Für die Life Biosystems AG mit Hauptsitz in Basel gehört IT zum Kerngeschäft: Das Biotech-Unternehmen forscht "in silico" – also mit informationstechnologischen Verfahren – nach neuen Krebsmedikamenten und -heilmethoden. In Zusammenarbeit mit Hochschulen, Krebsforschungszentren und Pharmaunternehmen wertet der Bioinformatikspezialist klinische Studien, Gendatenbanken und andere wissenschaftliche Quellen aus. "Für unsere Analysen führen wir oft Hunderte von Datenquellen zusammen. Das Thema Datenintegration ist deshalb für uns absolut unternehmenskritisch", sagt Stephan Brock, CEO von Life Biosystems.
Seit Anfang des Jahres bildet ein Open-Source-System das Rückgrat seiner Enterprise-IT. "Wir haben uns nach gründlicher Evaluation und umfangreichen Tests für die Integrationslösung von Talend entschieden, weil sie optimal auf unsere Bedürfnisse passt", sagt Brock. "Wir setzen sowohl Open-Source- als auch Lizenz-Software ein – das ist für uns keine Glaubensfrage."
Life Biosystems liegt im Trend: Open-Source-Software (OSS) ist auf dem besten Weg, sich einen festen Platz im Bereich von Business-Applikationen zu erobern. Analysten registrieren eine zunehmende Akzeptanz für die quelloffenen Systeme: "Open-Source-Anbieter gewinnen immer mehr Kunden. Dabei geht es nicht mehr nur um Betriebssysteme, sondern zunehmend auch um Middleware und Applikationen", sagt IDC-Analyst Michael Fauscette. Hätte man vor zwei, drei Jahren einen CEO oder CTO danach gefragt, hätte die Antwort gelautet, OSS komme für kritische Systeme unter keinen Umständen in Frage. "Heute hört man eher, dass sie gerade Open-Source-Policies formulieren oder sie sogar schon implementiert haben."
OSS einzusetzen ist nicht neu. Aber bisher war es vor allem die Technologie-Ecke der Unternehmen, in der sich das komplette Open-Source-Portfolio versammelte: Plattformen, zusammengefasst unter dem Begriff LAMP (Linux, Apache, MySQL und Pearl/ PHP), vielleicht noch ergänzt um die OS-Entwicklungs-Tools Eclipse und Jboss sowie OS-Nischenanwendungen.
Fast religiöse Inbrunst
Ganz unter sich erfreuten sich Technik-Freaks im Bund mit ähnlich gestrickten OS-Anbietern der Stärken offener Schnittstellen und Standards. Unbehelligt vom Business-Management gediehen hier die OS-Lösungen und -Systeme, nicht selten gepaart mit einer mit fast religiöser Inbrunst empfundenen Abneigung gegen die proprietären Systeme der Lizenzsoftwareanbieter.
Waren es bisher meist jene Experten aus der IT-Infrastruktur, der Anwendungsentwicklung oder der Netz- und Systemadministration, die auf den Einsatz von OSS drängten, verbreitet sich unterdessen auch im Management eine andere Sicht auf die quelloffene Software. Und die Manager lassen sich nicht von ideologischen Fragen leiten, sondern klopfen die Software nüchtern auf ihr Potenzial ab: "Die Kunden wollen einfach so viel ERP oder CRM pro Euro wie möglich", schreibt Bo Lykkegaard, IDC-Program-Manager für European Enterprise Applications, in der Studie "Open Source Enterprise Applications in Europe: Disruption Ahead?"
Die Szene spürt den Aufwind: Larry Augustin, CEO des Open-Source-Anbieters "SugarCRM", meldet einen Rekordumsatz für das Jahr 2009 und kündigt bereits eine Verdoppelung der Einnahmen im laufenden Jahr an. Bertrand Diard, Chef des Data-Integration-Spezialisten Talend, bläst ins gleiche Horn. Er rechnet mit einem Plus von mindestens 100 Prozent für 2010.
Sein deutscher Statthalter Christopher Hacket legt noch ein wenig drauf: "Für die Region D–A–CH gehen wir davon aus, dass sich der Umsatz in diesem Jahr verdreifachen oder sogar vervierfachen wird", gibt der Talend-Country-Manager zu Protokoll. Verlässliche Umsatzzahlen sind indes kaum zu bekommen: Viele Open-Source-Anbieter sind mit Risikokapital finanziert und veröffentlichen weder Umsatz noch Gewinn. Das gilt für SugarCRM und Talend ebenso wie für die Spezialisten für Dokumenten-Management Alfresco oder die BI-Experten von Jaspersoft.
Nicht nur die Einnahmen sind rekordverdächtig: Mitarbeiter, Community-Mitglieder, Software-Downloads, zahlende Kunden, Support- und Vertriebspartner – überall zeichnet sich stetiges Wachstum ab. Sicher ist: Der Zwang zum Sparen spielt den Anbietern in die Hände. "Der OSS-Markt hat durch die Wirtschaftskrise erheblichen Auftrieb bekommen", sagt IDC-Analyst Fauscette. "OSS wird zunehmend zum Mainstream und Teil der Softwarestrategie der Unternehmen."
Laut der IDC-Studie "Worldwide Open Source Software 2009–2013 Forecast" bewegte sich das weltweite Marktvolumen im Jahr 2008 bei 2,9 Milliarden Dollar und soll mit einem jährlichen Plus von weit über 20 Prozent bis zum Jahr 2013 auf 8,1 Milliarden Dollar ansteigen. Beeindruckend sind vor allem die relativen Größen.
Denn absolut gesehen werden die OSS-Umsätze auch im Jahre 2013 weniger als fünf Prozent des globalen Softwaremarktes ausmachen. Zum Vergleich: Der Markt für proprietäre Programme soll laut IDC von 137 Milliarden Dollar im Jahr 2008 auf knapp 170 Milliarden Dollar im Jahr 2013 wachsen.
Hauptgrund: keine Lizenzgebühren
Nach einer Umfrage von Survey Interactive im Auftrag von Actuate unter 1500 IT-Entscheidern setzten vergangenes Jahr mehr als 60 Prozent der deutschen Unternehmen auf OSS. Gut drei Viertel von ihnen führten Kostengründe ("Keine Lizenzgebühren") an, für 60 Prozent war die "Unabhängigkeit von kommerziellen Anbietern" ein gewichtiges Argument, knapp die Hälfte hielt die größere "Flexibilität" für einen Gewinn. Jeweils um die 40 Prozent schätzten den "Zugang zum Quellcode“ und die "offene Plattform".
OSS zieht auch in die Unternehmen ein, weil inzwischen selbst Schwergewichte der Branche wie IBM, Novell oder Oracle nennenswerte Anteile von OSS in ihrem Portfolio haben.
Sie können einen verlässlichen Service und Support liefern und räumen damit eines der größten Hindernisse aus dem Weg. Denn nach der Actuate-Umfrage beklagt rund die Hälfte der OSS-Nutzer das Fehlen von langfristiger Wartung undSupport, gut ein Drittel vermisst Implementierungs-Know-how. Und knapp die Hälfte macht sich Sorgen um die unklaren Haftungsbedingungen.
Gebührenpflichtige Versionen
Die Szene reagiert bereits. Sie investiert in den Vertrieb, in den Auf- und Ausbau der Support-Mannschaft und in Kooperationen mit Implementations- und Support-Partnern. Gleichzeitig bieten viele kommerzielle OS-Anbieter über die kostenlose nutzbare Community-Version ihrer Software hinaus eine gebührenpflichtige Version an. Diese zeichnet sich durch einen größeren Leistungsumfang aus, ein Support-Angebot und den Ausschluss von Haftungsrisiken.
"Wir setzen die Enterprise-Version von Talend ein und zahlen Lizenzgebühren. Die kostenlose Open-Source-Variante wäre im Hinblick auf professionellen Support und Rechtssicherheit für unsere Zwecke nicht ausreichend", sagt CEO Brock von Life Biosystems. Dennoch verzeichnet er klare Kostenvorteile gegenüber proprietären Produkten, weil keine Anschaffungskos-ten anfallen. Vor allem aber ist es die bessere Integrierbarkeit – mit OS- sowie mit Nicht-OS-Systemen –, die den CEO überzeugt haben: "Es gibt eine große Anzahl umfangreicher und kostenloser OS-Libraries, die teilweise schon auf unser Fachgebiet Bio-Informatik zugeschnitten sind", sagt Brock. "Das verringert unseren Entwicklungs- und Integrationsaufwand erheblich."
Fakt ist: Es geht heute nicht mehr darum, zwischen Open Source oder proprietärer Software zu wählen. Denn OSS wird mittelfristig zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Enterprise-IT. Die Analysten von Gartner schätzen, dass schon 2011 mehr als 80 Prozent der kommerziellen Software OS-Elemente enthalten werden. Gartner-Analyst Brian Prentice fasst es in seinem Blog so zusammen: "Die weit verbreitete Annahme, dass OS und Lizenzsoftware im Widerspruch zueinander stehen, stimmt heute nicht mehr."