Könnte es die Krise in der Logistik sein, warum Martin Kolbe kaum teure Standardsoftware kauft? Falsch. Der Mann ist Überzeugungstäter: Er folgt seiner Weltanschauung bis in den hintersten Winkel des Unternehmens, dekliniert sie mit einer seltenen Konsequenz durch. Heißt in der Praxis: Der Kühne + Nagel-CIO, der auch Mitglied der Geschäftsleitung ist, lässt nicht nur die geschäftskritischen Kernapplikationen des Unternehmens selbst programmieren, sondern auch CRM oder Finanzbuchhaltung. Dinge also, die heute viele für Commodity und damit für ideale Zukaufanwendungen halten.
Martin Kolbe findet ein solches Zukaufen falsch: "Unternehmen, die hauptsächlich mit Standardsoftware arbeiten, haben oftmals die Fähigkeit verloren, selbst zu programmieren. Durch diesen Know-how-Verlust entsteht eine Abhängigkeit von externen Anbietern."
Und abhängig zu sein, das widerspricht fundamental Kolbes Philosophie. Entstanden ist diese auch durch Sachzwänge. Einer davon: Für die Kernfunktionen von Logistikunternehmen gibt es - anders als in der produzierenden Industrie - kaum Standardlösungen. Die Branche ist zu klein, die Entwicklung würde sich für die Softwareindustrie nicht lohnen. Das wenige, was es gibt, hat Kühne + Nagel immer wieder ausprobiert - und ist nie glücklich geworden damit.
Nummer eins in der Seefracht
Also entwickeln die Logistiker seit Jahren selber. Kernstück der Kühne + Nagel-IT, die von der Zentraleuropa-Zentrale in der Hamburger Hafencity gesteuert wird, ist eine Integrationsplattform namens KN Information Broker. Hier laufen alle Daten von Kunden, Partnern und Behörden zusammen. Wichtig ist das deshalb, weil der Logistikdienstleister mit Hauptsitz im Schweizerischen Schindellegi zwar weltweit die Nummer eins ist bei der Seefracht und die Nummer vier bei der Luftfracht, aber selbst weder Schiffe noch Flugzeuge besitzt.
Stattdessen managt Kühne + Nagel die komplette Lager- und Transportkette seiner Kunden, in der Branche heißt das Door-to-door-Logistics, mithilfe externer Carrier. Der KN Information Broker, eine Art riesiger Adapter, bildet das Bindeglied zwischen Kunde und Carrier. Die Maschine ist nicht nur in der Lage, jedes angelieferte Datenformat zu verarbeiten, sondern sie kann es auch für den Kunden in jedes gewünschte andere Format übersetzen. Das Anbinden neuer Partner, die bisher unbekannte Protokolle verwenden, läuft weitgehend automatisiert und standardisiert. Martin Kolbe: "Wir brauchen lediglich zwei Tage, um einen neuen Adapter zu bauen. Und nach längstens zehn Tagen ist der Kunde an unser System angedockt."
Einen Teil der Programmierung lässt das Unternehmen in China erledigen, getestet und ausgeliefert wird dann wieder in Hamburg. "In unserer Branche sind die Margen klein. Die Savings liegen darin, dass die Prozesse reibungslos, möglichst automatisiert und auf der ganzen Welt immer gleich ablaufen. IT-Standardisierung bedeutet ja nicht, dass überall nur Standardsoftware eingesetzt wird."
Sondern zum Beispiel leistungsfähige Eigenentwicklungen, zumal für diesen Weg noch ein anderes Argument spricht: Bei Kühne + Nagel dient die IT nicht nur als Business-Enabler, sondern das Dienstleistungsunternehmen ist in gewisser Weise selbst eine IT-Firma. Schließlich stellt es seinen Kunden eigene Softwarelösungen zur Verfügung.
Zum Beispiel Login, eine webbasierte Tracking- und Tracing-Plattform. Mit ihrer Hilfe kann ein Autozulieferer, der bestimmte Schrauben aus China benötigt, sehen, wie viele dieser Schrauben gerade am Herstellungsort verpackt, wie viele verschifft und wie viele im Bestimmungshafen auf den Lkw verladen werden. Kolbe: "Viele unserer Kunden planen nicht nur mithilfe dieser Plattform ihre Produktion, sie modifizieren sie auch für ihre individuellen Zwecke. Das System ist einzigartig, es bildet sämtliche Informationen, die wir von den Geschäftsprozessbeteiligten bekommen, ab und sorgt so für maximale Transparenz." Solche Lösungen sind es, mit denen sich Kühne + Nagel von den Wettbewerbern abhebt und sein Geld verdient.
Kühne + Nagel: Wer keine Schiffe hat, muss auch keine stilllegen
Die Logistikbranche kämpft seit etwa einem Jahr mit dramatischen Umsatzeinbrüchen als Folge der Finanzkrise. Kühne + Nagel ergeht es dabei noch besser als den Carriern selber, weil es wie gesagt zwar Lkws, aber keine Flugzeuge oder Schiffe besitzt. Und wer keine Schiffe hat, muss auch keine stilllegen, wenn es zu wenig zu transportieren gibt auf den Weltmeeren. Spurlos vorübergegangen ist die Krise aber auch an Kühne + Nagel nicht: Seit Oktober 2008 hat das Unternehmen weltweit etwa 4000 Stellen abgebaut.
20 Prozent ausgeben für nix?
Umso wichtiger sind Kostensenkungen, auch in der IT. Lösungen selbst entwickeln anstatt sie fertig zu kaufen ist nicht nur besser, sondern auch billiger, davon ist Kolbe überzeugt. "Wenn ich von einer üblichen Servicepauschale von 20 Prozent jährlich ausgehe, dann bedeutet das ja, dass jede gekaufte Softwarelösung innerhalb von fünf Jahren ein zweites Mal bezahlt werden muss."
Außerdem, glaubt Kolbe, passt jede Standardlösung nur zu maximal 80 Prozent in die Anforderungen des Kunden: "Die restlichen 20 Prozent habe ich bezahlt, ohne etwas damit anfangen zu können." Und dann kommen noch teure Berater ins Haus, die die One-fits-all-Software individuell anpassen. Im Gegensatz dazu lautet das Motto von Kühne + Nagel: Keine Zeile Code zu viel. Martin Kolbe: "Bei uns ist jede Applikationen schmal auf die Standardprozesse zugeschnitten, da ist kein Element enthalten, das wir nicht wirklich brauchen.“
Und weil die Transportspezialisten mit dem Selberbauen in Kernbereichen so gute Erfahrungen gemacht haben, übertrugen sie die Philosophie auch auf vermeintliche Commodity-Applikationen. Arcon, das Finanzbuchhaltungs- und Controlling-Programm, entsteht gerade auf Java-Basis neu und soll etwa im Jahre 2013 einsatzbereit sein. Bei der Entwicklung der Anforderungen sitzen IT-und Fachabteilung eng zusammen, entwickeln die Lösung praktisch gemeinsam.
Auch das ist ein Vorteil der Eigenentwicklung. Die Programmierung findet zum großen Teil in Asien statt; dass fast alles in Java geschrieben ist, erleichtert dieses Outsourcing erheblich. Und es erleichtert die Integration: Neue Tochterunternehmen sind nach zwei Monaten konsolidiert, ihre Zahlen in den K + N-Systemen abrufbar.
Botschaft an die Finanzbranche
Natürlich stellt sich die Frage, inwieweit der Kühne + Nagel-Weg übertragbar und für andere gangbar
ist. Kolbe sagt: „Was wir hier machen, ist sicher keine Botschaft an die Welt, aber ein Vorgehen, das sich für uns bewährt hat.“ Und er sagt auch: „Ich glaube, dass in einigen Branchen für Standardsoftware deutlich zu viel Geld ausgeben wird.“ Welche Branchen er meint? Bevor er zur Logistik kam, arbeitete Martin Kolbe in der Kreditwirtschaft …
IT-Architektur erlaubt Make-or-Buy nach Belieben
Kühne + Nagel setzt auch hardwareseitig auf Unabhängigkeit, das Unternehmen betreibt für seine operativen Systeme eigenem Backbone, gehostet in drei Datacentern, die in Nordamerika, Europa und Ostasien stehen. "Mit dem Auslagern des Betriebes unserer AS-400-Landschaft haben wir schlechte Erfahrungen gemacht."
All das heißt nicht, dass Kühne + Nagel niemandem vertraut und sich bei allem nur auf sich selbst verlässt. Natürlich gibt es auch hier Standardsoftware, für BI zum Beispiel von Business Objects, Clarity von CA dient dem Projekt-Management. Martin Kolbe: "Durch unsere IT-Architektur können wir nach Belieben auf der Make-or-buy-Klaviatur spielen. Es geht immer nur darum, die kosteneffizienteste und beste Lösung zu liefern."