Vor Aöbrecht Bunzek (55) liegt ein 26 Seiten starker Bericht. Darin sieht er plastisch Eigen- und Fremdeinschätzungen über die Führungskraft Bunzek, Abteilungsleiter des Bereichs Logistics Solutions, Bayer Business Services. Der Manager deutet auf Zickzacklinien, die auf Seite 4 herunterlaufen. Eine zeigt die Einschätzung des Vorgesetzten, eine die seiner Teamleiter, eine weitere die von Kollegen auf seiner Hierarchieebene, eine die der Vertriebsleute bei BBS, eine weitere die seiner externen Kunden, zudem seine Eigenwahrnehmung. Die Gruppen der Feedback-Geber hat der für 30 Mitarbeiter verantwortliche IT-Manager zusammen mit seinem Vorgesetzten ausgewählt. „Ich wollte kein Gefälligen-Feedback“, sagt Bunzek, „deshalb habe ich in der Auswahl der 25 Personen auch solche mit anderen Vorstellungen und Arbeitsweisen als meinen.“
Die Ausschläge nach rechts zeigen seine persönlichen Stärken, die nach links seine Schwächen. „Der Zweck des 360-Grad-Feedbacks liegt vorrangig darin, den aufgedeckten Entwicklungsbedarf selbst analysieren und daran arbeiten zu können“, erläutert die Personalentwicklerin der BBS, Ute Eichler. „Wer mit seinen Ergebnissen zu seinem Vorgesetzten geht, kann dort im Rahmen eines Aktionsplanes Seminare zur Weiterbildung oder ein Coaching besprechen.“ Der Vorteil der Methode: Durch den Mix an Feedback-Gebern entsteht ein unabhängiges Bild - über Abteilungsgrenzen hinweg. Bunzek sieht die Vorteile: „Das 360-Grad-Feedback ist ein zusätzliches Instrument, um ein besseres Bild von sich selbst zu bekommen.“
Seine Kollegen haben zu 33 Qualitäten („Versprüht Optimismus“, „Hält Handlungsdruck aus“ oder „Gibt Richtung vor und übernimmt Führung“) in sieben Frageblöcken von „Strategisch denken“ über „Sich und andere entwickeln“ bis „Mitarbeiter führen“ eine Bewertung abgegeben. „Die Bearbeitung des Fragebogens dauert etwa 20 Minuten, hinzu kommen mögliche Kommentare zu den Bereichen“, so Eichler.
Schwächen erkennen, Sorgen zerstreuen
Bislang stammen die Teilnehmer aus dem 300-Mitarbeiter- Pool der „Konzernführungskreise 1 bis 3“. „Die Mitarbeiter haben das Verfahren selbst in der Hand“, erläutert Eichler. Wer den 26-Seiten-Bericht bekommt, kann damit machen, was er will. Eichlers Eindruck: „Die Führungskräfte wollen ein Feedback und sind offen für Weiterentwicklung.“ Also setzen sich die meisten nach dem Feedback mit ihrem Chef zusammen und besprechen, wie die Ausschläge nach links künftig gemildert werden könnten – auch Albrecht Bunzek. Das Feedback gab Hinweise auf Schwachstellen des IT-Managers, der vor 35 Jahren als mathematisch-technischer Assistent bei Bayer begann. Der „Kreis der Kollegen” etwa zeigte ihm auf, dass er sie „zu wenig in Entscheidungsprozesse integriert“. Nach zweistündigem Coaching hat er nun ein regelmäßiges Meeting mit Kollegen etabliert, in dem er deren Reaktionen aufnehmen kann. Zudem zerstreute das Feedback Bunzeks Sorge, dass sein Auftreten beim Kunden negativ bewertet wird. „Besonders in englischsprachigen Verhandlungen empfand ich mich manchmal als zu bestimmend und ungeduldig“, so Bunzek, der in der Feedback-Gruppe der Kunden jedoch keine Hinweise darauf findet. Bayer-weit hat bereits jeder zweite „Feedback-Nehmer“ ein Coaching gemacht.
Führungskräfteentwicklung ist derzeit die wichtigste Aufgabe im Human-Resources-Bereich deutscher Unternehmen, so das HR-Barometer 2004/2006 des IT-Beraters Capgemini. 2006 soll die bisherige Nummer zwei den Spitzenreiter ablösen. Der „War of Talents” soll dann auf der HR-Prioritätenliste ganz oben stehen, die Suche nach geeigneten Mitarbeitern für die Zukunft. Der Wert des Personals in der Wahrnehmung der Konzerne steigt zudem wieder. Erst auf Rang fünf (gefallen von Rang zwei) ist der Posten „Reduktion Personalkosten“ zu finden – eine klare Botschaft.
Um mit ihrem 360-Grad-Feedback auch ein einheitliches Bild zu bekommen, hat Bayer seine 33 Standpunkte von den „Leadership Principles“ abgeleitet. Darin ist etwa vereinbart, wie sich Mitarbeiter Kunden gegenüber verhalten sollen, wie sie aus der kulturellen Vielfalt Nutzen ziehen können und was man unter „strategischem Denken“ zu verstehen hat.
Nach einer Umfrage im Bayer-Geschäftsbereich Health Care kommt diese Art des anonymen und über das Intranet durchgeführten Mitarbeiterbeurteilung bei den Teilnehmern überwiegend gut an. 87 Prozent der Befragten hielten das Feedback für ein effektives Vorgehen. Man bekomme ein größeres Bild als vorher, nicht nur vom Vorgesetzen, die Teilnahme sei anonym, und das Feedback sei überwiegend konstruktiv und ermögliche Veränderungen im Verhalten – so die Befürworter. Die mit 10 Minuten relativ kurze Befragung lasse keine Schlüsse zu, und die Auswahl der Feedback- Geber sei schwierig, monierten andere.
BBS-Arbeitsdirektor Horstfried Läpple über das 360-Grad-Feedback: „Neben vielen anderen Instrumenten des Personalmanagements, die häufig schon seit Jahren etabliert sind, schauen wir über den internen Tellerrand hinaus.“ Nur so könne man die Gesamtorganisation sehen. Und kontinuierlich weiterentwickeln. Nach der Umstrukturierung des Konzerns in drei Teilkonzerne und drei Service-Unternehmen setzt der Personalbereich nun über die Feedback-Methode auch auf möglichst präzise Stimmungsbarometer. Im „Pulscheck” werden nach dem Zufallsprinzip alle sechs bis acht Wochen Mitarbeiter von Bayer ausgewählt und zur Stimmung im Konzern befragt. Auf einer Skala von 1 (= schlecht) bis 5 (= sehr gut) verbesserte sich etwa die allgemeine Stimmung von 2,7 auf 3,3, und die Zufriedenheit mit den Aufgaben von 3,5 auf 3,7.
Feedback für die Führungsnachfolge
Es ist offensichtlich Ruhe eingekehrt zwei Jahre nach dem Wirbel der Umstrukturierungen – und vielleicht machen sich ja tatsächlich die Bemühungen im HR-Bereich bemerkbar, der jetzt verstärkt auf Internationalisierung setzt und von Seminaren auf der Projekt- Akademie und der Initiative BayWay für Manager mit erster Führungsverantwortung bis hin zu Fachtagungen versucht, sein Personal bei der Stange zu halten: „Wir beobachten unser Personal über die Zeit“, so Arbeitsdirektor Läpple, „so erhalten die Mitarbeiter regelmäßig ein Feedback zu ihrer Leistung, und wir finden die Kriterien, die es uns eines Tages ermöglichen, Führungspositionen mit qualifizierten Nachfolgern zu besetzen.” Aus der Datenbank mit den jeweiligen elektronischen Personalakten, aus der sich Läpple bedient, erhält er aber nur dann das 360-Grad-Feedback, sofern der Betroffene damit einverstanden ist – doch wer wird sich auf dem Karriereweg schon selbst Steine in den Weg legen.