Ob ein Bankberater im Kundengespräch mit einem Klick alle notwendigen Informationen erhält oder erst einmal zehn verschiedene Bildschirmfenster öffnen muss, kann darüber entscheiden, ob der Kunde hinterher zufrieden ist oder vielleicht genervt geht. Die Anwendungen bestimmen das Ergebnis vieler Geschäftsprozesse. Wie effizient Mitarbeiter arbeiten können, hängt stark von der Qualität der Applikationen ab - je nach Branche bis zu 80 Prozent.
Die richtigen Investitionen in Anwendungen können unmittelbar Früchte bei Kosten und Produktivität bringen. Zudem werden Performanceprobleme oder Qualitätsmängel hier sofort wahrgenommen. Die Anwendungen sind der Teil der IT, der sowohl den Geschäftserfolg als auch die Nutzerzufriedenheit am meisten prägt.
Doch ausgerechnet dieser kritischste Bereich stellt hinsichtlich der kontinuierlichen Qualitätssicherung und der Investitionsentscheidungen die größte Herausforderung dar. Die verschiedenen IT-Disziplinen folgen nämlich einer unterschiedlichen Dynamik. In der Infrastruktur - Data Center, Desktop, Telekommunikation - werden durch den technologischen Wandel stetig neue Investitionszyklen angestoßen. Dieser externe Treiber sorgt dafür, dass immer wieder eine neue Generation von Geräten eingeführt und so die komplette Infrastruktur regelmäßig ausgetauscht wird. Produktivität und Effizienz werden hier durchschnittlich im Fünf-Jahres-Rhythmus optimiert.
Mehr die Hälfte des IT-Budgets für Anwendungen
In der Anwendungswelt hingegen fehlt die externe Innovation als Triebkraft. Zudem handelt es sich fast ausschließlich um Personalleistungen. Die Folge: Verteilten sich die IT-Budgets noch vor zehn Jahren zu 60 Prozent auf die Infrastruktur und zu 35 Prozent auf die Applikationen (der Rest war Overhead), ist der Anteil der Anwendungen ständig gestiegen und liegt heute - je nach Branche - teilweise schon über 50 Prozent.
Da zugleich die IT-Gesamtbudgets insgesamt knapper werden, stehen die Verantwortlichen vor zwei Herausforderungen: die Anwendungen stetig zu optimieren - und die Investitionen dafür gezielt zu steuern. Aber gerade beim letzten Aspekt liegt noch immer vieles im Argen.
Neuentwicklungen werden inzwischen besser geplant
Zwar wird zumindest bei Neuentwicklungen mittlerweile vielfach nach strategischen Kriterien entschieden, etwa durch Priorisierung nach Businessanforderungen oder ROI-Betrachtungen. Beispielsweise können bei einer Automatisierung von Geschäftsprozessen die prognostizierten Einsparungen in Relation zu den Kosten der erforderlichen IT-Investition gesetzt und die Resultate später gemessen werden. Außerdem gibt es hier teilweise externe Anlässe wie neue gesetzliche Vorgaben.
Pflege und Wartung hingegen sind weniger "sichtbar", ihre Relevanz ist weniger transparent und der Handlungsbedarf nicht auf den ersten Blick evident. Er wird eher von Spezialisten erkannt, und das entsprechende Wissen ist auf verschiedene Gruppen verteilt.
Deshalb dominiert in der Wartung oft die informelle Entscheidungsfindung. Wer am besten im Unternehmen vernetzt ist, wer sich in den Entscheidungsgremien am besten durchsetzen kann, "am lautesten schreit" bekommt oft den Zuschlag. Dabei handelt es sich dann nicht unbedingt um die Applikation, die zum Geschäftserfolg am meisten beiträgt oder den größten Änderungsbedarf hat.
Der IT-Entscheider ist leider kein Korrektiv
Das gilt nicht nur für die Business-Seite, sondern ebenso für die Technik. Der IT-Verantwortliche will in der Regel "seine" Anwendung stärken und versucht ebenfalls, so viel Geld wie möglich zu bekommen. Er stellt deshalb bei der Entscheidungsfindung kein Korrektiv dar - indem er etwa darauf verweist, dass aufgrund technischer Mängel vielleicht eine andere Anwendung vorgezogen werden sollte - sondern verstärkt eher das Ungleichgewicht.
Als Folge werden die Wartungsbudgets oft sehr willkürlich nach "weichen", nicht nachvollziehbaren Kriterien verteilt. Doch steckt dahinter zugleich ein systemischer Mangel: In mehr als 50 Prozent der Fälle sind die Entscheider überhaupt nicht in der Lage, die IT-Budgets auf einzelne Applikationen herunter zu brechen.
Das heißt im Klartext: Entscheidungen, die unmittelbar den Erfolg des Unternehmens beeinflussen, werden vielfach "ins Blaue" hinein getroffen. Die Verantwortlichen brauchen deshalb systematische Ansätze, damit sie auch die Mittel für die Wartung nach strategischen Kriterien zielgerichtet und mit maximalem Nutzen für das Unternehmen investieren können.
Großes Versicherungsunternehmen hat eine Methodik umgesetzt
Die IT eines großen deutschen Versicherungsunternehmens hat kürzlich eine solche Methodik umgesetzt. In dem Projekt haben die Verantwortlichen das Applikationsportfolio mit einem Wartungsbudget von mehr als 20 Millionen Euro betrachtet. Um Investitionsentscheidungen faktenbasiert treffen zu können, bewerteten sie jede Anwendung nach verschiedenen Dimensionen. In einem Quadranten teilten sie schließlich die Applikationen in vier Gruppen ein (siehe Grafik 1 oben). "Verschönern" (allenfalls kleine Überarbeitungen an der Oberfläche erforderlich), "Renovieren" (Erneuerung einzelner Funktionen), "Sanieren" (zum Teil tiefgreifende Eingriffe in Struktur und Funktionen notwendig) und "Abreißen und neu bauen" (wegen durchgängig schlechter Werte wird ein Ablöseplan erstellt).
Welche Kriterien lagen nun dieser Einteilung zugrunde? Dazu wurde ein Entscheidungsmodell entwickelt, das drei übergreifende Dimensionen umfasste: Business, Technologie sowie Sicherheit/Compliance.
Drei Dimensionen des Entscheidungsmodells
1. Business:
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Inwieweit deckt sich die vorhandene Anwendungslandschaft mit den Wertschöpfungsprozessen?
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Wie gut unterstützt die einzelne Applikation die geschäftlichen Anforderungen?
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Ist sie zeitgemäß und zukunftsfähig?
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Passt sie zur Ziellandschaft in zehn Jahren?
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Wie hoch sind die Kosten (Betriebs- und Wartungskosten) im Vergleich zum Markt?
7 Fragen an die Technik
2. Technologie
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Ist die Anwendung konform zur Architektur und den Standards im Unternehmen?
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Wie ist der Innovationsgrad der eingesetzten Technologien zu bewerten?
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Wie steht es um Stabilität, Performance und Fehlerhäufigkeit?
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Wie gut ist die Anwendung zu warten?
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Wie viele technische Schnittstellen gibt es?
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Wie steht sind Modularisierungsgrad und Erweiterbarkeit?
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Wie ist die Anwendbarkeit, etwa hinsichtlich Applikationsergonomie, Handhabbarkeit und Automatisierungsgrad?
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Wie gut ist der Dokumentationsgrad (fachlich und technisch)?
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Bestehen Abhängigkeiten von Lieferanten, sind genügend interne und externe Mitarbeiter heute und künftig verfügbar?2.
Sicherheitsaspekte und Compliance
3. Sicherheit und Compliance
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Werden die Sicherheitsanforderungen unterstützt, wo gibt es Lücken?
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Entspricht die Anwendung den aktuellen Anforderungen des Datenschutzes?
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Werden die externen und internen Compliance-Richtlinien - die gerade in den letzten Jahren ausgebaut wurden - hinreichend unterstützt?
Anschließend wurden in Arbeitsteams Kriterien zur Bewertung dieser Aspekte entwickelt. Sie basieren auf den Einschätzungen von Applikationsverantwortlichen und Anwendern, Ergebnissen aus Umfragen (beispielsweise zur Anwenderzufriedenheit) sowie Kennzahlen mit harten Fakten. Hierzu wurden vielfältige Quellsysteme herangezogen wie das Anwendungssystem selbst, Buchhaltung, Controlling, IT-Strategie oder Sicherheitsabteilung.
Diese Kriterien wurden in Beziehung gesetzt und priorisiert - sowohl nach Leading Practices auf dem Markt als auch internen Bewertungen. In einem iterativen Moderationsverfahren gewichteten die Experten zunächst die einzelnen Kriterien. Ausreißer vom Durchschnitt wurden dann im Team diskutiert, und in der nächsten Runde ändern alle Beteiligten wieder ihre Kriterien. So wurde im Konsens eine einheitliche Skala entwickelt. Ein Ergebnis konnte zum Beispiel eine Kennzahl zur Anwenderzufriedenheit sein, als gewichteter Index aus den Teilgebieten Stabilität, Performance, Fehlerhäufigkeit und Automatisierungsgrad.
Für jede betrachtete Applikation wurde zunächst eine Gesamtbewertung vorgenommen; anschließend wurden wiederum Teilaspekte betrachtet. Dies setzte natürlich voraus, dass ein immer detaillierterer Drill-Down möglich war. Da die Kennzahlen anhand standardisierter Methoden gewonnen wurden, ließ sich die interne Einschätzung sowohl auf der Ebene des Gesamtportfolios als auch einzelner Applikationsbestandteile durch den Vergleich mit Leading Practices aus dem Markt verifizieren.
Wichtigster Nutzen: die Transparenz
Welche Vorteile hatte nun das Versicherungsunternehmen von diesem systematischen Ansatz? An erster Stelle steht die Transparenz. Anhand der Matrix aus Dimensionen und Kriterien und der daraus entwickelten Metriken untersuchten und klassifizierten die Entscheidungsteams 75 Prozent der Hauptsysteme - das war der geschäftskritische Kern der Anwenderlandschaft.
Dieser pragmatische Ansatz erwies sich als sinnvoll, denn bei vielen Kleinapplikationen hätte Aufwand das potenzielle Ergebnis überlagert. Der Wartungsbedarf wurde nach objektiven Kriterien priorisiert - wobei auch ein kleiner Spielraum für "Bauchentscheidungen" verblieb.
Mögliche Handlungsempfehlungen
Diese neue Transparenz war Grundlage für gezielte, faktenbasierte Entscheidungen über Investitionen in die Wartung - und damit die Allokation des Wartungsbudgets nach strategischen Gesichtspunkten. Aus der Analyse wurden direkt Handlungsempfehlungen für die Applikationen abgeleitet. Sie konnten beispielsweise lauten:
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die Anwendung komplett ablösen
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die Anwendbarkeit durch Fehlerbeseitigung und höhere Performance verbessern
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Skills und Mitarbeiter-Ressourcen ausbauen, etwa durch Umverteilung, Weiterbildung, Einarbeitung etc.
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den Parametrisierungsgrad steigern
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die Zahl der Schnittstellen reduzieren
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oder auch: durch zusätzliche Schnittstellen den Automatisierungsgrad im Fachbereich erhöhen.
Wie unterschieden sich nun die Investitionsentscheidungen aufgrund dieser systematischen Bewertung von der bisherigen Praxis? Teilweise wurden vorhandene Meinungen durchaus bestätigt. Das betraf vor allem die oberen und unteren zehn Prozent "Vollkommen in Ordnung" ebenso wie "Abreißen und neu bauen". Hier war die Situation offenbar so eindeutig, dass auch spontane Entscheidungen richtig lagen.
Überraschungen im "Mittelbau" der Anwendungen
Einige große Überraschungen gab es jedoch im "Mittelbau": bei Anwendungen, die nicht so sehr im geschäftlichen Fokus standen, die eher ruhig und solide betrieben wurden und deren Betreuer sich nicht so gut Gehör verschaffen konnten. Hier stieß man zum Teil auf großen Änderungsbedarf, der vorher nicht gesehen worden war. Er wurde dann in der Analyse mit Experten bestätigt. Oft vernahm man dann die Aussage: "Ich weise darauf schon seit Jahren hin - aber Ihr habt mich nicht gehört."
Nicht nur dringender Handlungsbedarf wurde so erkannt - auch für Systeme im "gelben" Bereich konnten frühzeitig Maßnahmen identifiziert werden.
Eine Budgetverteilung wird immer Diskussionen verursachen, mag sie auch noch so sehr objektiviert sein. Die Entscheidungssysteme sollten deshalb belastbar sein: nachvollziehbar dokumentiert, mit Metriken möglichst auf allen Ebenen, damit die Diskussionen bis in die Details auf sachlicher Grundlage geführt werden können.
Regeln des Change Managements beachten
Auch sollten bei der Einführung die Regeln des Change Managements beachtet werden, was insbesondere heißt: Das System benötigt die Unterstützung des Top-Managements aus Business und IT. Auch empfiehlt sich der klassische Zweischritt von Pilotphase und - wenn diese erfolgreich war - Übernahme in den Regelbetrieb.
Wichtige Prozesse wie Kapazitätsplanung, Budgetierung und Controlling sollten eingebunden werden. Viele Schnittstellen lassen sich automatisieren, etwa zum Import der Daten aus den Quellsystemen und des Workflows für die Applikation.
Eine Zeitreihenbetrachtung optimiert die Bewertung der Anwendungen kontinuierlich. So können etwa die Verantwortlichen nach einem Jahr nachprüfen, ob das Ziel einer Wartungsmaßnahme erreicht, die Applikation somit verbessert und das Geld sinnvoll investiert wurde. Sie können das System immer feiner nachjustieren. So wird auch der kontinuierliche Verbesserungsprozess des Applikationsportfolios unterstützt.
Alexander Müller-Herbst ist Geschäftsführer bei der Compass Deutschland GmbH.