situation zusammenfassen, einen Überblick über die Kundenstimmung geben, eine Lösung vorschlagen und nachverfolgen, wie schnell das Problem gelöst wird. Commerce Manager könnten sicherstellen, dass Produkte gut sichtbar und auffindbar sind, indem sie mit den neuen KI-Funktionen Produktkennzeichnungen und Kataloge prüfen, Produktbeschreibungen erstellen und individuell anpassen.

Generative-AI-Funktionen: SAP stellt mit Joule einen eigenen KI-Bot vor

Darüber hinaus kann KI nach SAP-Angaben helfen, in der Kommunikation mit Kunden deren Fragen zu erkennen und zu beantworten. Erhält ein Mitarbeiter im Vertrieb eine E-Mail von einem Kunden, der eine Frage zu Produkten hat, liest die neue Funktion Intelligent Q&A die E-Mail, hebt die wichtigen Fragen hervor und liefert gleich noch einen Vorschlag für die Antwort, der die neuesten Produktinformationen enthält.

Ob die SAP-Kunden den KI-Vorstoß in Sachen CX goutieren, bleibt indes abzuwarten. "KI ist sicherlich eines der größten Hype-Themen des Jahres", konstatiert DSAG-Manager Henzler. Genau so groß wie der Hype, sei jedoch die Unklarheit, was KI genau bedeute. "Ob das Zusammenfassen von Kundeninteraktionen die Möglichkeiten einer KI ausschöpft und ein echter Game-Changer im CX-Markt ist, sei dahingestellt." Hier müsse noch mehr kommen - "vor allem Klarheit."