Unternehmen sind heute ständig auf der Suche: Hier gibt es neue Vertriebswege, dort werden neue Kommunikationstools vorgestellt und an wieder anderer Stelle werden Kanäle präsentiert, die gleich beides können. Die Digitalisierung stellt ein schier unüberschaubares Maß an Werkzeugen für Marketing und Vertrieb bereit. Jedes einzelne Tool verspricht die Lösung aller Probleme und präsentiert sich als der neue Heilsbringer. Es schreit uns geradezu entgegen: 'Mit mir wird die Welt bunter, schneller, besser.' In dieser Flut von Buzz-Words die Orientierung zu behalten, ist kein leichtes Unterfangen.
Es ist ein grundsätzlicher Fehler, in dieser Situation dem Druck der Technik und der Innovation zu erliegen - denn nur weil etwas neu ist, muss es nicht gut sein. Und es muss schon gar das einzig richtige Tool sein, um ein Problem zu lösen. Am Ende wird es nicht die Technik sein, die bei den Kunden die Bereitschaft steigert, sich mit einem Produkt oder einer Dienstleistung zu beschäftigen; es wird die kreative Idee sein, die sich der Technik bedient. Der Verbraucher wird nur dann auf eine Lösung anspringen, wenn sie ihm einen Mehrwert bieten, sei er informativ oder unterhaltend.
Interaktion dank Augmented Reality
Eines der Buzz-Words der aktuellen digitalen Diskussion ist Augmented Reality (AR), also eine digitale Erweiterung des realen Umfeldes. Das ist technisch gesehen ein vergleichsweise alter Hut. Schon seit vielen Jahren ist es möglich, virtuell Bilder einzufügen. Aber momentan ist AR ein besonders heißes Eisen aus gleich mehreren Gründen: Da ist etwa der Boom der Virtual Reality (VR).
Gerade bei Gamern, also einer technikaffinen und eher jungen Zielgruppe, ist das Eintauchen in eine virtuelle Welt mit Hilfe einer entsprechenden Brille ein wachsender Trend. Quasi im Windschatten von VR erlebt auch AR einen Aufschwung, zu dem natürlich auch technische Entwicklungen beitragen, die ganz andere Optionen und Auflösungen bieten, als dies noch vor wenigen Jahren denkbar war.
Besonders aber sind es die sich wandelnden Gewohnheiten der Konsumenten, die AR beflügeln. Zum Beispiel in der Mediennutzung: Kundenkommunikation via Zeitschriftenanzeigen oder TV-Spots ist nach wie vor Standard; direkte Interaktion ist hier in der Regel nicht möglich. Genau das erwarten aber heute viele Konsumenten bei der Informationsvermittlung. 'Digital Natives' wollen keine Frontalpräsentation, sie wollen Teil der Inszenierung werden - und das können sie bei AR.
Probleme lösen, nicht neue schaffen
Wer die zweifellos vorhandene Magie der Technologie, den Wunsch bestimmter Verbrauchergruppen und die eigenen Unternehmensziele unter dem Dach von AR vereinen möchte, hat durchaus einige Herausforderungen zu meistern.
Dazu müssen wir zunächst die Blickrichtung wechseln - weg von der Technologie hin zu unserer Zielgruppe. Zu beantworten ist die Frage, ob AR ein bestehendes Problem unserer Kunden oder das Informationsbedürfnis unserer Interessenten besser lösen kann als andere Instrumente. Nur wenn die Anwendung von Augmented Reality für den Nutzer einen echten Vorteil bietet, dürfen wir sie auch einsetzen. Wichtig dabei: eine ehrliche Antwort und die eindeutige Kundensicht. Nutzt der Kunde es später nicht, wurde sinnlos Geld investiert.
Augmented Reality bei Pepsi
Wenn AR nicht informiert, sondern unterhält, gilt dies entsprechend: Es muss zielgruppengerecht stattfinden. Die Anwendung muss die Markenbotschaft transportieren und qualitativ hochwertig unterstreichen. Dazu ein etwas älteres, aber sehr anschauliches Beispiel. Pepsi tauschte dazu an einer Londoner Bushaltestelle die gläsernen Seitenwände gegen AR-fähige Bildschirme aus. Die Wartenden sahen die Straße, aber auch landende Ufos, Meteoriteneinschläge oder freilaufende Tiger. Die Beobachter reagierten schockiert, amüsiert, verängstigt oder begeistert. Erkennbar wurde die Illusion erst beim Blick um die Glaswand herum. Dort waren keine Tiger zu sehen, wohl aber das Pepsi-Logo.
Vernetzt aus Sicht der Zielgruppe denken
Zunächst ist diese Idee von Pepsi ein netter Spaß für Wenige. Damit stünden Aufwand und Ertrag in einem doch recht zweifelhaften Verhältnis. Natürlich verlangt AR nach Investitionen, aber es muss immer auch der Return on Investment hinterfragt werden. Schließlich ist auch diese Technologie keine neue Kunstform, deren schönster Lohn der Applaus des Publikums ist.
In diesem Beispiel steht die AR-Anwendung nicht für sich allein, sondern geht über ein Youtube-Video viral und wird in den Kommunikationsprozess mit der Zielgruppe integriert. Über zehn Millionen Zugriffe zeigen die überzeugende Wirkung der Idee und bilden sicher einen soliden Ertrag.
Pepsi hat hier nicht nur die vermeintliche Realität, sondern auch die komplette Hard- und Software geliefert. In den allermeisten Fällen aber muss das der Kunde selbst machen. Er muss aktiv etwas auf sein Smartphone oder sein Tablet laden und nachfolgend die Anwendung starten. Für Technik-Affine kein Problem - aber wie sieht das in den Zielgruppen für das spezielle Produkt aus? Das Ziel muss doch immer sein, möglichst viele Mitglieder der Gruppe zu erreichen. Das wird nicht funktionieren, wenn diese Personen mehrheitlich mit der Technologie überfordert sind. So wird weder der erwünschte Nutzen noch der erhoffte Imagetransfer erzielt.
Augmented Reality bei Hyundai
Der versprochene Nutzen muss zudem groß genug sein, damit der Kunde bereit ist, den technischen Prozess auch durchzuziehen. Ein Beispiel praktischen Nutzens liefert der Autobauer Hyundai. Die Koreaner boten als erster Hersteller eine Bedienungsanleitung als AR-Anwendung an. Die Käufer bestimmter Modelle haben Zugriff auf einen virtuellen Guide, der zu mehreren Dutzend Themenfeldern - vom Motoröl bis zu den Sicherungen - Informationen liefert.
Jeder Autofahrer kennt die bisweilen schwer zu entziffernden, schwarz-weißen Explosionszeichnungen mit vielen Nummern und nebenstehenden Erklärungen. Bei diesem digitalen Handbuch wird das durch virtuelle 3D-Darstellungen ersetzt, die über Bilder bestimmter Fahrzeugbereiche wie Armaturenbrett oder Motorraum gelegt werden. Funktionen, Schalter und Hebel lassen sich so wesentlich einfacher erschließen.
Hyundai nutzt die Tatsache, dass ein Kunde das Tablet gerade in der Hand hat und bietet ihm einen weiteren Nutzen: Wartungsarbeiten und kleinere Reparaturen werden nicht als FAQs abgearbeitet, sondern mit kurzen Videosequenzen dargestellt. Andere Hersteller wie Kia sind gefolgt und auch deutsche Produzenten - vorwiegend aus dem Premiumsegment - arbeiten an ähnlichen Anwendungen. Ohnehin sehen Experten in der Automobilbranche neben dem Tourismus das höchste Potenzial für AR-Anwendungen.
Nicht alle Erwartungen lassen sich technisch umsetzen
Gerade wenn es sich um ein technisches Produkt und um eine technikaffine Zielgruppe wie etwa bei den Käufern von Automobilen handelt, müssen den gemachten Versprechungen einer AR-Anwendung auch Taten folgen. Klaffen Wunsch und Wirklichkeit zu weit auseinander, wird der Einsatz moderner Technologie zum Bumerang in der Kundenbindung. Deshalb ist auch Vorsicht geboten bei allzu großen Worten in der Ankündigung; nicht alle Erwartungen lassen sich technisch auch wirklich umsetzen.
Noch wenig Erfahrungen mit Augmented Reality bei Marketing und Vertrieb
Heute gilt, dass die Anwendung von AR nur die vorhandenen Medien und Kanäle ergänzt, sie aber nicht ersetzt, und natürlich bekommt der Hyundai-Käufer nach wie vor auch ein gedrucktes Handbuch. Noch ist die Bereitschaft zur Nutzung von AR in der Breite zu gering. Aber das wird sich ändern, die Nutzung wird zunehmen.
Die Verantwortlichen in Marketing und Vertrieb interessieren sich für Augmented Reality, wie eine aktuelle Studie zeigt: Deutlich mehr als die Hälfte der dort Befragten bekundeten dies, aber erst rund 20 Prozent hatte wirklich eigene Erfahrungen vorzuweisen. Die gleichen Befragten glauben zudem mit einer klaren Zweidrittel-Mehrheit, dass AR-Anwendungen zukünftig Kauf- und Konsumentscheidungen nachhaltig beeinflussen werden.
Eine AR-Anwendung schafft noch keine nachhaltige Kundenbeziehung
Auf der anderen Seite stehen nicht nur andere, konkurrierende Technologien, es entbrennt auch ein zunehmender Wettbewerb um jeden einzelnen Kunden. Deloitte prognostiziert für Ende 2018 etwa 800 Millionen Premium-Smartphones weltweit. Man erwartet dann mehrere zehntausend AR-Apps, die um diese Nutzer buhlen. Eine AR-Anwendung anzubieten, schafft also noch keine nachhaltige Kundenbeziehung.
Wer das will, der muss weiterdenken und den unternehmerischen Zusatznutzen aus der Technik holen. AR muss eingebunden werden in eine Kommunikationsstrategie und nicht als Stand-alone-Lösung einen Anspruch postulieren, den der Rest der Kundenkommunikation gar nicht halten kann. So zu agieren beschädigt letztendlich Marke und Unternehmen.