Das gemeinsame Frühstück mit der Tochter war Susanne M. immer wichtig. Als sie in ihrer Firma, einem führenden deutschen Technologiekonzern, noch einen festen Arbeitsplatz hatte, deckte sie morgens für beide den Tisch. Doch seit rund einem Jahr steht Susanne M. vor dem Teenager auf. Ihr Unternehmen hat Desksharing eingeführt. Will die Sachbearbeiterin einen halbwegs vernünftigen Platz bekommen, muss sie spätestens um sieben Uhr los.
Einer der prominentesten Verfechter von Desksharing ist Microsoft. Der Konzern ist vor einigen Monaten in der Münchner Parkstadt Schwabing in eine neues Gebäude umgezogen. "Im Vergleich zum Standort in Unterschleißheim ist die Anzahl der traditionellen Arbeitsplätze wie feste Schreibtische in Schwabing zugunsten einer offenen Bürostruktur reduziert", erklärt Maren Michaelis, Communications Manager Employer Branding & Relocation bei Microsoft.
Der Bedarf an Arbeitsplätzen sei auf Grundlage einer fundierten Analyse der tatsächlichen heutigen Anwesenheit abteilungsspezifisch ermittelt worden. "Grundsätzlich ist es so, dass 90 Prozent unserer Mitarbeiter sehr flexibel arbeiten und folglich unsere zugrunde liegenden Modelle Vertrauensarbeitsort und Vertrauensarbeitszeit tagtäglich leben", führt Michaelis aus.
Rat geholt hat sich Microsoft dabei vom Fraunhofer IAO (Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation). "Tatsächlich führt die mit der Einführung flexiblen Arbeitens einhergehende Autonomie der Wissensarbeiter - zeitlich, räumlich und bezüglich der Arbeitsweise - zu Steigerung der Work-Life-Balance, der Motivation, des Wohlbefindens und der Performance", sagt Udo-Ernst Haner, Leiter Competence Team "Information Work Innovation".
Susanne M.s Erfahrungen sind andere. Als sie noch ihren eigenen Schreibtisch hatte, standen darauf das Foto ihrer Tochter und die Blumenvase, die ihr die frühere Chefin geschenkt hatte. Jeden Morgen unterhielt sie sich mit ihren Tischnachbarn, erkundigten sich nach deren Befinden. Oberflächlicher Small Talk, ja. Aber heute findet dieser nicht mehr statt, und die 51-Jährige vermisst den zwanglosen Austausch.
Solche affektiven Elemente in der Arbeitswelt sind Untersuchungsgegenstand der FU Berlin. Der Philosoph Jan Slaby fordert Entscheider dazu auf, sehr genau zu überlegen, "welche emotionalen Reize sie durch die Ausstattung von Arbeitsumgebungen setzen". Gerade in technisierten Umgebungen werde die Ebene der unterschwelligen Gefühle oft unterschätzt.
Aber Menschen verorten sich durch Gefühle und emotionale Atmosphären in angestammten Umgebungen. Slaby spricht hier von Vertrautheit, Zuhausesein und Sicherheit. Diese Gefühle bildeten eine atmosphärische Schicht, die subtil im Hintergrund des Wahrnehmens, Denkens und Handelns wirke.
Das Spiel von der "Reise nach Jerusalem"
Desksharing sieht Slaby kritisch. Ihn erinnere das an das alte Kinderspiel der "Reise nach Jerusalem", sagt er. Die Kinder tanzen zu Musik um eine Stuhlreihe herum, die genau einen Platz zu wenig bereitstellt. Sobald die Musik anhält, muss sich jedes Kind so schnell wie möglich setzen. Wer zu langsam war, ist raus. "Wenn Desksharing mit dem Verknappen der Büroarbeitsplätze einhergeht, sind die psychopolitischen Parallelen zum Kinderspiel offenkundig: hier wie dort wird eine charakteristische Gefühlslage erzeugt - eine Mischung aus Stress, Angst und Gespanntheit, die dann einer kurzfristigen Erleichterung weicht, wenn man einen Sitzplatz ergattert hat", erklärt Slaby.
Der Wissenschaftler führt diesen Gedanken weiter. "Frühes Training für das rat race? Wird hier unterschwellig die Botschaft vermittelt, dass sich niemand zu sicher sein sollte, einen Platz zu haben?", fragt er. Wer keinen Schreibtisch mehr abbekommen habe und seinen Laptop daher in der Cafeteria, auf dem Lounge-Sofa oder am Stehtisch aufschlagen müsse, der "spürt es in den Knochen, wie unsicher sein Platz ist, wie verzichtbar sie oder er womöglich für das Unternehmen ist."
In der Anthropologie nennt sich die emotionale Verortung von Menschen in Umgebungen "Place Making." Durch Rituale, persönliche Gegenstände oder Bilder entsteht in ansonsten funktionalen Räumen ein Stück Vertrautheit. Slaby fragt: "Customized Space - sind wir wirklich schon so weit, dass wir sämtliche Dimensionen dieser persönlichen Raumgestaltung in den digitalen Workspace verbannen?" Das bürde den Mitarbeitern emotionale Kosten auf.
Das Foto der Tochter soll bei Microsoft ja auch weiterhin auf dem geteilten Arbeitsplatz stehen, sagt Michaelis. Es muss eben mit dem Verlassen des Arbeitsplatzes wieder weggeräumt werden. Fraunhofer-Manager Haner hält die Dekoration des Arbeitsplatzes ohnehin für "gar nicht so wichtig", wenn die gesamte Arbeitsumgebung attraktiv und einladend ist. Er betont: "Ohne gutes Change Management geht es nicht." Ziele und Maßnahmen des Veränderungsprozesses müssten nachvollziehbar sein und lohnenswert erscheinen. Haner rät, die Mitarbeiter in jedem Fall früh einzubinden und idealerweise mitgestalten zu lassen.