Boris Jelzin hat kurz vor seinem Tod einem Reporter seine Lebensmaxime anvertraut: "Ein Mann muss leben wie eine große, lodernde Flamme und leuchten so hell wie er kann. Am Ende brennt er aus. Aber das ist besser als eine armselige kleine Flamme zu sein."
Ausgebrannt. Burnt out. Da stellt man sich einen leistungsbereiten und erfolgreichen Lenker und Leiter vor, der für seine Sache so sehr brennt, dass er irgendwann einfach keinen Brennstoff mehr hat. Kein Wunder also, dass der Begriff Burnout, obwohl keine medizinische exakte Diagnose, so populär ist. Ausgebrannt durch Arbeit, das kommt in einer Gesellschaft, die nur noch Leistung als zentrales Kriterium für Status akzeptiert, als Grund für einen seelischen Zusammenbruch besser an als eine medizinisch exakt diagnostizierbare Depression.
Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Leipzig, vermutet, dass 80 Prozent der angeblich Ausgebrannten an einer Depression leiden. Aber depressiv, zu Deutsch "niedergedrückt", ist ein Opfer. Oder in Jelzins Worten: Eine armselige kleine Flamme. Das will man nicht sein. Dann schon lieber völlig ausgebrannt, wie ein Macher.
Doch der Burnout als Krankheit der Macher und Manager ist eine Legende.
Die Realität der arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen ist eine andere. Durch Arbeit krank werden nicht so sehr die Führer als vielmehr die Geführten. Genauer gesagt die schlecht Geführten. Nicht die Arbeitslast allein, sondern vor allem die Unfreiheit beim Arbeiten macht krank.
Es ist der fremdbestimmte, oder sich zumindest so fühlende Untergebene, der unter der Arbeit so leidet, dass er davon krank wird. Nicht der selbstbestimmt arbeitende, vielleicht etwas übereifrige Entscheider. Wenn wir von einer psychischen Volkskrankheit durch Arbeit sprechen wollen, die in den Gesundheitsreports der Krankenkassen deutlich erkennbar ist, dann sollten wir also das Bild des von seiner Verantwortung und schieren Arbeitsmenge belasteten Chefs austauschen gegen das Bild des von unpassenden Arbeitsbedingungen, einengenden Vorgaben und überzogenen Erwartungen drangsalierten Untergebenen.
Fehlende Freiheit macht krank
Das bekannteste Modell zur Erklärung von Arbeitsstress und dadurch bedingten psychischen Störungen stammt von dem Soziologen Robert Karasek: Die Gefahr liegt nicht allein in hohen Arbeitsanforderungen und auch nicht nur im fehlendem Handlungsspielraum, sondern sie steigt bei einer Kombination von beidem.
Andreas Seidler, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin an der Technischen Universität Dresden, hat in einem internationalen Kooperationsprojekt über 4.000 Studien zu seelischen Krankheiten und Arbeitsbedingungen gesichtet: "Die Ergebnisse unserer systematischen Auswertung zeigen eine klaren Zusammenhang zwischen den psychosozialen Arbeitsbedingungen und dem Ausbruch von Burnout, depressiven Beschwerden bis hin zu einer schweren Depression."
Und es zeigte sich, dass entsprechend dem Karasek-Modell insbesondere die Kombination von hohen Arbeitsanforderungen und niedrigem Tätigkeitsspielraum die mentale Gesundheit gefährdet. Aber Seidler und Kollegen konnten in der Meta-Analyse auch einen statistischen Zusammenhang für beide Komponenten finden, getrennt voneinander. "Ich würde also nicht sagen, dass die Anforderungen unendlich hoch sein können, ohne dass das zu psychischen Erkrankungen führt, wenn nur genug Handlungsspielraum vorhanden ist", sagt Seidler. "Wir haben festgestellt, dass hohe Arbeitsanforderungen ebenso wie geringer Tätigkeitsspielraum das Risiko einer Depression um jeweils 20 Prozent oder mehr steigern."
Die Psychologin Beate Schulze, Leiterin "Kernkompetenz Stressmanagement" an der Universität Zürich und Vizepräsidentin des Schweizer Expertennetzwerks für Burnout, hat in eigenen Studien ähnliches festgestellt. Wenn die Balance zwischen Arbeitsbelastung, Gestaltungsspielraum und Belohnungen nicht stimmt, ist die mentale Gesundheit der Arbeitnehmer gefährdet. Wenn dieser so genannte Person-Environment-Fit nicht stimmt, also die Menschen sich bei ihrer Arbeit fehl am Platz fühlen, leiden sie eher an psychischen Störungen.
Vorbeugung lohnt sich
Wenn schon nicht der gesunde Menschenverstand oder das Verantwortungsgefühl die Vorgesetzten für das psychische Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter sensibilisiert, dann können es vielleicht ganz handfeste Zahlen: In einer Umfrage mit 1.400 Angestellten eines Telekommunikationskonzerns konnte Schulze feststellen, dass es in der Abteilung mit dem besten Person-Environment-Fit im Jahr der Untersuchung keinen einzigen Krankheitsfall gab und die Fluktuationsrate unter den Mitarbeitern gleich null war.
Arbeitgeber tun also nicht nur ihren Beschäftigten etwas Gutes, wenn sie psychischen Erkrankungen vorbeugen, sondern auch ihrer eigenen Bilanz: "Studien belegen einen Return on Investment für die betriebliche Gesundheitsförderung zwischen drei und fünf Euro pro investiertem Euro", sagt Nicole Scheibner, Psychologin und Geschäftsführerin der Beratungsfirma StatEval. Und da sind noch nicht einmal die indirekten Effekte einer betrieblichen Gesundheitsförderung einbezogen: Die Identifikation der Beschäftigten mit dem Arbeitgeber steigt, das Betriebsklima verbessert sich. Und das bedeutet, dass die Mitarbeiter eben nicht innerlich und schon gar nicht tatsächlich kündigen, sondern sich stärker engagieren.
Was kann der Chef konkret tun, um für die psychische Gesundheit seiner Untergebenen zu sorgen? Beate Schulze: "Das erste ist: Lerne deine Mitarbeiter gut kennen. Interessiere dich für sie - nicht nur für ihre Arbeitsergebnisse. Damit hat man schon eine wichtige Information für die Führung: Wie ticken sie, was brauchen sie, was sind ihre Talente?"
Mit diesem Wissen fällt es sehr viel leichter, für einen Person-Environment-Fit bei der Arbeit zu sorgen, also den richtigen Mitarbeiter an der richtigen Stelle einzusetzen, so dass die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Werte des Mitarbeiters im Einklang mit den Möglichkeiten und Anforderungen des Jobs und den in der Organisation gelebten Werten stehen.
Generell sollte jeder Personalverantwortliche seinen Mitarbeitern so viel Handlungsspielraum zugestehen, wie sie brauchen. Schulze: "Die Stressforschung hat gezeigt, dass sich ein optimaler Handlungsspielraum positiv auswirkt. Für viele Menschen besteht dieser zwar in der Stellenbeschreibung. Im Alltag befindet man sich jedoch häufig in einer komplexen Entscheidungs-und Bewertungskonstellation. Dadurch kann sich ein Gefühl der Fremdbestimmtheit entwickeln, dem es entgegen zu wirken gilt."
Auf Wertschätzung kommt es an
Immer wichtiger werde in der modernen Arbeitswelt die Wertschätzung, die jeder Mitarbeiter von Vorgesetzten erfährt, glaubt Schulze. Das liege daran, dass mancher nicht überblicken kann, was seine Tätigkeit zu dem Ergebnis beiträgt, an dem er nachher gemessen wird. "Dabei kommt es auf die Form der Anerkennung an", sagt Schulze. "Eine ritualisierte Kommunikation, also etwa eine überschwängliche Rede auf der Weihnachtsfeier, bringt nicht viel, wenn es vorher im Alltag an konkreten Rückmeldungen gefehlt hat, die zeitnah das individuelle Engagement würdigen."
Und schließlich sollten Kollegen und Vorgesetzte vorbeugend aufmerksam sein, Frühwarnzeichen psychischer Belastungen wahrnehmen und ansprechen, bevor der Krankenschein auf dem Schreibtisch landet. Eines der wichtigsten Frühwarnzeichen wird oft übersehen, warnt Schulze: "Zu Beginn eines Burnouts steigern die Betroffenen ihr Engagement. Sie merken, dass sie an eine Grenze kommen, wollen es aber der Umwelt nicht zeigen." Ein anderes Indiz ist, wenn Mitarbeiter stiller werden, sich zurückziehen, in Ruhe gelassen werden wollen. Dann sollte man das Gespräch suchen - und zwar ohne Vorwürfe.
Die Forderung von Andreas Seidler, psychische Belastungen am Arbeitsplatz konsequent erfassen und beurteilen zu lassen, so wie so wie es für Gefahrstoffe ja schon seit Längerem gesetzlich vorgeschrieben ist, sollte für Unternehmen, die als Arbeitgeber eine Zukunft haben wollen, keine Drohung sein.
Quelle: Wirtschaftswoche