Auf den Hamburger IT-Strategietagen hat IT-Vorstand Markus Warg von der Signal Iduna Versicherung das Konzept der Service Dominierten Architektur (SDA) vorgestellt.
Er betonte nochmals, dass Produkte wie Versicherungen immer auswechselbarer würden. Was den Kunden deshalb geboten werden muss, wenn man sie nicht verlieren will, sind Services rund um die Produkte herum mit einem hohen Gebrauchsnutzen für die Kunden.
Dafür baut er mit Partnern eine Service-dominierte-Architektur, die komplett auf Openstack basiert. Er rief alle Teilnehmer und Unternehmen auf den Strategietagen dazu auf, sich an der Plattform zu beteiligen. Ihre Weiterentwicklung stünde allen offen.
Wer noch tiefer in die Ebenen und Elemente der SDA eintauchen möchte, der kann das in einem Artikel nachlesen, den Markus Warg zusammen mit Ingo Bahrs und Jens Stäcker geschrieben hat: Wie die Service-Plattform der Zukunft aussieht
Es könnte alles so einfach sein: Ein Kunde bekommt nach einem Schadensfall die Rechnung für die Reparatur, fotografiert sie mit seinem Smartphone und schickt sie dem Versicherer, der den Betrag nach Prüfung überweist. Fotografieren und Senden klappt ja schon ganz gut mit einer Rechnungs-App, nur aus dem schnellen Auszahlen der Schadensumme wird meistens nichts: Der Versicherer hat noch Rückfragen.
Prozesse automatisieren
Im Versicherungsalltag beginnt nun das, was lange dauert und alle Beteiligten Nerven und Geld kostet. Ein Sachbearbeiter nimmt mit dem Kunden elektronisch oder postalisch Kontakt auf oder beauftragt damit den Außendienst - was dem Kunden, der auf sein Geld wartet, zu langsam geht. Im kommenden Frühjahr will die Signal Iduna diesen Prozess deutlich beschleunigen. "Dann können wir auf unserer neuen Plattform sofort sehen, wenn ein Fall nicht automatisiert abgearbeitet wurde", sagt IT-Vorstand Markus Warg vom Versicherer mit Hauptsitzen in Hamburg und Dortmund.
Je nachdem, wie der Kunde seine App eingestellt hat, bestimmt er, auf welchem Weg der Versicherer mit ihm Kontakt aufnehmen soll: per Post, mit der Kunden-App oder über einen Außendienstpartner. Hat der Versicherte einen Außendienstler angegeben, erhält dieser per Push-Nachricht die Kundenrechnung aufs mobile Endgerät und wird darüber informiert, ob der Prozess hängt und was noch fehlt.
"Wir können sofort die passenden Ressourcen auf der Plattform orchestrieren", erläutert Warg. Das könne im Beispiel der Rechnungs-App auch ein Medikationsservice sein, der auf Basis der Rechnungen prüft, ob sich die Medikamente vertragen, und dem Kunden Hinweise gibt.
Eine Event-driven Architecture soll Echtzeit-Dienste ermöglichen
Diese Event-driven Architecture soll Echtzeit-Dienste ermöglichen, die beim Kunden einen Wow-Effekt auslösen. "Wenn wir hier nicht weiterkommen, wird irgendwann jeder Versicherer austauschbar", warnt Warg. "Dann bieten Insurtechs alle digitalen Services an: in Echtzeit, komplett auf jedem Endgerät." Das reicht bis zu der Möglichkeit, Verträge jederzeit abzuschließen und zu kündigen. Gelingt es den Startups, die Schnittstellen zu den Kunden zu besetzen, verlieren klassische Versicherer ihren wichtigsten Geschäftsvorteil.
In vielen herstellenden Unternehmen treten derzeit die Produkte in den Hintergrund, während drum herum entstehende Services die eigentliche Wertschöpfung erzeugen. Populäre Beispiele sind Sharing-Dienste wie Airbnb und Uber, die mit ihren Diensten auf bestehenden Produkten - Wohnungen beziehungsweise Autos - aufsetzen. Auch der Carsharing-Dienst Car2go orchestriert nur noch Services, ohne selbst Autos zu besitzen. "Für den Kunden steht der Gebrauchsnutzen im Vordergrund. Nur der Nutzen, der beim Kunden ankommt, zählt. Am besten in Echtzeit", sagt Warg.
Konzept der "Service-dominierten Logik"
Der Gebrauchsnutzen nimmt einen zentralen Platz für Warg ein. Dabei beruft er sich auf seine Inspirationsquellen, die amerikanischen Wissenschaftler Stephen L. Vargo, Robert Lusch und Jim Spohrer (ein Begründer der Service-Wissenschaften). In einem Aufsatz von 2004 stellten Vargo/Lusch ihr Konzept einer "Service-dominierten Logik" vor. Ihre These: Der Gebrauchsnutzen wird künftig im Vordergrund stehen, nicht mehr das Produkt. "Das wird auch für Versicherungen der Fall sein", ist sich Warg sicher. "Wir wollen tolle Service-Erlebnisse mit hohem Gebrauchsnutzen schaffen, das ist unsere Philosophie."
4 Zutaten für die Plattform
Um solche Echtzeit-Erlebnisse zu ermöglichen und sich gegen die Insurtechs zu behaupten, hat Warg die Kernelemente der Service-dominierten Logik als Architektur konzipiert und die Signal Iduna diese Service-dominierte Architektur als Plattform implementiert. Sie dient als Scharnier zwischen der Legacy-IT und den Anwendungen am Kunden-Frontend. Für diese Service-dominierte Architektur braucht man laut Warg vier Zutaten: "Drei Service-Systeme plus einen Datentopf."
1. System of Interaction
Über das System of Interaction findet die gesamte Kommunikation mit dem Kunden statt. Dabei wird das Kundenprofil datenschutzkonform stetig fortgeschrieben, so dass die Signal Iduna mit ihren Versicherten den Faden immer wieder dort aufnehmen kann, wo man beim letzten Austausch stehen geblieben ist. Indem die Versicherung die Kommunikation mit den Kunden ganzheitlich wahrnimmt, will sie ein datenbasiertes Kundenverständnis aufbauen.
2. System of Participation
Das System of Participation richtet sich nicht an Kunden, sondern an Dienstleister und Co-Produzenten der Versicherung. An das System lassen sich externe Dienste wie Chatbots, Digital Assistants (Alexa), KI-Lösungen oder Plattformen wie Amazon Web Services (AWS) anbinden. So lassen sich zusammen mit externen Dienstleistern neue Services generieren und verbessern.
3. System of Operant Resources
Mit diesem System zieht der Versicherer alle Daten, die für die kundenzentrierte Handlungsweise erforderlich sind, aus den Archiven auf die Plattform. Das Backend-System arbeitet zwar langsam, aber es birgt eine große Fülle an Wissen über Kunden und Fähigkeiten aus über 100 Jahren Unternehmensgeschichte. Das ist ein Pfund, mit dem man wuchern kann, insbesondere wenn es in Echtzeit über die Service-dominierte Plattform genutzt wird.
4. Datentopf
Fehlt als letzte Zutat für die Plattform nur noch der Echtzeit-Datentopf oder Data Lake, in den alle strukturierten und unstrukturierten Daten einfließen.
Komplett auf Basis von Openstack
Als technische Basis setzt die IT stark auf Open-Source-Produkte. Das agile, echtzeitfähige "System of Engagement" haben Warg und seine IT-Mannschaft komplett auf Basis von Openstack aufgebaut. Dabei kommen unter anderem Docker-Container und die Container-Anwendungsplattform Open Shift von Red Hat zum Zuge.
"Unternehmen nutzen Openstack, weil sie agil, sicher, skalierbar, kostengünstig und unabhängig sein wollen. Sie möchten eine moderne Architektur auf einer Plattform implementieren, auf der die Lösungen wiederverwendet werden können, und dies ohne Lizenzen zu zahlen", lautet die These von Warg. Seiner Ansicht nach gehört die Zukunft "Open-Source-Plattformen mit intelligenten Architekturen".
Die Vorarbeiten begannen vor drei Jahren
Doch bevor es mit der neuen Plattform losging, musste die IT zunächst die Basis dafür schaffen. Seit dem Start des sogenannten Zukunftsprogramms Anfang 2015 hat Signal Iduna rund 100 Millionen Euro in Prozesse, Services und Digitalisierung investiert. In diesen drei Jahren hat sie:
die gesamte Infrastruktur modernisiert und ihre Anwendungen konsolidiert,
spartenübergreifend ein Ziel-Betriebsmodell mit einheitlichen Prozessen und Transparenz geschaffen sowie die Prozesse automatisiert und
die Verwaltung für den Vertrieb zentralisiert, den Vertrieb weiter qualifiziert und strukturell neu aufgestellt.
Joint Venture mit msg Systems in Kooperation mit IBM
"Jetzt können wir uns auf Service-Excellence und Kunden konzentrieren", so Warg. Dafür gründete die Signal Iduna im Dezember 2016 das Unternehmen SDA SE Open Industry Solutions, ein Joint Venture mit msg Systems in Kooperation mit IBM. Dort arbeiten rund 40 Spezialisten in Hamburg an der Außenalster an der Weiterentwicklung der Service-dominierten Architektur (SDA).
"Für die Openstack-Plattform mussten wir grundlegende architektonische Entscheidungen treffen. Deswegen war es wichtig, weltweit führende IT-Architekten von außen mit am Tisch sitzen zu haben", begründet Warg die Entstehung der SDA. Der Ansatz der SDA SE ist Open Innovation auf der Basis von Openstack, daher können auch andere Versicherer und Unternehmen aus anderen Branchen mitmachen, um gemeinsam innovative Lösungen agil zu erstellen.
Bedenken der Mitarbeiter
Die seit nunmehr drei Jahren laufenden Veränderungen bereiten manchen Mitarbeitern Sorgen. Host-Programmierer mit 20 Jahren Berufserfahrung fragen sich, was aus ihnen werden soll, wenn jetzt ganz neue Technologien einziehen. Doch Agilität am Frontend kann es nicht geben, wenn die Basissysteme mit ihren Kernfunktionen und Daten nicht stabil laufen. Deshalb bleibt das Wissen im Host-Umfeld unverzichtbar, lautet Wargs beruhigende Antwort.
Change-Management - die meinen es ja ernst
Seit 2015 laden nun alle Vorstände beispielsweise immer wieder kleine Mitarbeitergruppen aus IT und Fachbereichen zu Gesprächen an dafür eingerichteten Infoständen ein. Doch so schnell ließen sich die Mitarbeiter nicht überzeugen. "Ich dachte, für das Change-Management brauchen wir ein paar Monate, und dann haben es alle verstanden", blickt Warg zurück. "Es hat aber eineinhalb Jahre gedauert, bis wir gespürt haben, dass es bei den Mitarbeitern angekommen ist."
Erst dann sei wirklich allen klar geworden, wie ernst es der Versicherer mit der Digitalisierung meint. Der "Kultur-Shift" hin zu einem Realtime-Unternehmen, das den Gebrauchsnutzen für den Kunden in den Vordergrund stelle und sich dabei lizenzfreier Software bediene, sei eine besonders tiefgreifende Veränderung, so Warg.
Auch wenn das Großprojekt der neuen Service-dominierten Plattform jetzt durchstartet, weiß IT-Vorstand Warg doch: "Die Kultur unseres Unternehmens zu verändern ist sicher das anspruchsvollste Projekt.