Markus Bentele war ernsthaft sauer. Der Corporate CIO von Rheinmetall hatte auf einer Veranstaltung des CIO-Magazins über den Einsatz neuer, schicker Collaboration-Tools referiert, und kurze Zeit später titelt die Redaktion: Web 2.0 läuft nicht. "Ich habe Ihnen doch gezeigt, was wir bei Rheinmetall damit schon erreicht haben", echauffierte sich Bentele am Telefon und schob auch gleich einen Beitrag im CIO-Forum "Neues Arbeiten" nach. In dem lesenswerten Artikel erklärt er auf etwa sechs Seiten alle Vorzüge vom Web 2.0 im Unternehmenseinsatz, bislang ungeschlagen der längste Beitrag im CIO.de-Netzwerk.
2009, so eine Forrester-Studie, arbeitete bereits die Hälfte aller Unternehmen in irgendeiner Form mit Web-2.0-Software (vgl. Grafik Seite 1, "Web 2.0 in Unternehmen"). Die meisten tun dies in erster Linie, um mehr Sichtbarkeit, aber auch eine größere Streuung von Wissen innerhalb des Unternehmens zu bekommen. Sie wollen darüber hinaus die Kommunikation verbessern und hoffen, drittens, Projekte erfolgreicher durchführen zu können (vgl. Grafik Seite 2, "Warum Web 2.0").
Das Problem: Es gelingt nur selten, dem Mitarbeiter diese Motive nahezubringen. Beim IT Excellence Benchmark 2009 antworteten mehr als 12.000 Mitarbeiter aus 60 Unternehmen auf die Frage, welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Kollegen sie haben beziehungsweise nutzen. Die Antworten belegen, dass deutsche Unternehmen bei Web-2.0-Techniken noch ziemlich am Anfang stehen (vgl. Grafik Seite 3, "Collaboration in Unternehmen").
Der Einsatz der Werkzeuge hat im Privaten begonnen und schwappt erst in einem zweiten Schritt in die Unternehmen. Selten wird das Thema von oben verordnet, in den meisten Fällen entsteht es an der Basis, in der Belegschaft, bei Einzelnen, die bereits außerhalb des Unternehmens twittern, bloggen oder im Web socialisen. "U-Boot-Strategie" nennt Frank Schönefeld diese Form der Verbreitung, die zum Wesenszug von Web 2.0 gehört und eine Herausforderung für die klassische Vorgehensweise in Unternehmen darstellt. Schönefeld ist Mitglied der Geschäftsleitung der T-Systems Multimedia Solutions GmbH und Autor des Buches "Web 2.0 Praxisleitfaden".
Zahlreiche Einsatzfelder
Schönefelds Kollege von der Deutschen Telekom Torsten Witusch war es, der ebenfalls auf die Provokation von CIO reagierte. Web 2.0 laufe nicht in Unternehmen? Im Gegenteil, sagt Witusch. "Bei uns läuft es, und es läuft gut." Der Senior Manager für Products & Innovation bei der Telekom beobachtet seit Längerem die Verbreitung von Web 2.0 im Konzern. Es gibt Blogs von Managern, um Mitarbeiter über Veränderungen auf dem Laufenden zu halten. Es gibt Projekte, die effizienter erledigt werden dank des Einsatzes von Collaboration-Tools, oder es werden Wikis aufgebaut, die das Know-how von Experten der Gemeinschaft zur Verfügung stellen.
Etwa in der Anwendungsbetreuung und dort bei dem leidigen Thema Schichtwechsel. "Die Betreuung der Applikationen, das Einspielen von Patches, Virenscannern oder anderem lässt sich unkompliziert in Blogs dokumentieren – und an die nächste Schicht weiterreichen", berichtet Witusch. Auch die Dokumentation via Web-2.0-Tools in der Softwareentwicklung biete sich an. Witusch weiß: Hier kann durch die gezielte Nutzung von Collaboration-Software schneller und effizienter gearbeitet werden, wodurch sich bis zu 30 Prozent der bisherigen Kosten einsparen lassen.
Durch die Einfachheit der Anwendungen und weil viele Kollegen mit den Prinzipien der Technik vertraut sind, werden die Werkzeuge auch genutzt. "Die Hebelwirkung, die diese Werkzeuge besitzen, haben wir noch gar nicht ausgeschöpft", meint Witusch. Dabei geht es weniger um die Veränderung von Abläufen. "Mit den Tools bin ich in der Lage, existierende Prozesse einfacher, intuitiver und aus dem privaten Umfeld gewohnter Art abzubilden."
"Die Wertschöpfung eines Unternehmens wird von der Fähigkeit bestimmt, verteiltes Wissen überall im Unternehmen generieren zu können", erklärt Markus Bentele, der bei Rheinmetall neben dem Amt des Corporate CIOs auch das des Chief Knowledge Officers bekleidet, also die technische und die inhaltliche Frage von Wissens-Management in einer Person vereint. Wie Witusch und Schönefeld sieht er eine Fülle von Einsatzmöglichkeiten von Web 2.0 im Unternehmen, vom Bereitstellen simpler Informationen wie Position und Durchwahl der Mitarbeiter (yellow pages) bis hin zur komplexen Organisation von virtuellen Teams.
Das Unternehmen wandelt sich "vom Produktionsort zum Denkplatz", so Benteles These. Dahinter steht ein Lernprozess auf sämtlichen Hierarchieebenen. Wissen zu erfassen, zu verteilen und zu teilen wird nichts sein, was sich verordnen lässt. Es erfordert stattdessen auch eine große Portion Engagement. "Dem Abbau potenzieller Barrieren kommt eine wichtige Rolle zu", sagt Bentele. Der Erfolg sozialer Netzwerke hängt somit stark von der Bereitschaft jedes Einzelnen zur Kommunikation und Kooperation ab. Motivation, aber auch Eigeninitiative der Mitarbeiter sind entscheidend.
Damit das Unternehmen gewinnt, werden Einzelne verlieren müssen. Herrschaftswissen, also die Hortung von Informationen, um die eigene Position zu sichern, wirkt kontraproduktiv, kann alles zum Scheitern bringen. Die Bedeutung von Kommunikation innerhalb des Unternehmens wird neu geschrieben. Das Management hat sich vom hierarchischen Dialog zu verabschieden und muss die vernetzte Zusammenarbeit auch und vor allem durch das eigene Zutun fördern.
Bentele ist kategorisch: Informationen und Wissen sind nutzlos, wenn sie nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort in der richtigen Form bereitgestellt werden. Sagt der Chief Knowledge Officer. Und der CIO Bentele sorgt für die entsprechenden technischen Voraussetzungen. Auf Basis von SAP Enterprise Portal hat der Konzern vor zwei Jahren begonnnen, eine neue Softwareplattform mit Collaboration-Tools aufzubauen und in das Portal zu integrieren. Weil offen, flexibel und kompatibel zur heterogenen IT-Infrastruktur, fiel die Wahl auf eine IBM-Lösung mit Lotus Quickr, Lotus Connections und Lotus Sametime.
Der Herzschlag des Unternehmens
In den Rheinmetall-Intranets Gate2defence und Gate2-automotive stehen den Kollegen nun unterschiedliche Funktionen für den Wissenstransfer beziehungsweise die Wissensspeicherung zur Verfügung. "Wir offerieren den Mitarbeitern einen Werkzeugkoffer mit einer breiten Auswahl", sagt Benetele. "Lediglich die groben Kategorien der Tools sind vorgegeben, über die Art des Einsatzes entscheidet der Bedarfsträger."
In einem sogenannten ProcBlog beispielsweise notiert ein Prozessmanager den gerade gelernten Stoff aus einem Seminar per Web-Tagebuch. Bestimmte "Lessons learned" aus einem Projekt werden im geschützten Teambereich festgehalten – geschehen etwa beim Zusammenschluss von Rheinmetall und MAN.
Nicht zu vernachlässigen ist laut Bentele auch die Motivation von Mitarbeitern. Sie geschieht mithilfe von Web 2.0 im doppelten Sinn: 1. Die Bereitstellung neuer Tools kommt jungen Mitarbeitern entgegen und macht das Unternehmen als modernen Arbeitgeber attraktiv. 2. Die Chance, dass sich jeder aktiv einbringen kann, bringt letztlich auch eine bessere Leistung durch die Mitarbeiter, was wiederum das Unternehmen und seine Wettbewerbsposition verbessert.
Den Unternehmen stelle sich damit nicht nur die Frage der Technik, ergänzt T-Systems-Mann Frank Schönefeld. Hinter Web 2.0 schimmert der noch vage Begriff des "Enterprise 2.0" durch. Und das heißt neues Denken: "Enterprise 2.0 hat drei Stoßrichtungen", so Schönefeld. Die Zusammenarbeit der Mitarbeiter verändert sich, die Wertschöpfung wird auf neue Füße gestellt, und letztlich wird auch die Kommunikation mit den Kunden anders. "Darauf müssen sich die Unternehmen einstellen", ist Schönefeld sicher.
Das Management muss – wenn es den Wandel wünscht – diese Folgen ernst nehmen, trifft es am Ende doch die Unternehmensführung selbst. In letzter Konsequenz werden mit den neuen Technologien Barrieren in den Unternehmen beseitigt. Schönefeld ist begeistert: "Dank neuer Wege und Werkzeuge werden Manager den Herzschlag ihres Unternehmens spüren." Und das eigentlich nur, weil Kommunikation ins Fliegen kommt und unabhängig von Raum und Zeit stattfindet.
Online-Community: Die 90-9-1-Regel
Der Däne Jacob Nielsen hat in seinem Beitrag "Participation Inequality: Encouraging More Users to Contribute" eine 90–9–1-Regel zur Nutzung von Communities aufgestellt: "90 Prozent der Nutzer lesen und schauen nur zu, neun Prozent beteiligen sich von Zeit zu Zeit, und nur ein Prozent der Nutzer trägt proaktiv Content bei; von ihnen stammen die meisten Beiträge." Mit anderen Worten: Die überwältigende Masse der Nutzer ist lediglich Nutznießer dessen, was andere produzieren. Die Quote lässt sich verbessern durch: Die Beteiligung muss so einfach wie möglich sein. Beiträge, die aus der Routinetätigkeit entstehen, sollten direkt einfließen können – gewissermaßenein Nebenprodukt sein. Vorlagen und Templates sollen es dem Nutzer erleichtern, Beiträge abzugeben. Er soll Texte erstellen und kein Layouter sein. Die Vergütung sollte angemessen sein und motivieren, nicht verzerren. Es sollte Wert auf qualitativ hochwertige Beiträge gelegt werden. Unter diesem Link veröffentlicht Jacob Nielsen übrigens regelmäßig Beiträge zum Thema Web Usability. |