Die Krise ist noch abstrakt: Während am Finanzmarkt die Wertverluste mit voller Wucht durchschlagen, fangen die Unternehmen verhältnismäßig langsam das Klagen an. Noch sind die Auftragsbücher voll. Die IT-Abteilungen könnten sich richtig nützlich machen - beispielsweise mit nachhaltigen SOA-Konzepten. Wäre da nicht der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften: "Für 60 Prozent der ITK-Mittelständler ist der Fachkräftemangel ein großes Problem", kommentiert etwa Bitkom-Vizepräsident Heinz Paul Bonn die Lage und fordert, Studiengänge der Informatik und Ingenieurwissenschaften attraktiver und praxisnäher zu gestalten. Zudem setzt sich Bonn für eine "gesteuerte Zuwanderung" ausländischer Experten ein.
Einer Bitkom-Studie vom Dezember vorigen Jahres zufolge sind rund 43.000 Stellen unbesetzt: 18.000 in der IT-Branche selbst und 25.000 in den Wirtschaftszweigen, in denen Informations- und Kommunikationstechnik zum Einsatz kommt. Ein Viertel der befragten Unternehmen müsse gar Aufträge aufgrund akuten Personalmangels ablehnen, so die Studie. Nach Bitkom-Schätzung kosteten unbesetzte Stellen die ITK-Unternehmen in 2007 rund eine Milliarde Euro. Ein Mangel herrsche häufig dann, meint Dieter Kastenhuber, Partner bei der Personalberatung Ray & Berndtson, wenn sehr spezifische Anforderungen an die Bewerber gestellt würden. Beispielsweise gibt es derzeit starke Nachfrage und Engpässe bei SAP-Experten, im Bereich Business Intelligence und Data Warehouse sowie bei Anwendungsentwicklern.
Traumhafte Aussichten für IT-ler auf Jobsuche und frischgebackene Absolventen von Hoch- und Fachhochschulen: 60 Prozent der für das Absolventenbarometer des Trendence Instituts befragten Informatikstudenten erwarteten noch 2007 "keine ernsthaften Schwierigkeiten bei der Jobsuche" - zehn Prozent mehr als im Vorjahr.
Eigenverantwortliches Arbeiten
Wie müssen sich deutsche Unternehmen angesichts der aus Bewerbersicht überaus entspannten Lage nun präsentieren, um attraktiv zu sein? Auch das weiß das Trendence Institut: Informatikabsolventen erwarteten attraktive, eigenverantwortliche Tätigkeiten, ein kollegiales Betriebsklima mit einem dazu passenden Führungsstil, Weiterbildungsmöglichkeiten, Aufstiegschancen, eine Karriere, die auch dem Privatleben Platz lässt, sowie eine sichere Anstellung. Das bestätigt auch Dieter Kastenhuber: "Die Work-Life-Balance, also die Vereinbarkeit von Job und Familie, steht wesentlich mehr im Vordergrund als früher."
Erst in zweiter Linie legten die Studierenden Wert auf ein innovationsstarkes Unternehmen sowie auf attraktive Produkte oder Dienstleistungen. Nachgeordnet sind auch Themen wie Einstiegsgehalt, Markterfolg und Standort. Aber berücksichtigen deutsche Unternehmen bei der Suche geeigneter Kandidaten auch diese Vorstellungen und Wünsche? Nein, sagen die Benchmarker und Innovations-Checker von Compamedia: Vielen Unternehmen fehle eine Strategie bei der Personalsuche. Vor allem beim Aufbau einer Arbeitgebermarke ("Employer Branding") gebe es große Defizite. Drei Viertel von ihnen agiere beim Personal-Marketing ohne feste Strategie.
Die CIOs und Personalverantwortlichen aus den Unternehmen sehen das naturgemäß anders, wie eine CIO-Umfrage bei namhaften deutschen Arbeitgebern ergibt. Demnach haben die Anbieter qualifizierter Stellen sehr wohl die Zeichen der Zeit erkannt: Sie setzen auf mobiles und flexibles Arbeiten, kümmern sich um die Work-Life-Balance und sorgen mit ambitionierten Weiterbildungsmöglichkeiten dafür, dass der frisch rekrutierte Nachwuchs auch auf Dauer im Unternehmen bleibt. Auf der Wohlfühl-Skala ziemlich weit unten - auch das stimmt mit den Vorstellungen der Absolventen durchaus überein - steht das Gehalt: "Wenn jemand zu uns kommt, weil es hier ein paar Euro mehr gibt, dann will ich ihn gar nicht haben", meint zum Beispiel Klaus Straub, beim Automobilhersteller Audi als CIO für die Geschicke der IT-Abteilungen verantwortlich. "Die Frage muss sein: Wie kann ich mich beruflich entwickeln? Denn wenn sich meine Stelle entwickelt, dann stimmt auch das Gehalt."
Weiterbildung reizt
Genau diese Entwicklung haben die meisten potenziellen Arbeitgeber im Fokus. Die Modelle und Praktiken sind dabei ebenso vielfältig wie der Markt selbst: So unterhalten Firmen wie die Darmstädter Software AG oder der Sportartikelhersteller Adidas aus dem fränkischen Herzogenaurach eigene - etwas hochtrabend "Universitäten" genannte - Institute für die Aus- und Weiterbildung. Gruner & Jahr beteiligt sich als Kooperationspartner an der privat organisierten Nordakademie und sucht dort nach den Worten von Oliver Radtke, Geschäftsführer Operations bei dem Hamburger Verlagshaus, vor allem Wirtschaftsinformatiker.
MTU Aero Engines setzt auf eine Studienstiftung für die Förderung potenziellen Nachwuchses, die Daimler AG und der Münchner Nutzfahrzeugehersteller MAN gehen verstärkt an die Universitäten und Technischen Hochschulen, um dort ihr Unternehmen konkret dem Nachwuchs schmackhaft zu machen. Audi und die Allianz-Servicetochter ASIC unterstützen neben der Weiterbildung von Hochschulabsolventen konsequent und mit speziellen Aus- und Fortbildungsprogrammen auch den Einsatz nicht-akademischer Kräfte mit Mittlerer Reife oder Abitur.
"Wir sind ausgesprochen flexibel, wenn ein Mitarbeiter den nächsten Schritt in seiner Karriere machen möchte", betont Kurt Servatius, COO bei der Allianz Shared Infrastructure Services GmbH (ASIC): "Wer beispielsweise für seine Weiterbildung eine Auszeit benötigt, kann mit uns individuelle Vereinbarungen darüber abschließen. Intern existiert zudem das Allianz Management Institut, das unter anderem auch die strukturierte Führungs- und Fachkarriere begleitet. Es wird genau darauf geachtet, dass unsere Führungskräfte die entsprechenden Ausbildungen ihrer Mitarbeiter einplanen, damit sie sich weiterentwickeln können."
Flexibles Arbeiten ist gefragt
Diese Konzentration auf das Thema "Qualifizierung" zeigt noch etwas anderes: Kaum ein Unternehmen hofft darauf, fertig ausgebildete Spezialisten frisch von der Uni rekrutieren zu können. Das gibt der Markt derzeit offenbar nicht her. Die meisten CIOs suchen daher allgemeine Fertigkeiten, die sie in der betriebseigenen Weiterbildung zu den gewünschten Fähigkeiten veredeln können. "Wir suchen Hochschulabgänger, die eine Affinität zum IT-Bereich haben", sagt etwa Gottfried Egger, CIO bei der MAN Nutzfahrzeuge AG. "Aber es es ist schon eine gute Voraussetzung, wenn jemand kommt, der sagt: Ich bin bereit zu lernen. Wenn er vernetzt denken kann und bereit ist, für den Job auch ins Ausland zu gehen, dann ist er für unsere IT ein guter Kandidat."
Wer früher von flexiblem Arbeiten gesprochen hat, meinte oft genug nur die Anforderung an die Mitarbeiter, mehr zu arbeiten oder mehr zu reisen. Das scheint sich zu wandeln, denn heute ist die Flexibilität ein ernst gemeintes Angebot an die Bewerber. So betont etwa Dirk Ventur von der Software AG: "Wir haben hochinteressante Arbeitszeit- und Gleitzeitmodelle. So ist ein Mitarbeiter beispielsweise nicht verpflichtet, während einer Kernzeit im Unternehmen zu sein." Auch Oliver Radtke von Gruner + Jahr legt seinen Schwerpunkt "ganz klar auf mehr Freiheit und flexibles Arbeiten". So sei sein Unternehmen beispielsweise für gute Elternzeitmodelle bekannt. "Wir haben einen eigenen Betriebskindergarten, bieten viele soziale Leistungen und - nicht zuletzt - ein sehr spannendes, gleichzeitig sehr flexibles IT-Umfeld."
Die Vielfalt der Aufgaben - auch das heben CIOs als Argument für Bewerber hervor. Erwin Pignitter von MTU sieht gar eine neue Definition von IT im Unternehmen: "Wir sind dabei, den Stellenwert der IT für das Unternehmen mehr in den Vordergrund zu rücken als in der Vergangenheit, und arbeiten nun daran, die Leistung der IT stärker als einen der wichtigsten Produktionsfaktoren unseres Unternehmens und nicht mehr nur als Sonderbetriebsmittel zu positionieren."
Vielfalt der IT erlebbar machen
Die Struktur des Unternehmens für IT-Mitarbeiter erlebbar machen - darauf setzt auch Daimler: "Als Konzern sind wir in sehr unterschiedlichen Bereichen unterwegs", betont Maria Riolo, beim schwäbischen Automobilhersteller Daimler für die weltweite Nachwuchsgewinnung und -entwicklung verantwortlich. "Von Smart bis Truck ist es ein weites Feld, und Finanzdienstleister sind wir ja auch noch. Entsprechend vielfältig ist die IT-Welt bei Daimler. Wenn sich ein Bewerber für uns entscheidet, kann er diese Vielfalt im Konzern mitgestalten - und zwar weltweit."
Die Globalisierung hebt auch Gerben Otter, CIO bei Adidas, heraus: "Als eines der weltweit führenden Sportartikelunternehmen können wir unseren Mitarbeitern eine Karriere rund um den Globus ermöglichen: Zum Beispiel startet man in Herzogenaurach, wechselt in den asiatischen Raum und geht danach in die USA." Bei Gruner + Jahr sieht man das - zumindest für Teilbereiche des Recruitings - interessanterweise ganz anders: "Wir bieten langfristige Perspektiven und setzen - ganz gegen den Trend auf dem Arbeitsmarkt - auf Sesshaftigkeit, vor allem bei den Seniorstellen", meint Oliver Radtke. "Wir haben tatsächlich Seniors auch darüber für Gruner + Jahr gewonnen, dass wir ihnen nach jahrelanger Reisetätigkeit im Consulting eine klare Perspektive in einem interessanten Umfeld geboten haben."
Die besten Kanäle fürs Recruiting
Es gibt viele Möglichkeiten, Bewerber anzusprechen, und angesichts des Fachkräftemangels sollten Unternehmen tunlichst keinen auslassen - es sei denn, der eine oder andere Weg erweist sich von vornherein als Sackgasse. Kurioserweise verzichtet ausgerechnet Gruner + Jahr als Herausgeber von Zeitschriften wie Stern und Capital auf die Printwerbung für IT-Mitarbeiter, weil im Verlag keine passenden Printmedien zur Verfügung stehen. Der Medien-Riese setzt daher vor allem auf elektronische Kanäle. Neben den schon fast klassischen Online-Jobbörsen zählen für Daimler auch die Kommunikationsportale des Web-2.0-Zeitalters wie beispielsweise Myspace, Studi-VZ oder Xing zu den Recruiting-Plattformen.
MAN baut dagegen neben traditionellen Kanälen auch auf traditionelle Kommunikation: "Wir setzen alle modernen Instrumente des Hochschul-Marketings ein, machen aber auch immer wieder gute Erfahrungen mit persönlichen Kontakten. Wer gerne bei MAN arbeitet, der macht auch gerne Werbung für das Unternehmen. Ich halte einen persönlichen Kontakt zu Bewerbern für wichtig", beschreibt Gottfried Egger die Gesprächskultur des bayerischen Traditionsunternehmens.
Neben dem direkten Kontakt schwört der Automobilhersteller Audi vor allem auf die Wirkung seines Portfolios: "Wir beteiligen uns an Bonding-Events und an IT-Messen wie der CeBIT. Da stellen wir dann einen R8-Sportwagen hin, und schon gibt es genügend interessierte junge Menschen." Bei Adidas greift man dagegen auf professionelle Inhouse-Recruiter zurück, die sich speziell um die Anforderungen der IT kümmern. "Wir bauen aktiv einen internen Kandidaten-Pool auf, sodass wir bei der Neubesetzung von Stellen zunächst einmal dort nach geeigneten Kandidaten suchen können", erklärt Gerben Otter.
Gute Noten von der anderen Seite
Es gibt einige gute Beispiele dafür, dass sich Unternehmen kreativ mit dem Fachkräftemangel auseinandersetzen. Aber tun sie das auch flächendeckend? "Echte Veränderungen scheinen mir eher noch Ausnahmen zu sein", kommentiert Dieter Kastenhuber von Ray & Berndtson: "Einige Großkonzerne, die sich das wirklich leisten können, oder eigentümergeführte Firmen mit neuer Denke. Aber richtig flächendeckend sehe ich das noch nicht."