CIO.de: Sie haben sich in mehreren Studien mit Führung beschäftigt, sowohl aus der Sicht der Mitarbeiter als auch der von Führungskräften. Legt man die Ergebnisse übereinander, wird ein Muster erkennbar: Es gibt Hinweise auf einen Paradigmenwechsel. Ist das richtig interpretiert?
Peter Kruse: Das ist richtig. Nicht nur die überwältigende Mehrheit der Führungskräfte, sondern auch 85 Prozent der Mitarbeiter halten einen Paradigmenwechsel der Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, für absolut erforderlich. Auf Mitarbeiterseite gibt es massive Kritik an der Arbeitssituation. Die Verdichtung von Arbeit, die in den letzten zwei Jahrzehnten unter der Maxime von Shareholder-Value, Effizienzoptimierung und dem Streben, mit minimalen Kosten höchstmöglichen Profit zu erzeugen, erreicht worden ist, hat eine herausfordernde, druckbelastete Situation erzeugt.
Burnout ist nicht per Zufall zum Modewort geworden. Ein großer Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagt heute: So geht es nicht weiter, wir müssen grundlegend etwas ändern. Da steht besonders die soziale Frage im Raum. Neudefinition gesellschaftlicher Solidarität wird angemahnt. Die Beschäftigten üben deutliche Systemkritik.
CIO.de: Und was bemängeln die Manager?
Peter Kruse: Auch von den befragten 400 Führungskräften sagen 77 Prozent intuitiv: So, wie wir im Moment arbeiten, geht es nicht weiter; die Linien-Hierarchie und das klassische kennzahlengesteuerte Management sind nicht mehr zeitgemäß. Manche sagen sogar: Das aktuelle Führungsmodell gefährdet den Standort Deutschland. Dass auch die Führungskräfte in der überwiegenden Mehrheit einen Paradigmenwechsel fordern, hat mich schon verblüfft.
CIO.de: Wo sieht das Führungspersonal Herausforderungen?
Peter Kruse: In der schwierigen Sandwichposition, in der Führungskräfte sind - auf der einen Seite fordern die Shareholder gute Renditen, auf der anderen die Menschen gute Arbeitsbedingungen -, fühlen sie sich unter einem kaum noch zu bewältigenden Druck. Sie sagen, wir müssen uns ändern, aber die Notwendigkeit, Kapitalrendite zu erzeugen, behindert die notwendige Neuorientierung im Verständnis von guter Führung. Deshalb springen sie als Perso-En in die Bresche und wollen eine Art multiple Superpersönlichkeit werden, die es schafft, doch noch allen Anforderungen gerecht zu werden.
CIO.de: Viel ist die Rede davon, dass die aktuellen Entwicklungen eher zu Unsicherheiten und Unklarheiten führen.
Peter Kruse: Gegenwärtig arbeiten verschiedene Kräfte gegeneinander. Das Kapital hat immer noch das Bedürfnis, seine Rendite zu sichern. Rendite-Erwartungen bewegen sich ja manchmal im zweistelligen Bereich. Und man wird positiv bewertet, wenn man etwas planvoll mit Vorhersage ins Ziel bringt. Das heißt, die Bewertungskriterien für Führung haben nichts mehr mit der von den Führungskräften wahrgenommenen Realität zu tun. Die Beobachtung, dass irgendetwas nicht stimmt, begegnet einem mittlerweile auch in fast jedem Buch über Management-Themen.
Mich überrascht die Irritation, weil wir schon seit 15 Jahren den Leuten klarzumachen versuchen, dass die Explosion der Vernetzungsdichte in der Welt mit zunehmenden Nichtlinearitäten einhergeht. Ich habe mir den Mund fransig geredet und doch oft auf Granit gebissen. Die Reaktion war: Nun ja, es funktioniert doch noch, also machen wir weiter so.
Das ist wirklich witzig: Man fährt jahrelang in eine Richtung, von der man erahnen kann, dass sie nicht dauerhaft beizubehalten ist. Aber die eigene Massenträgheit ist so groß, dass selbst eine Mauer, auf die man zurast, einen anscheinend nicht davon abhält, weiterzufahren.
Zum Video: Warum Führung heute anders geht
CIO.de: Wie stellt sich für Sie die Entwicklung des Führens in Unternehmen rückblickend dar?
Peter Kruse: Hochinteressant ist, wie klar die Führungskräfte den Entwicklungsweg sehen: In den 50er Jahren galt das Modell der starken Persönlichkeit, einer mehr oder weniger väterlichen Figur, die für Mitarbeiter mit maximaler Verantwortungsübernahme gute Rahmenbedingungen erzeugt und dafür Loyalität eingefordert hat. Man hat Sicherheit gegeben und zuverlässige Pflichterfüllung bekommen. Das war das Modell in den 50ern, 60ern, 70ern und sogar bis in die 80er-Jahre.
Dann gab es einen großen Sprung in Richtung effiziente Zielerreichung, ein neues Modell: kennzahlengesteuert, die klassische Form von Management by Objectives, alles sehr professionell. Doch dann hat auch dieses Modell seinen Grenznutzen erreicht. Ab den 90ern geht es in Richtung kooperative Teamarbeit: Führung gibt Rahmenbedingungen für zahlenmäßig überschaubare Teams vor und lässt diesen viel Freiheit beim Arbeiten.
CIO.de: Wie würden Sie dann die jetzige Situation beschreiben?
Peter Kruse: Auf die kooperative Teamarbeit folgt ein interessanter Wendepunkt, der in der Wahrnehmung der Führungskräfte fast ohne Kritik ist: Es entsteht ein Konzept von iterativ testender Agilität. Da sind wir bei einer Art Segeln auf Sicht, wobei Verfahren wie Scrum oder Design Thinking eine Rolle spielen. Man sagt: Wir müssen situativ arbeiten, dieses Steuern und Regeln, das wir jahrelang praktiziert haben, funktioniert nicht mehr, denn die Rahmenbedingungen ändern sich zu schnell.
Meine Anpassungsprozesse sind langsamer als die Veränderungsdynamik der Wirklichkeit. Um darauf zu antworten, muss ich meine Vorhersagen aufgeben und mich mit Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und wacher Lernbereitschaft schrittweise in Situationen vorwärtstasten.
CIO.de: Und wo soll das alles hinführen?
Peter Kruse: Von der Teamarbeit und iterativ testenden Agilität geht es in die offensive Bildung selbstorganisierender Netzwerke: Vom Team mit einer klaren Identität führt die Entwicklung in die eigendynamische und nicht mehr kontrollierbare Vernetzung. Dies birgt immer die Gefahr, Selbstorganisation im Sinne eines relativ diffusen "Wir" misszuverstehen, wo sich alles von alleine löst. Gemeint ist nicht eine solche diffuse Heilserwartung an die Wirkung kollektiver Intelligenz, sondern eine intelligente Form, Vernetzung zu nutzen: leistungsorientiert, professionell, mit iterativen Vorgehensweisen.
CIO.de: Sehen Sie schon das Nachfolgemodell der dynamischen Vernetzung?
Peter Kruse: Interessanterweise folgt in der Vorstellungswelt der Führungskräfte auf die dynamische Vernetzung im nächsten Schritt die solidarische Integration. Das Modell wechselt von Shareholder zu Stakeholder. Man sagt: Wenn wir in diese dynamische Vernetzung gehen, dann bekommen wir das gesellschaftliche Problem der solidarischen Gegenbalance. Denn Netzwerke sind nicht sehr fürsorglich, sondern sie erhöhen noch mal die Dynamik.
Vom Gewinner-Verlierer-Syndrom
Also müssen wir uns mit dem Gesellschaftlichen auseinandersetzen, sonst gleitet das ab in eine noch kältere Wettbewerbsorientierung. Und weil die Mitarbeiter dies spüren, entsteht dieses Gewinner-Verlierer-Syndrom. Ungefähr die Hälfte sagt: In dieser Welt der dynamischen Vernetzung fühle ich mich wohl, dafür fühle ich mich gerüstet, das kann ich. Die andere Hälfte sagt: Weder mein Einkommen noch meine Ausbildung machen mich wirklich stark für eine solche dauernde Wettbewerbssituation, wie sie in Netzen stattfindet.
CIO.de: Sie sagen, dass es nicht nur um eine Veränderung im Führungsmodell geht, sondern um einen Paradigmenwechsel von gesamtgesellschaftlicher Dimension.
Peter Kruse: Es geht darum, das Neue diskursiv zu erfinden: What's next? Welche Werte wollen wir realisieren? Was wollen wir als Lebensqualität definieren? Welche Form von Führung hat noch Sinn? Natürlich gibt es Ansätze, auf die man zurückgreifen kann, etwa Design Thinking mit seinem iterativen Vorgehen als professionelle Alternative zur planvollen Steuerung. Es geht um eine neue Form der gemeinschaftlichen Professionalisierung.
Wir haben jahrelang Management perfektioniert, wir haben gute Systeme erzeugt, um mit maximaler Sicherheit vom Ist zum Soll zu kommen, immer mit der Unterstellung der Stabilität und der Planbarkeit. Jetzt geht es nicht mehr um die Professionalisierung von Management, sondern um die Professionalisierung von Unternehmertum. Das hatte schon immer diese instabile Komponente. Ein Unternehmer ist jemand, der mit Achtsamkeit und Intuition Marktdynamik aufgreift, seine Wette setzt und sich einlässt auf nicht planbare Prozesse.
CIO.de: Wie optimistisch sind Sie, dass sich tatsächlich ein Paradigmenwechsel in der Führung vollzieht?
Peter Kruse: Sehr optimistisch. Laut unseren Interviews - wie gesagt ist das keine statistisch repräsentative Stichprobe, aber bezogen auf das kulturelle Kraftfeld durchaus aussagekräftig - liegt bei den Führungskräften die Präferenz für das klassische effizienzgetriebene Modell, das Steuern nach Zahlen, nur noch bei rund 29 Prozent. Die Präferenz für die Stimulation von Netzwerkdynamik liegt bei 24 Prozent - aber auf den Topetagen wird die Netzwerkorganisation bereits favorisiert.
Die Führungskräfte gehen immer mehr in kooperative Modelle. Sie merken, dass sie Lösungen nicht mehr in rein wettbewerblichen Strategien finden können. Adäquate Lösungen sind immer nur kooperativ zu haben. "Ich gegen die Welt" - das funktioniert nicht mehr. So gibt es viele Hinweise darauf, dass sich hier tatsächlich ein Mindset ändert. Das heißt: Die Chancen für grundlegendes Umdenken sind gut. Das lässt mich für die Zukunft hoffen.
CIO.de: Und wie sieht die aus?
Peter Kruse: Das Einzige, was man sicher sagen kann, ist: Ein Zurück in alte Modelle kann vielleicht bei dem einen oder anderen noch für einige Zeit als Wunschvorstellung überleben, aber die Wirklichkeit in den Unternehmen und in der Gesellschaft wird sich auf Dauer nicht gegen die neuen Herausforderungen verschließen können: Und bist du nicht willig, so brauch ich Geduld.
Vita - Peter Kruse
Prof. Dr. Peter Kruse ist am 1. Juni 2015 im Alter von 60 Jahren gestorben. Als Wissenschaftler und Berater ist er oft ausgezeichnet worden. Seine Forschung bewegte sich an der Schnittstelle von Neurophysiologie und Experimentalpsychologie. Er war zudem Gründer und Ideengeber des Beratungsunternehmens Nextpractice GmbH in Bremen, das sich auf die strategische und praktische Begleitung von kulturellem Wandel sowie Trend- und Zukunftsforschung spezialisiert hat. Kruse widmete sich dabei vor allem Management- und Führungsthemen sowie der Analyse von Veränderungen in Markt und Gesellschaft.
Gemeinsam mit dem Kooperationspartner ChangeX berichten wir über Themen, in denen es um neue Formen der Führung geht, wie Unternehmen morgen funktionieren werden, auf den Punkt gebracht: wie die Arbeitswelt von morgen aussieht. ChangeX ist die Online-Plattform für Zukunftsideen, neue Wirtschaft und Innovation. ChangeX behandelt Themen, die morgen wichtig werden. Und forscht in Essays, Interviews, Buchrezensionen und Reports nach Ideen mit Zukunft. Motto: "In die Zukunft denken". Ziel: Angesichts der Turbulenzen der Zeit den Überblick zu wahren. changeX erscheint im Abonnement online unter http://www.changex.de/Home und bietet Abo-Angebote für unterschiedliche Nutzerinteressen vom Lesen bis hin zum Weitergeben von Beiträgen unter Creative-Commons-Lizenz. |