CIO.de: Flexibilität und Speed sind in Zeiten des digitalen Wandels entscheidende Fähigkeiten. Worauf kommt es an, damit ein Industriegigant wie Siemens schnell und wandlungsfähig wird?
Ludwig: Bei Siemens gilt das Motto Speed over Synergy. Wir verzichten bewusst auf den einen oder anderen Skalen- oder Synergie-Effekt, wenn wir dadurch schneller werden. Wir haben zum 1. April konzernweit eine neue IT-Organisation eingeführt, um die digitale Transformation der einzelnen Bereiche zu beschleunigen und die Kunden- wie auch Anwenderzufriedenheit zu erhöhen. Im Zuge dieses Umbaus wurden rund 60 Prozent der IT-Mitarbeiter wieder direkt in den Geschäftsbereichen angesiedelt. Außerdem haben wir über die gesamte IT-Organisation - also sowohl in den Companies als auch in der zentralen IT - agile Strukturen eingeführt.
CIO.de: Wie sieht die neue Struktur konkret aus?
Ludwig: Wir haben sogenannte Value Centers geschaffen, die sich zusammensetzen aus "Chaptern", in denen wir einen Pool von Kompetenzen haben, und "Service Lines" mit End-to-End-Verantwortung. Letztere können sich je nach Bedarf aus den Chaptern mit den Ressourcen bedienen, die sie brauchen. Die Value Center werden von Kollegen geleitet, die als eine Art CEO agieren. Sie sind voll verantwortlich, zum Beispiel dafür, dass der Austausch von Daten oder die Kommunikation so funktioniert, als wenn sie ihr eigenes Geschäft betreiben würden. Wir haben das über 18 Monate schrittweise eingeführt. Die Menschen haben das gut angenommen und umgesetzt.
CIO.de: Arbeiten alle IT-Mitarbeiter von Siemens in solchen Value Centers und Chaptern?
Ludwig: Ja, wir haben sowohl die IT-Mitarbeiter, die ins Business verlagert wurden, als auch die in der zentralen IT in Value-Center-Strukturen organisiert. Im zentralen IT-Bereich geht es im Wesentlichen um die technische Basis, zum Beispiel die Kommunikationsplattform, die für das gesamte Unternehmen zuständig ist. Auch das "Software Defined Network", das wir gerade einführen, wird für die ganze Company umgesetzt.
30 Prozent der Hierarchiestufen eingespart
CIO.de: Mit anderen Worten: Sie haben ihre gesamte IT-Organisation in eigenverantwortlichen Building-Blocks mit unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung und vermutlich auch divergierender Lebensdauer organisiert?
Ludwig: Genau. Dabei kommen wir mit wenig Hierarchie aus: Wir haben 30 Prozent der Hierarchiestufen rausgenommen. Beispielsweise haben wir eine Einheit, die sich um die große Softwareplattform kümmert, und die Interaktion zwischen allen Anwendungen absichert. Eine andere kümmert sich um Infrastrukturthemen. Und jetzt rede ich nur von der zentralen IT. Es gibt noch eine Abteilung, die sich um Strategie und Innovationsthemen kümmert. Parallel dazu gibt es eine Regionen-Betreuung. Die Vorortunterstützung in den verschiedenen Ländern mit den verschiedenen Sprachen und Kulturen hat ihre eigene Dynamik.
CIO.de: Wie kommunizieren die Value Centers untereinander?
Ludwig: Wenn ich dort einen Quasi-CEO mit voller Verantwortung einsetze, dann übergebe ich die Interaktion mit anderen Value Centers und Geschäftsbereichen in seine Verantwortung. Das gehört zu den elementaren Aufgaben.
CIO.de: Wir groß ist das Risiko, dass in den Value Centers Ressourcen und Skills redundant aufgebaut werden und dass die Mitarbeiter Aufgaben übernehmen, von denen sie eigentlich die Finger lassen sollten?
Ludwig: Diese Sorge habe ich überhaupt nicht. Der Marktdruck ist so hoch, dass sich Ineffizienzen nicht halten werden. Schwieriger wäre es, wenn ein Value Center die vom Business geforderte Leistung nicht bringen würde. Mit der Ende-zu-Ende-Verantwortung ist eine klare Verpflichtung verbunden die Leistung so zu erbringen, wie sie das Business braucht.
Eigenverantwortung ist wichtiger als Kontrolle
CIO.de: Gibt es eine Controlling-Instanz, die das prüft?
Ludwig: Die Frage ist doch: Wieviel Controlling braucht man überhaupt? Wir haben, wie gesagt, eine Einheit, die für Innovation und Strategie verantwortlich ist. Die hat auch eine Governance-Rolle, die aber nicht im Vordergrund steht. In dem Moment, wo man die Governance-Karte zieht, braucht man einen richtig guten Grund, zum Beispiel ein Cybersecurity-Thema. Da gilt es, eine einheitliche Umsetzung sicherzustellen - je nach Bedrohungslage gegebenenfalls auch mit sehr hoher Geschwindigkeit.
Ansonsten ist Governance vor allem wichtig, um die Kosten zu beherrschen und eine hohe Kundenzufriedenheit zu gewährleisten. Wir messen für alle wichtigen Services jeden Monat die User Satisfaction anhand von 2000 Usern pro Service, die wir befragen. Damit wissen wir immer aktuell: Wie wird der Service empfunden? Das ist für mich eines der wesentlichen Steuerungskriterien. Ich sehe sofort: Gibt es irgendein Feedback aus dem User-Kreis, das darauf hindeutet: Hier wird ein Service schlecht oder gar nicht erfüllt. Sekundär ist dagegen Controlling, um zu prüfen, ob irgendwo im Unternehmen Redundanzen entstehen.
CIO.de: Hat Siemens mit der Reorganisation der IT das Ziel verfolgt, die IT näher ans Business heranzuführen?
Ludwig: Als ich vor zweieinhalb Jahren die Verantwortung als Konzern-CIO übernommen habe, habe ich erst einmal Gespräche mit den CEOs von allen Geschäftsbereichen geführt. Ich wollte wissen, welche großen Herausforderungen sie in ihren Geschäften sehen. Es zeigte sich, dass in jedem Geschäft der Weg zur Digitalisierung führt. Das ist das zentrale Thema, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Geschwindigkeit.
Auf dem Shopfloor sind wir schon tief in die Digitalisierung eingetaucht, im Gasturbinengeschäft gewinnt durch die Sensorik an den Turbinen die Digitalisierung an Gewicht. Sie ermöglicht es, das Angebot um kundenorientierte Serviceprodukte zu erweitern. Am Ende werden alle Geschäfte digital unterstützt sein.
CIO.de: Welche Rolle wird dabei die IT-Organisation spielen?
Ludwig: Darüber haben wir intensiv nachgedacht und fünf relevante Technologietrends identifiziert. Dazu gehört allen voran der Digital Twin: Wir wollen für all unsere Produkte in der Herstellung und im Einsatz beim Kunden ein virtuelles Abbild haben. Ein anderes Kernthema ist die Flexibilisierung der Fertigung bis hin zum Additive Manufacturing von Gasturbinen. Ein Teil der Gasturbinen wird heute schon im 3D-Druck produziert, nicht nur wegen der Flexibilität, sondern auch weil wir damit ganz andere Strukturen in den Turbinenschaufeln selbst erreichen können.
Wir haben also die Trends, die für all unsere Geschäfte relevant sind, identifiziert. Und dann haben die IT-Organisation und das jeweilige Business - anwesend war immer dessen CEO - die laufenden IT-Innovationsprojekte analysiert und neu gewichtet. So bekamen wir Budget frei, um Themen aufzugreifen, mit denen wir die Geschäfte besser unterstützen können.
Zu den fünf Trends gehört auch die viel stärkere Informationsverfügbarkeit für Kunden. Wir sagen: "Customer is in the center", damit meinen wir, dass wir eine ganz andere Interaktion mit dem Kunden haben. Sie sind besser informiert und haben andere Erwartungen an Geschwindigkeit. So haben wir beispielsweise mit der Power Generation ein System entwickelt, mit dem wir besonders schnell ein erstes Angebot abgeben können, das schon relativ genau ist. Das ist so ein typisches Speedboat, das wir aus diesen Aktivitäten entwickelt haben.
Mit der Reorganisation haben wir IT und Business ganz eng verzahnt in agilen Projekten, die in sechs- oder acht-Wochen-Sprints immer wieder neue Ergebnisse generieren. Dann entscheiden wir jedes Mal zusammen: Machen wir weiter oder nicht? Da kann es durchaus sein, dass wir merken: Ein Projekt war zu ambitioniert, jetzt stoppen wir das.
42 Prozent der IT-Projekte sind schon agil
CIO.de: Welche Bedeutung haben agile Methoden für die Siemens-IT?
Ludwig: Momentan sind 42 Prozent der Projekte, die wir in der IT abwickeln, agil, und es werden immer mehr. Ich habe eigentlich immer gedacht, das geht nur für Applikationen, nicht für die Plattformentwicklung. Aber auch diese Teams sind in der Lage agil zu arbeiten. Die kurzen Feedback-Loops an Kunden und Nutzer, der Design-Thinking-Ansatz in Produkten, das kurzfristige Reagieren auf veränderte Anforderungen - wenn das richtig eingesunken ist erreichen wir ganz neue Geschwindigkeiten bei der Umsetzung der IT Projekte.
Agile Projekte setzen aber immer auch Kunden voraus, die Kompetenz und Bereitschaft mitbringen, schnell Entscheidungen zu treffen. Da muss immer jemand sagen: So wollen wir's, so nicht. Agil funktioniert nie auf einer Insel, nur im Zusammenspiel mit Kunden und Projektteam. Das kann ganz schön stressig werden, weil man ja ständig abliefern und Ergebnisse zeigen muss. Man braucht Menschen, die die mentalen Voraussetzungen dafür mitbringen.
CIO.de: Betreibt Siemens auch Innovation Labs?
Ludwig: Wir haben bereits vor 25 Jahren mit Themen gestartet, die man heute Innovation Lab nennen würde. Wir hatten Technology-to-Business-Units, zuerst in Berkeley, dann in Shanghai, nachher auch in München, wo wir mit Universitäten und Startups eng zusammenarbeiteten. Mitarbeiter in diesen Einheiten hatten ihre Arbeitszeit dreigeteilt. Ein Drittel waren sie als Scouts im Startup- oder Uni-Umfeld unterwegs, ein Drittel waren sie mit der Interaktion mit den Entwicklungseinheiten im Konzern beschäftigt und ein Drittel der Zeit verbrachten sie damit, beide Welten zusammenzubringen.
Den Erfolg haben wir daran gemessen, wie viel Transfer es aus Startup- oder Uni-Initiativen in das Geschäft hinein gab. So konnten wir zum Beispiel eine Wireless-Technologie aus Berkeley im Factory-Umfeld nutzen, die sonst noch nie eingesetzt worden war. Damit wurde Wireless so sicher wie Wire. In unserem eigenen Entwicklungsumfeld allein wäre das nicht entstanden.
CIO.de: Welche Rolle spielt die Konzerntochter next47?
Ludwig: Mit der Gründung dieser Einheit im Jahr 2016 haben wir die Zusammenarbeit mit Startups nochmal auf eine höhere Ebene gehoben. Sie ist mit einer Milliarde Euro sehr gut ausgestattet und soll Partnerschaften mit jungen Unternehmen initiieren. Siemens ist attraktiv für Startups, nicht wegen des Geldes, dass wir investieren, sondern wegen unserer Ressourcen als Großunternehmen, wegen des Namens und der Kundenkontakte. Die Startups können ihre Angebote auch mal bei uns testen und herausfinden: Wie funktionieren die Produkte im Großkonzern?
Dadurch sind schon viele gute Ideen in den Konzern gekommen, auch wenn das natürlich keine Entwicklungsabteilung ersetzt. Es ist eher eine Symbiose zwischen traditioneller Entwicklung und Ideen, die aus einem Open-Innovation-Umfeld kommen.
Siemens-IT steht im Wettbewerb
CIO.de: Siemens hat die Gesundheitssparte ausgegründet und will das auch mit dem Kraftwerksbereich tun. Was bedeutet das für die zentrale Siemens-IT?
Ludwig: Siemens Healthineers bekommt auch heute noch viele Leistungen zentral von Siemens, mit ganz klar definierten vertraglichen Gestaltungen natürlich. Das ist ein selbständiges, börsennotiertes Unternehmen, an dem Siemens 85 Prozent hält. Unsere zentralen IT-Einheiten müssen ihre Leistungen so erbringen, dass die Nutzer im selbständigen Konzernunternehmen sagen: Vom Preis-Leistungs-Verhältnis her kann ich das nirgendwo besser bekommen.
Siemens Healthineers kann jederzeit sagen: 'Vielen Dank, aber wir sind selbstständig und glauben, wir können das selbst besser umsetzen oder von einem anderen Partner mehr bekommen.' Die haben alle Freiheiten das zu tun - und trotzdem beziehen sie immer noch viele Leistungen, gerade die Kernsysteme, aus der Siemens AG.
CIO.de: Wie sind Sie mit diesen Kernsystemen umgegangen?
Ludwig: Wir schauen uns gerade unsere gesamte ERP-Applikationslandschaft nochmal sehr genau an. Nicht nur vor dem Hintergrund der Veränderungen im Konzern, sondern auch vor dem der Veränderungen in der Anbieterlandschaft. Es ist ja nicht ganz unbekannt, dass SAP ECC für 2025 abgekündigt hat. Insofern geht es uns wie vielen anderen Unternehmen: Wir überlegen neu.
Ein wesentliches Kriterium ist eine hohe Flexibilität, wenn es gilt, Strukturen zu verändern. Da sind wir mit den bisherigen Systemen nicht zufrieden. Wichtig wird für uns auch ein zweites Kriterium: Wie gelingt es uns die Einführung so zu gestalten, dass wir im Prinzip mit jeder Stufe sagen können: Es gibt einen Business-Vorteil, den wir nutzen können. Was wir nicht mehr machen sind Riesenprojekte über eine mehrjährige Laufzeit, bei denen wir dann ganz zum Schluss schauen, welchen Nutzen sie gebracht haben. Ganz klar: Die Einführungsstufen müssen in sich selbst jeweils schon einen klar messbaren Nutzen kreieren.
CIO.de: Ist S/4 HANA gesetzt?
Ludwig: Nein, wir schauen uns das komplett an. Da ist kein Anbieter gesetzt.
CIO.de: Welche Cloud-Strategie verfolgt Siemens?
Ludwig: Wir verfolgen eine Cloud-first-Strategie. Unsere Data Center sind schon zum großen Teil in der Cloud, teilweise Private, teilweise Public. Da setzen wir auf verschiedene Anbieter. Für die Private Cloud ist Atos einer der wichtigen Partner. In der Public Cloud arbeiten wir derzeit mit zwei Unternehmen zusammen, überlegen aber das zu erweitern. Wir haben schon einen großen Anteil unserer Systeme in der Public Cloud. Einige wenige laufen noch auf On-premise-Systemen im eigenen Data Center, wegen gesetzlicher Rahmenbedingungen, die wir einhalten müssen.
Im ERP-Bereich nutzen wir derzeit die HANA-Datenbank, da haben wir relativ frühzeitig gewechselt. Aktuell haben wir auch ein S/4-HANA-Projekt laufen, aber wie gesagt, wir schauen gerade nach Alternativen für die Zukunft und sind offen für Neues.
CIO.de: Gibt es einen bevorzugten Player, dem Sie das Multi- oder Hybrid-Cloud-Management anvertrauen wollen?
Ludwig: Ja. Aber das ist ein bisschen sensibel, dazu will ich jetzt nicht mehr sagen.
CIO.de: Ich vermute, dass Sie im Cloud-Bereich mit Amazon und Microsoft zusammenarbeiten. Wäre Google aufgrund des tiefen KI-Know-hows auch ein potenzieller Partner?
Ludwig: Absolut, der Open-Source-Ansatz insbesondere im Zusammenhang mit Tensorflow gefällt mir sehr gut. Generell arbeiten wir an vielen KI-Themen und nutzen dafür Open-Source-Produkte.
Atos ist ein strategischer Partner von mehreren
CIO.de: Siemens war viele Jahre selbst ein großer IT-Dienstleister, Namen wie Siemens Business Services oder Siemens IT-Solutions and Services (SIS) sind im deutschen Markt geläufig. Dann übernahm Atos diesen Bereich. Wie eng sind Ihre Geschäftsbeziehungen heute zu Atos?
Ludwig: Das ist einer unserer strategischen Partner, aber nur einer. Als die SIS zu Atos ging, hatten wir für einen gewissen Zeitraum feste Verträge, die Atos ein gewisses Volumen zugestanden haben. Das ist heute nicht mehr der Fall. Atos hat heute auch noch einen großen Anteil, muss sich aber in Ausschreibungen genauso bewähren wie jeder andere Anbieter.
CIO.de: Hat Siemens eine KI-Strategie oder sind entsprechende Tools einfach nur Mittel der Wahl, wenn es gilt bestimmte Probleme zu lösen?
Ludwig: Es gibt keine Top-down-Aussage, wonach Projekte einen wie auch immer gearteten KI-Anteil haben müssen. De facto kenne ich aber keine Entwicklungsabteilung bei uns im Hause, weder Produkt- und Systementwicklung noch IT oder auch Corporate Technology, wo KI keine Rolle spielt.
KI ist Standard. Wer heute im Softwarebereich unterwegs ist, beschäftigt sich damit. Ein Beispiel: Wir sind ja ein führender Anbieter im Markt für Product-Lifecycle-Management-Systeme (PLM), und Sie wissen vielleicht, dass die CAD-Tools immer umfangreicher werden. Es ist faszinierend, was man damit alles machen kann. Aber wenn Sie ein Casual User sind, wird Ihnen das irgendwann zu viel. Also haben wir eine Lösung geschaffen, die erkennt, ob wir Usern das gesamte Paket oder nur einen für sie relevanten, eher einfachen Teil anbieten können. Dann werden Vorgehensweisen, die der User oft nutzt, prominent angezeigt und sind leicht zu finden.
Wir nennen das: Learning by Observation: Was hat der Nutzer bisher im System gemacht und daraus werden spezifische Handlungsempfehlungen abgeleitet. So kann man im CAD-Bereich viel schneller mit den Tools arbeiten.
RPA ist einer der ganz großen Produktivitätshebel
CIO.de: Reden wir über Ihre Geschäftsprozesse: Welche Erfahrungen haben Sie mit Prozess-Optimierungstools und mit RPA gemacht?
Ludwig: Wir haben eine Einheit, die sich auf interne Services und Prozesse fokussiert. Die haben schnell erkannt, dass Robotic Process Automation einer der ganz großen Produktivitätshebel ist. Viele administrative Prozesse im Hintergrund, auch unsere Reisekostenabrechnungen etwa, sind längst RPA-unterstützt. Das heißt nicht, dass alles nur noch komplett automatisiert läuft. Exception Handling gibt es natürlich immer. Aber alles, was durchlaufen kann, läuft auch durch. Die IT unterstützt das mit entsprechenden Technologien. Wir wurden im letzten Jahr mit dem CIO-100-Award ausgezeichnet für unsere RPA-Strategie.
Das bezieht sich ganz konkret auf interne Abläufe. Die zentrale Einheit bietet den Komplettservice an und die IT setzt die Robotics-Unterstützung um. Wir versuchen das jetzt auf andere Prozesse auszuweiten, etwa die Software-Entwicklungsprozesse. Im administrativen Bereich sind wir aber am weitesten fortgeschritten.
CIO.de: Siemens baut seinen IT-Produktbereich immer weiter aus, etwa mit der PLM-Lösung oder der IoT-Plattform Mindsphere. Inwiefern ist der IT-Bereich hier involviert?
Ludwig: Die Verantwortung liegt klar im Produktbereich. Als die Mindsphere-Initiative so reif wurde, dass klar war, jetzt geht es darum Projekte umzusetzen, haben wir uns vor ungefähr anderthalb Jahren das Ziel gesetzt: Wir wollen innerhalb eines Jahres mindestens 50 Mindsphere-Projekte bei Siemens selbst umsetzen. Tatsächlich wurden es dann sogar 80 Projekte und die Pipeline umfasst circa 200 weitere Vorhaben. Bei der Implementierung der Mindsphere-Technologie im Hause Siemens selber war die IT stark involviert.
Ein anderes Beispiel ist unsere Low-Code-Plattform Mendix, mit der relativ ungeübte User Applikationen schreiben können - in einer einfachen Ablaufstruktur. Manche Leute reden sogar von einer Demokratisierung der IT. Das funktioniert dann gut, wenn sie festgelegt haben: Don't touch the platforms, da darf es keine Rückwirkungen geben. Die Plattform muss stabil und sicher sein. Aber wenn die Applikationen, die darauf laufen, ihren Zweck erfüllen - hervorragend! Wenn eine App, die einen überschaubaren Entwicklungsaufwand von 10.000 oder 20.000 Euro hatte und dabei einen hohen Payback erzielt hat, nach zwei Jahren abgekündigt wird, ist das nicht schlimm.
Unsere Systeme waren historisch teilweise große Monolithen, die immer wieder aktualisiert wurden und sehr viele Interfaces hatten. Wir drehen die gesamte Struktur heute stärker in Richtung standardnaher Plattformen, und da drauf laufen dann leichtgewichtige Applikationen, die flexibel angepasst werden können.
CIO.de: Gibt es Begehrlichkeiten im Haus, die ihre IT-Organisation für externe Beratungsprojekte rund um Mindsphere und Mendix heranziehen wollen?
Ludwig: Siemens hat eine Einheit geschaffen, die sich IoT nennt. Der Bedarf in der Industrie an qualifizierter Unterstützung für IoT -Lösungen ist riesig. Der Kunde braucht nicht nur die Plattform, er braucht auch Hilfe, um zu erkennen, wo die größten Effizienzpotenziale stecken und wie man's umsetzt. Unsere Einheit IoT macht genau das: Sie berät die Kunden bei der Implementierung.
Diese Unit berichtet an Roland Busch, unseren COO und CTO, genauso wie auch wir, die zentrale IT. Natürlich haben wir mit der IoT-Einheit ein enges Zusammenspiel. Wenn der externe IoT-Kunde sagt: Ich habe hier eine ERP-Welt, wie lasse ich die mit der IoT-Plattform zusammenspielen? - dann haben wir hilfreiche Kompetenzen in der IT.
Wir haben auch Kollegen, die die Mindsphere-Implementierung bei Siemens gestemmt haben. Die arbeiten heute in der IoT-Organisation.
Für eine Plattform braucht man Durchhaltevermögen
CIO.de: Haben IT-Hersteller wie SAP, Microsoft oder IBM nicht bessere Voraussetzungen als Plattformbetreiber als Siemens und Bosch?
Ludwig: Dahinter steckt ja die alte Frage, was ist wichtiger: horizontale Softwarefunktionalität oder vertikales Domänen-Know-how? Auf Themengebieten, auf den denen wir keine Marktkompetenz haben, kann ich mir vorstellen, dass Wettbewerber einen Vorteil haben. Sobald sie aber in typischen Kompetenzfeldern von Siemens sind, werden sich die Kunden bei uns wohler fühlen, weil wir ihre Prozesse verstehen.
Wichtig für uns ist eine starke Plattform, Domänen-Know-how und die Bereitschaft, in Plattform und Ecosystem zu investieren. Für eine Plattform braucht man eine gewisse Größe und Breite sowie viel Durchhaltevermögen. Kunden werden nicht auf eine Plattform setzen, bei der sie Zweifel haben, ob sie in drei Jahren noch da ist.
CIO.de: Was bedeutet Mindsphere für die Gesamtstrategie von Siemens? Definieren Sie den Bereich Automatisierungstechnik künftig als Software-Business?
Ludwig: Wir denken in der Automatisierungstechnik in drei Kategorien: Das sind die Toolsets, die den Produktlebenszyklus unterstützen. Historisch sind das eher die Tools im Mechanikbereich, CAD, PLM etc., außerdem das ganze Datenmanagement, bei uns heißt das TeamCenter. Dann haben wir gesehen, dass neben der Mechanik die Elektronik und die Software zentral werden. Deswegen haben wir 2017 Mentor Graphics akquiriert. Und schließlich haben wir uns mit Digital Twins sowohl für die Produktion als auch das Produkt selbst beschäftigt. Beides gilt es zu integrieren.
Signifikanter Mehrwert für den Kunden
Jetzt geht es darum, die Informationen über die Nutzung eines Produkts im laufenden Betrieb zu erfassen und zurück zu koppeln. Beispiel: Sie haben eine Gasturbine im Feld und Hunderte von Sensoren messen Temperatur, Geschwindigkeit, Rüttelverhalten, Geräusche und vieles mehr. Wenn man es schafft, diese ganzen Informationen in den Entwicklungsprozess zurückzuspielen, entsteht ein signifikanter Mehrwert für den Kunden. Man kann die Servicezeiten beim Kunden verlängern, das Sicherheitslevel erhöhen oder Ausfallzeiten senken.
Ich wüsste heute kein Geschäft bei Siemens wo das nicht hochrelevant wäre. Nehmen Sie Züge: Wir bieten heute zwischen Barcelona und Madrid gemeinsam mit der Bahngesellschaft Renfe an, dass Passagiere bei einer Verspätung von mehr als 15 Minuten den Preis zurückbekommen. Das können die nur anbieten, weil sie einen Vertrag mit Siemens haben, der ihnen eine hohe Verfügbarkeit der Züge garantiert. Und was ist passiert? 40 Prozent der Leute, die früher mit dem Flugzeug unterwegs waren, sind auf dieser Strecke auf den Zug umgestiegen.
Das Leitmotiv der Siemens-IT |
Siemens-CIO Helmuth Ludwig und sein Team haben sich drei Leitsätze für die IT gegeben: "innovate & grow" - Innovation schaffen und Wachstum fördern. Die IT macht das Leben für jede Siemens-Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter Tag für Tag ein bisschen einfacher. "Dabei unterstützen wir ganz gezielt die Mitarbeiter mit ihren Prozessen und Produkten", so der CIO. "give & take responsibility" - Verantwortung effektiv verteilen. Wir geben unseren Mitarbeitern eine sehr hohe Eigenverantwortung. Der Leiter eines Value Centers handelt bei uns wie ein CEO. Die Hierarchieebenen wurden um 30 Prozent abgebaut, die Komplexität in einer Struktur mit Value Centers, Chapters und Service Lines erheblich reduziert. "create customer value, fast" - Kundenmehrwert schaffen, und zwar schnell. ITler bei Siemens müssen schnell verstehen, was der Kunde braucht, und dann möglichst bald mit einem Minimum Viable Product (MVP) auf ihn zukommen, Feedback einholen und in die nächste Iteration gehen. |
Helmuth Ludwig ist seit 1990 bei Siemens und hat dort verschiedene Aufgaben im In- und Ausland übernommen. Unter anderem war er Präsident von Siemens PLM Software und CEO des Siemens Industry Sector in Nordamerika. Der CIO hat ein Ingenieurstudium in Karlsruhe absolviert und in Kiel promoviert. Zusätzlich hat er einen MBA-Abschluss bei der University of Chicago erworben. Als außerordentlicher Professor lehrte er International Corporate Strategy an der Southern Methodist University in Dallas. |