Die Firma der Zukunft wird anders aussehen, als sie es heute tut. Davon schwer überzeugt sind James Allen, James Root und Andrew Schwedel, die gemeinsam das Bain Insights Forum des Beratungshauses Bain leiten. In einem Artikel auf www.bain.com erläutert das Trio, wie es sich die Unternehmenswelt in zehn Jahren vorstellt. Skizziert werden Veränderungen auf einer Hand voll Ebenen - verbunden mit fünf Anregungen für Führungskräfte, die den Wandel gestalten wollen.
Tief greifendster Paradigmawechsel seit den 1970ern
Selbstverständlich ist die digitale Transformation ein zentrales Merkmal der von Bain prognostizierten Veränderungen. Aber sie steht keinesfalls alleine im Mittelpunkt. Für Dynamik und Veränderungszwang sorgen auch Entwicklungen auf der Kapitalseite, veränderte Ansprüche von Mitarbeitern und Aspekte der Führung selbst. Auf den Punkt bringen lässt sich das, was anders wird, nur ex negativo: Vorüber gehen wird jene Ära, in der sich Firmen primär am Shareholder Value orientierten. Dieses seit einigen Jahrzehnten vorherrschende Paradigma wird nach Bains Einschätzung abgelöst; entsprechend finde bis 2027 die tief greifendste Veränderung seit den 1970er-Jahren statt.
In skeptischen respektive konservativen Gemütern wird es nun schon etwas grummeln. Die Autoren beruhigen durch eine relativierende Zuspitzung ihrer Kernthese. "Die grundsätzlichen strategischen Ziele werden sich nicht verändern", schreibt das Trio. "Firmen werden auch in Zukunft Gewinne einfahren, indem sie eine niedrigere oder bessere Kostensituation erreichen, ein der Konkurrenz überlegenes Kundenerlebnis liefern oder einen Industriestandard kontrollieren. Aber anders aussehen wird nahezu jedes Element, wie Firmen diese strategischen Ziele erreichen."
Shareholder Value verliert dominante Rolle
Bain weist darauf hin, dass der Primat des Shareholder Value keineswegs ein immerwährendes Kennzeichen der Unternehmenswelt darstellt, sondern erst in der jüngsten Phase des Zeitalters seit Beginn der Industriellen Revolution prägend wurde.
Unter Druck geraten sei der Primat nun durch eine Reihe von Entwicklungen. Die Digitalisierung und Service-Orientierung etwa habe Geschwindigkeit zu einem immer wichtigeren Faktor gemacht; im Überfluss vorhandenes Kapital sorge dafür, dass Talent und Ideen mittlerweile die eigentlich knappen Ressourcen sind. In vielen Branchen können sich laut Analyse nur noch ein oder zwei Firmen behaupten. Zudem habe der kurzfristige Fokus des Shareholder Value dazu geführt, dass notwendige langfristige Investitionen zu häufig ausgeblieben seien.
Die Analysten betonen ferner ein spezifisches Spannungsfeld. Derzeit seien viele Firmen gefangen in einem "resource-allocation doom loop" - einem Beharrungsteufelskreis, der zu einem sich ständig wiederholenden Ressourceneinsatz nach einmal eingeübtem Muster zwingt. So ist laut Bain zwar Raum für kleinere Fortschritte vorhanden, aber eben nicht für Reaktionen auf neue Wettbewerbssituationen oder auf neue Kundenbedürfnisse.
Kunden, Mitarbeiter und Produkte in den Mittelpunkt rücken
Zugleich seien aber viele jüngere Mitarbeiter immer häufiger skeptisch gegenüber den tradierten Karrierewegen. Diese junge Generation wolle, so Bain, für Firmen arbeiten, die neben Profiten noch andere, höhere Werte verfolgen. "CEOs sind für diese Erwägungen mittlerweile sensibel geworden", heißt es in der Analyse.
Gespräche mit Vorstandschefs landeten schnell bei der Frage, wie Mitarbeiter engagiert und inspiriert werden können - und zwar mit der Vision, einen Unterschied in der Welt auszumachen. Bain zitiert Jack Welch, ehemaliger Chef von General Electric und Urgestein der jetzt zur Neige gehenden Ära: "Shareholder Value ist ein Ergebnis, keine Strategie." Welch empfiehlt, Kunden, Mitarbeiter und eigene Produkte in deren Mittelpunkt zu rücken.
Fünf Kennzeichen des Unternehmens 2027
Die konkreten Unterschiede einer Firma 2027 zu jener von heute beschreibt Bain anhand von fünf Merkmalen:
1. Größe und Kundennähe
Auf Technologie basierende "Disruptoren" wie Google, Facebook und Amazon lösen laut Bain einen klassischen Widerspruch auf. Sie vereinen nämlich sowohl die Vorteile der Größe als auch jene der Kundennähe. Lange habe es als beinahe unmöglich gegolten, beides zugleich zu haben, so die Autoren. Die Überwindung dieses Gegensatzes werde heute durch neue Technologien und Analysetechniken möglich.
Hinzu kommt ein zweites Spannungsfeld: jenes zwischen Größe und Geschwindigkeit. Nach Einschätzung der Autoren ist es künftig zentral für Firmen, die klassischen Skalenvorteile weiterhin zu nutzen, ohne Einbußen an Tempo hinzunehmen. Cloud-Angebote von Anbietern wie Amazon Web Services, Salesforce, Workday oder ServiceNow ermöglichen es dabei auch kleinen Unternehmen, einst großen Firmen vorbehaltene Vorteile nutzen zu können. Digitale Technologien und veränderten Kundenerwartungen wiederum erzwingen, auf höhere Geschwindigkeit zum Nutzen der Kunden zu setzen.
"Firmen der Zukunft werden eine neue Art von Erlebniskurve entwickeln müssen, die sowohl Geschwindigkeit als auch Größe berücksichtigt", so Bain. Konkret bedeutet das, dass entsprechende Metriken benutzt werden sollten. Ein weiteres konkretes Beispiel sei die Ausbreitung agiler Methoden von der IT-Abteilung in andere Unternehmensbereiche.
Im Jahr 2027 kombinieren Firmen laut Prognose Big Data mit menschlichem Wissen, das aus Interaktionen mit Kunden entsteht. Daraus resultierende Erkenntnisse werden sofort unternehmensweit sichtbar. Transaktionelle Aktivitäten werden fast komplett automatisiert sein. Algorithmen und Machine Learning sind ebenso alltäglich wie cloud-basierte Dienstleistungen.
2. Professionelle Manager gegen auftragskritische Rollen
Hier betont Bain die wachsende Bedeutung von "mission-critical roles". Was damit gemeint ist, lässt sich am Beispiel IKEA veranschaulichen. Die klare Mission beim schwedischen Möbelhersteller lautet, gut gestaltete Produkte zu niedrigen Preisen anzubieten. Daraus lässt sich ableiten, dass sowohl der Einkauf als auch das Produktdesign im Sinne dieses Auftrags kritische Rollen sind. Und diese werden, so Bains These, immer wichtiger - gerade auch in Abgrenzung zur Bedeutung klassischer Manager.
In zehn Jahren, so prophezeien die Autoren, wird ein Großteil der Firmenaktivitäten ausgelagert oder automatisiert sein - und eben deshalb seien die verbliebenen Rollen fast durchgängig auftragskritisch. Das Gros der Arbeit werde projekt-basiert in agilen Teams stattfinden. Diese Teams werden sich nach Ansicht Bains selbst steuern, was zu einer drastischen Senkung der Zahl traditioneller Manager führen wird. Mitarbeiter haben keine permanenten Chefs mehr; stattdessen begleiten Mentoren ihre Karriere von Projekt zu Projekt. Schulungen und Feedback gibt es in Echtzeit und permanent.
3. Anlagen gegen Ökosysteme
Bain bezieht sich hier auf die jahrelange Praxis des Outsourcings in der Ära des Shareholder Value und auf die neue Entwicklung disruptiver Plattformen. Diese Plattformen treten in diversen Facetten auf: von Microsoft Windows als faktischem Standardbetriebssystem über Architekturen wie Uber und Airbnb bis hin zu "virtuellen Fertigungssystemen" von Facebook und Cisco. Die Plattformanbieter kombinieren eine Vielzahl an Elementen wie Globalisierung, Geschwindigkeit, Kundenähe und ein Ausschalten bisheriger Vermittler. Unbestritten ist der Erfolg dieses Modells, das sich auch nach Meinung der Analysten weiter verbreiten wird.
Die Plattformanbieter stellen nach Bain-Einteilung einen ersten von drei Firmentypen dar - ein Typus allerdings, der nur einer Minderheit vorbehalten bleibt. "Typ 2" sind ausgelagerte Service-Anbieter, "Typ 3" Produkt- und Service-Unternehmen. Die Autoren gehen nicht davon aus, dass künftig aller Wert den "Typ 1"-Plattformen vorbehalten bleibt - schon alleine deshalb, weil Politik, Kunden und Mitarbeiter reagieren werden. Ein Beispiel dafür ist laut Bain die Parteinahme für Taxifahrer gegen den neuen Konkurrenten Uber.
In 2027 werden also alle drei Typen erfolgreich sein können - allerdings in einem härter gewordenen Wettbewerb, in dem einzelne Plattformanbieter der Devise folgen, dass alles an den Gewinner geht. Nach dem Motto "Everything as a Service" wird es eine ständig Verfügbarkeit von allem über horizontale und vertikale Grenzen hinweg geben.
4. Neustart beim Kapital
Der Primat des Shareholder Value hat nach Ansicht Bains zu einem weiteren Problem geführt. Obwohl Kapital günstig zu haben ist, sind im Laufe der Jahre insbesondere Investitionen mit langfristigem Horizont immer stärker ausgeblieben. Ein Problem, das allerdings von CEOs, CFOs, Aufsichtsräten und auch Investoren längst erkannt sei.
Eine Antwort auf das Problem ist eine Flexibilisierung der Kapitalstrukturen, die Investoren punktgenaue Investitionsmöglichkeiten bieten. "Investoren werden mehr in Projekte als in Firmen investieren", prognostiziert Bain. "Dadurch wird ein neues Ökosystem von Finanzvermittlern geschaffen, das bei der Identifizierung und bei der Zugänglichkeit der besten Projekte hilft."
5. Engine 1 Kerngeschäft und Engine 2 Innovationen
Innovationen können ganze Branchen umwälzen. Entscheidend ist es deshalb, diese vorauszuahnen und sich auf den Wandel einzustellen. Bain erinnert hierzu an das Apple-Genie Steve Jobs, der anderen in seinem Denken gleich zwei Generationen voraus gewesen sei.
Um der Wucht derartiger Veränderungen gewachsen zu sein, bietet sich nach Einschätzung der Analysten das Modell "Engine 1, Engine 2" an. Engine 1 bezeichnet hierbei das klassische Kerngeschäft, Engine 2 einen zweiten Bereich, der Innovationsschübe reflektiert. Im Falle IBM etwa ist Engine 1 das klassische Hardware-Geschäft, Engine 2 das expandierende Software- und Services-Angebot.
Bain weist darauf hin, dass in den beiden Sparten durchaus unterschiedliche Tugenden gefragt sind: Für Engine 1 sind Disziplin, Wiederholbarkeit, kleine Verbesserungen, vorsichtiges Risikomanagement und konventionelle Finanzanalyse wichtig; für Engine 2 hingegen Agilität, Kreativität und finanzieller Mut. In 2027 werden Firmen laut Prognose einen Engine 2-Bereich unter eigenem Dach führen, aber mit eigenem Personal, eigener Struktur und eigener Finanzierung. Top-Talente werden in beiden Bereichen ausgebildet, um sich ein ausbalanciertes Arsenal an Skills anzueignen.
5 Leitfragen, 5 Aktionen
Angesicht der skizzierten Veränderungen stellt sich aus Anwendersicht die naheliegende Frage, wie man sich darauf einstellen soll. Bain beantwortet diese durch die Formulierung von fünf Leitfragen, die sich in jedem Unternehmen stellen. Aus diesen Leitfragen lassen sich jeweils Aktionen ableiten, die nach Meinung der Analysten auf der Hand liegen.
1. Welche Kombination aus Größe, Geschwindigkeit und Kundennähe wird benötigt - und wie hängt man in dieser Hinsicht die Konkurrenz ab?
Bain empfiehlt, die eigene Strategie in 25 bis 50 marktspezifische Aktivitäten zu zerlegen, die als Mikro-Schlachten zu verstehen sind. Dafür einzusetzen sind schnell bewegliche Teams mit Leuten, die diese Schlachten hinsichtlich Skalen- und Intimitätsvorteilen gewinnen können.
2. Wie nahe sind wir daran, aus missionskritischen Rollen volles Kapital zu schlagen?
Die Rollen müssen zunächst identifiziert werden - mitsamt einem Plan, die begabtesten Köpfe dafür einzusetzen. Für eine Verbindung ist ebenso zu sorgen wie für die Installierung schneller Feedbacksysteme.
3. Welche Art von Firma sind wir: Plattform, ausgelagerter Service Provider oder Provider von Produkten und Services? Und welche Partnerschaften bestehen in unserem Ökosystem?
Das gesamte Ökosystem sollte hinsichtlich Aktivität kartiert werden. Hinzu treten sollte jeweils eine Bewertung der Leistungsfähigkeit.
4. Was würden wir tun, wenn Kapital- und Investorenforderungen uns nicht begrenzen würden?
Die Analysten raten dazu, die Investorenbasis nach Grad der Verzahnung mit der eigenen Strategie zu unterteilen. Wichtig seien dabei zwei Dimensionen: Zeithorizont und Risikohunger.
5. Was tun wir, damit unser Geschäft auch in zehn Jahren gut aufgestellt ist?
Laut Bain sollte in jedem Fall ein Engine 2-Inkubator gegründet werden. Im Unternehmen sollte es eine klare Aufteilung auf Engine 1 und Engine 2 geben - mit jeweils eigenen Regeln und Betriebsmodellen.