Wenn Steffen Walz das Kunstwort Gamifikation erklären will, ist er selbst sein bestes Beispiel. Der Spieleforscher am Royal Melbourne Institute of Technology im australischen Melbourne erhielt kurz vor seinem 40. Geburtstag von seinem Arzt eine unerwartete Diagnose: Diabetes Typ 2. Zuckerkrank, dafür fühlte sich der Vater zweier kleiner Kinder viel zu jung. Doch seine Kochleidenschaft hatte sichtbare Spuren auf den Hüften hinterlassen. Die Kilos sollten weg. Walz, der auch ein Spiele-Labor in Karlsruhe leitet, verzichtete auf Alkohol und pflegte wieder seine alte Leidenschaft Tischtennis. Aber das Wichtigste: Er verbündete sich mit seiner intelligenten Waage namens Aria des Herstellers Fitbit.
Sie tut zuerst, was alle Waagen tun: wiegen, den Body-Mass-Index sowie den Fett- und Wassergehalt bestimmen. Doch sie kann noch mehr - sie sendet die Werte auch an Mitstreiter im Netz, die darum wetteifern, wer am meisten Gewicht verliert. Alles wird gemessen und in Grafiken abgebildet. Wer macht die meisten Schritte pro Tag, ist am meisten in Bewegung? Wer sein Gewichtsziel erreicht, wird vom System, den Mitstreitern und, wer das will, per Twitter und Facebook angefeuert. Walz maß sich mit seiner Frau. Der Wettkampf trieb beide an: Ihre Gewichtskurven zeigten steil nach unten. Nach vier Monaten hatte er 20 Kilogramm Gewicht verloren und fühlte sich pudelwohl.
Für Walz ist klar: Fast überall lassen sich hilfreiche Spielsituationen einbauen, von der Belohnung für korrektes Zähneputzen, für die Extraportion Bewegung nach dem Mittagessen bis hin zu nervigen Haushaltstätigkeiten oder monotonen Arbeiten. Gamifikation nennt sich dieser Trend und meint, typische Elemente aus Spielen im vermeintlich ernsten Alltag zu nutzen. Dazu gehören etwa Highscores, also Tabellen, sortiert nach den Punktzahlen von Spielern, die diese beispielsweise für das Besiegen von Gegnern, Einsammeln von Schätzen oder schlichtes Überleben erhalten haben. Aber auch Fortschrittsbalken, die das Erledigen von Aufgaben visualisieren, Belohnungen oder Auszeichnungen zählen dazu, all das eingebettet in eine Geschichte. Die Programme nutzen unseren Spieltrieb und den Wunsch, sich zu vergleichen, um zu begeistern, etwas beizubringen oder monotone Arbeiten interessanter zu machen. Immer mehr Firmen setzen auf diese Methode.
Spielerisch gegen Diabetes
Das Geschäft spielerischer zu gestalten ist mittlerweile eine eigene Branche geworden. US-Unternehmen wie Badgeville und Bunchball bieten als Pioniere der Gamifizierung Systeme an, um etwa Leistungsvergleiche in die Web-Seiten der Kunden zu integrieren. Der US-Konzern Salesforce, Anbieter von Cloud-Computing-Diensten, hat Gamifikation in Produkte für den Vertrieb und den Kundenservice integriert.
Den Spieltrieb entdeckt
Walz nutzt seine persönlichen Erfahrungen und entwickelt gerade mit seinem Team in Karlsruhe gemeinsam mit dem Pharmakonzern Novartis ein Spiel: Es soll Diabetes-Patienten spielerisch dazu animieren, ihren Lebensstil nachhaltig zu ändern, sich gesünder zu ernähren und sich mehr zu bewegen.
Die Erwartung ist: Spielerische Elemente sollen die Motivation steigern. Das klappt auch am Arbeitsplatz bestens, wie Byron Reeves herausfand, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Stanford-Universität. Ein wesentliches Element sei dabei ein deutliches und sofortiges Feedback auch nach kleinen Projekterfolgen und nicht erst am Jahresende in Form eines Bonus. Das entspricht der Strategie in Spielen, eine Aufgabe - etwa einen Feind zu besiegen - in viele kleine Abschnitte zu zerlegen und das Erreichen einer neuen Stufe mit Punkten und Auszeichnungen zu feiern.
Das Prinzip ist nicht neu. Die Initiatoren machen sich ein Konzept zunutze, das die Verhaltenstherapie schon in den Sechzigerjahren nutzte: Die sogenannte Token Economy ist ein systematisches Belohnungssystem, das durch die gezielte Vergabe von Tauschgegenständen, etwa Münzen, Verhalten ändern soll. Tut der Betreffende das Gewünschte, erhält er Tokens. Die kann er dann nach einem festgelegten Plan in begehrte Aktivitäten oder Dinge tauschen, etwa fünf Tokens in einen Kinobesuch. Was heute chic Gamifikation heißt, ist im Grunde eine Weiterentwicklung dieses Systems, das ursprünglich in psychiatrischen Anstalten oder Gefängnissen angewandt wurde. Heute wird es vor allem um spielerische Elemente ergänzt, beispielsweise aus Fantasy-, Baller- oder Rollenspielen.
Ein Vorbild ist etwa das weltweit meistverkaufte Handyspiel des finnischen Entwicklerteams Rovio Entertainment namens Angry Birds (englisch für Zornige Vögel). Innerhalb des Spiels gibt es ein klares Ziel: Eliminiere möglichst viele grüne Schweine, indem du sie und ihre Verstecke mittels Steinschleudern mit Vögeln beschießt. Der Spieler erhält bei jedem abgefeuerten Federvieh sofort Feedback, indem er beispielsweise ihren Einschlag hört, Objekte lautstark explodieren sieht oder Jubel ertönt. Anschließend summiert das Spiel die Punkte für die erbrachte Leistung. All diese Aspekte stimulieren das Unterbewusstsein weiterzumachen. Der Spieler will seine Fähigkeiten und die erreichten Punktestände kontinuierlich verbessern.
Solche Spiele gibt es schon eine Weile, Angry Birds stammt beispielsweise aus dem Jahr 2009. Die Frage ist: Warum entdecken die Firmen ausgerechnet jetzt den Spieltrieb? Ganz einfach: Weil ihre Kunden und Mitarbeiter genau das erwarten. "Wer heute in den Beruf kommt, hat schon mehr als 10.000 Stunden mit Videospielen verbracht", erklärt Mario Herger, der für das Walldorfer Softwareunternehmen SAP eine weltweite Initiative zur Gamifizierung im Unternehmen leitet und jetzt mit seiner Firma Enterprise Gamification Consultancy von Kalifornien aus Unternehmen bei der Gamifizierung berät. Er ist überzeugt, dass alle Firmen in Zukunft nicht umhin kommen, ihr Geschäft für die Berufsstarter kompatibel zu machen. Die Generation Y gehe dahin, wo ein Spiel läuft, ist Heike Simmet, Professorin für Betriebswirtschaftslehre in Bremerhaven, überzeugt.
SAP ist nicht alleine, es gibt in vielen Branchen (siehe oben) eindrucksvolle Beispiele, wie gut Gamifikation funktioniert:
Verkäufer auf dem Kriegspfad
Die niederländische Rabobank, die in über 48 Ländern fast 60.000 Mitarbeiter beschäftigt, hat eine eigene Abteilung, die sich damit befasst, spielerische Elemente im Finanzbereich einzusetzen. Maarten Molenaar, Gamifikation-Manager der Bank, fahndet nach den Erfolgsprinzipien guter Spiele: "Das Geheimnis erfolgreicher Gamifikation lautet: Kein Ziel ist erstrebenswerter als positive Emotionen."
Eine ganze Lehrveranstaltung als Spiel
Beim ersten Problem, das er im Unternehmen lösen musste, ging es um Wartezeiten im Service. Es dauerte meist mehrere Tage, bis die Mitarbeiter die Frage der Kunden beantwortet hatten. Mithilfe dreier Elemente der Gamifikation verkürzte er die Wartezeit um die Hälfte:
Wettbewerb zwischen mehreren Gruppen,
unmittelbare Sichtbarmachung von Fortschritten,
Belohnungen.
Molenaar hat etwa eine elektronische Anzeige eingerichtet, die den Mitarbeitern - wie Hürdenläufern bei einer Olympiade - vor Augen führt, wo sie mit ihrer Leistung im Vergleich zu den anderen Serviceteams gerade stehen. Das weckt den sportlichen Ehrgeiz und belohnt die Mitarbeiter im Erfolgsfall mit einem Gemeinschaftserlebnis. Zudem hat, so die Erfahrung Molenaars, die unmittelbare Rückmeldung durch die Anzeigetafel einen deutlich höheren Einfluss auf das Verhalten als ein Personalgespräch am Jahresende.
Bestenlisten und Belohnungen sind wie geschaffen für Beschäftigte im Vertrieb, die sich schon seit jeher darin messen, wer beispielsweise der beste Verkäufer ist. Um ihren Vertrieb zu schulen, setzt die SAP daher auf ein Spiel namens Roadwarrior. Wer es startet, sieht als Erstes das Videobild eines Kunden, den es zu gewinnen gilt. Dann beginnt ein Verkaufsgespräch, bei dem der Spieler aus mehreren Antworten wählen kann. Ein kleiner Zeiger am Bildschirmrand verrät, wie es für ihn läuft. Grün steht für gut, rot für schlecht. Am Schluss sieht er, wie er im Vergleich zu seinen Kollegen abgeschnitten hat. Der Erfolg: Die Abschlussrate der SAP-Vertriebsleute ist durch die spielerische Schulung um einen zweistelligen Prozentsatz gestiegen.
Legenden des Lehrplans
Einhörner, Orks, Goblins und Elfen sind für Düsseldorfer Studenten keine unbekannten Wesen. Sie begegnen ihnen regelmäßig. Zumindest den rund 150 Studierenden des Bachelorstudiengangs Informationswissenschaft und Sprachtechnologie. Nicht zum bloßen Zeitvertreib, sondern zum Lernen. Denn seit dem Sommersemester 2013 steht bei ihnen "Die Legende von Zyren" auf dem Lehrplan. Kathrin Knautz, Dozentin an der Düsseldorfer Universität, hat mit einem Team eine ganze Lehrveranstaltung als Spiel konzipiert. 600 Seiten Drehbuch sind dabei herausgekommen, eine Grafikerin zeichnete die Fantasy-Charaktere. Ziel war es, die bisher hohe Durchfallquote zu senken und die Studierenden zu motivieren, sich mit dem Stoff zu befassen.
Wer in die virtuelle Welt von Zyren eintaucht, muss als Student Rechenaufgaben, Lückentexte oder Multiple-Choice-Tests lösen, um für das nächste Level freigeschaltet zu werden. Für besonders fleißige Studenten gibt es zudem Zusatzaufgaben. Wer welches Niveau erreicht hat, wird angezeigt und spornt den Ehrgeiz der anderen an. Erreicht der Student eine bestimmte Punktzahl, hat er den Kurs bestanden.
Mit dem Ergebnis ist Knautz zufrieden: "In meinen Seminaren waren die Studierenden motiviert und besser vorbereitet."
Tumorzellen zum Frühstück
Röchelnde Ungeheuer hetzen hinter bewegungsfaulen Menschen hinterher. Die einzige Rettung, um nicht von den virtuellen Zombies eingeholt zu werden: rennen. Denn wer Angst vor Zombies hat, joggt schneller. Die Jogging-App "Zombies, run!" will unterhalten und die Gesundheit ihrer Nutzer fördern.
Magisches Rezept
Etwas gelassener geht es bei dem Klassiker "Geocaching" zu. Bei der digitalen Schnitzeljagd suchen Mitspieler auf der ganzen Welt mit GPS-Geräten nach versteckten Schätzen, die in wasserdichten Behältern irgendwo versteckt sind und die der Finder im Tausch mit einer neuen Gabe behalten darf. Mittlerweile soll es mehr als zwei Millionen solcher versteckten Schätze geben. Ganz offensichtlich helfen solche Spiele, den inneren Schweinehund zu überwinden, der einen sonst auf dem Sofa festhält.
Nicht um eine Schatzsuche, sondern um Ablenkung von Schmerzen geht es bei dem Spiel "Snow World". Das haben Ärzte des Harborview Medical Center in der amerikanischen Stadt Seattle für Brandverletzte während der äußerst schmerzhaften Wundreinigung entwickelt. Erstaunliches Ergebnis: Die Ärzte senken die Schmerzwahrnehmung ihrer empfindlichen Patienten mit dem Spiel deutlich effektiver als mit hochdosierten opiumähnlichen Medikamenten.
In Deutschland zögern Krankenhausärzte meist noch, Spiele einzusetzen, in den USA kommen immer mehr Patienten in den Genuss. Eines der teuersten und aufwendigsten ist das Projekt Re-Mission, das Pam Omidyar angestoßen hat, die Frau des Ebay-Gründers Pierre Omidyar. Spielerisch wird dort der Krebs besiegt, was die Widerstandskraft der Patienten und ihre Bereitschaft stärken soll, bei der oft langwierigen Therapie mitzumachen: So rauscht der Spieler beispielsweise als weißes Blutkörperchen durch den Körper. Deren Lieblingsspeise sind kleine und große Tumorzellen, die überall herumschwirren. Klar, dass der Spieler schnell die Verfolgung aufnimmt und versucht, so viele der schädlichen Krebszellen wie möglich zu verspeisen.
Gesundheit und Kundenbindung kombinieren clevere Angebote wie "Nike+". Ein Armband namens Fuelband des Sportartikelanbieters registriert alle Bewegungen seines Trägers, übersetzt diese in einen Zahlenwert, mit dem sich jeder mit anderen Nutzern auf der ganzen Welt messen kann. Natürlich kann der Träger auch mit der Bestzeit seiner Laufrunde durch den Park prahlen. So stehen alle Jogger dieser Welt plötzlich im Wettbewerb miteinander - zumindest im Netz. Erwünschter Nebeneffekt für Nike: Das Spiel gilt in der Branche als extrem klebrig, weil es seine Nutzer immer wieder auf die Nike-Produktseiten führt.
Es klingt wie ein magisches Rezept: Einfach Kunden und Mitarbeiter ein wenig zocken lassen, Punktetabellen einrichten, virtuelle Orden und Belohnungen verteilen- und schon steigen Spaß, Umsatz und Produktivität.
Doch ganz so einfach ist es nicht, weiß Spieleexperte Walz: Ein nachhaltiges Spiel in einem Unternehmen müsse einen echten Nutzen bieten, die Teilnahme freiwillig sein, immer spannend und nie demotivierend. "Nur Punkte verteilen reicht nicht."
(Quelle: Wirtschaftswoche)