Der 22. Mai 2019 dürfte in die Annalen der Daimler AG eingehen. Nach gut 13 Jahren im Amt verabschiedete sich Vorstandschef Dieter Zetsche und übergab die Führung an den Schweden Ola Källenius. Auf der Hauptversammlung in Berlin stimmten die Aktionäre zugleich für einen Konzernumbau: Das "Projekt Zukunft", so die offizielle Verlautbarung, sei die "umfangreichste Neuaufstellung in der mehr als 130-jährigen Unternehmensgeschichte".
Bis zum 1. November 2019 soll der Konzern in drei rechtlich selbständige Einheiten unter dem Dach der Daimler AG aufgeteilt werden. In einer wird das Geschäft mit Autos und Vans gebündelt, eine kümmert sich um Lastwagen und Busse und eine um Finanz- und Mobilitätsdienstleistungen.
Im Grunde gehe es dabei um eine "Agilisierung des Konzerns", erläutert Jan Brecht, seit November 2015 CIO der Daimler AG. Im Zuge dessen schaffe der Konzern neue Legaleinheiten. Direkte Auswirkungen auf die IT-Organisation gebe es nicht. Die IT bleibe weiterhin divisional aufgestellt, die Berichtswege unverändert: "Aber natürlich nehmen wir so ein Projekt auch zum Anlass, um über IT-Liefermodelle und unser Operating nachzudenken."
Wichtiger als Konzernstrukturen sind dem IT-Chef die Zukunftsfelder, die Daimler mit dem Kürzel CASE beschreibt: Connected, Autonomous, Sharing & Services und Electric Drive. "Die vier Grundpfeiler unserer Industrie ändern sich alle auf einmal", sagt Brecht. Das habe signifikante Auswirkungen auf den Konzern und die IT: "Software ist dabei der rote Faden, der sich durch alle Bereiche zieht."
Augenfällig ist die Entwicklung beim autonomen Fahren. Automobilbauer bekommen es mit gigantischen Datenmengen zu tun, für deren Verarbeitung sie eine mächtige Backend-Infrastruktur aufbauen müssen. Auch im Wachstumsmarkt Sharing, in dem sich alles um App-getriebene Modelle dreht, spielt Software eine zentrale Rolle. Weniger offensichtlich ist der IT-Beitrag beim Thema Electric. Hier gehe es vor allem um die notwendige Ladeinfrastruktur, erläutert Brecht. Mehrere Dutzend Anbieter positionierten sich in diesem Markt. Ohne ein leistungsstarkes Software-Ökosystem werde dieser kaum funktionieren.
Das "CASE-Business" stelle enorme Anforderungen an die IT, so der studierte Elektrotechniker. Aus strategischer Sicht sei damit das "Warum" beschrieben, also: "Warum tun wir in der IT das, was wir tun?" Das "Was" stehe unter dem Motto: "Daten sind das neue Öl". Daimler verfolge dabei eine Strategie mit den vier Säulen Kundeninteraktion, datengetriebenes Unternehmen, Engineering and Production und Empowered Employee.
Last, but not least, geht es für den CIO um das "Wie"? Hier kommt die Initiative "#TwiceAsFast" ins Spiel, die 2017 gestartet wurde. Bis Weihnachten 2020 will die Daimler-IT doppelt so schnell sein wie bisher. Das hat Brecht dem Vorstand versprochen. Auf seiner Agenda stehen fünf Prioritäten: DevOps und Cloud Computing, freie und Open-Source-Software, Services und APIs, Identity and Access Management und Security sowie "People in IT". Um den Erfolg am Ende auch messen zu können, habe man für jedes Handlungsfeld KPIs definiert (Key Performance Indicators). Zu diesen Kennzahlen gehört beispielsweise die Anzahl der API-Consumer, also wie häufig APIs in Projekten wiederverwendet werden, oder auch die Anzahl der API-Aufrufe (Calls).
Fortschritte mit APIs
Gerade im Bereich APIs habe es in den vergangenen Jahren große Fortschritte gegeben, so der CIO. Das Thema sei nicht neu, aber viele technische Ansätze wie etwa SOAP (Simple Object Access Protocol) aus den 90er Jahren hätten sich in der Praxis als schwierig erwiesen. Noch immer verursachten Schnittstellenprobleme, also die Verknüpfung unterschiedlicher Systeme, in großen Softwareprojekten etwa die Hälfte des Aufwands. Daimler unterhalte eine eigene API-Entwicklungsplattform, die sich in einen Teil für interne und einen für externe Anbindungen untergliedere. Allein im April 2019 habe man rund eine Milliarde API-Calls registriert.
Vorteile verspricht sich Brecht auch von OpenSource-Software. Insbesondere die hohe Innovationsgeschwindigkeit in der Community spreche für Open Source, aber auch die eingesparten Lizenzkosten im Vergleich zu kommerziellen Systemen. Für viele IT-Mitarbeiter und potenzielle Bewerber sei es zudem attraktiv, sich in Open-Source-Projekten zu engagieren. Auch im Rechenzentrumsumfeld setzt die Daimler AG weltweit Open-Source-Software ein - von Linux-Betriebssystemen über Datenbanken und Middleware-Lösungen bis hin zu modernen Cloud-Umgebungen wie Kubernetes.
DevOps und Cloud
Das Thema DevOps ist für den CIO ein weiterer Faktor, um den IT-Betrieb zu beschleunigen: "Ein Drittel unserer Aktivitäten wickeln wir bereits über DevOps-Strukturen ab, Tendenz steigend." In diesem Kontext spielt auch Cloud Computing eine wichtige Rolle. Brecht: "Wir nutzen die Skalierungs- und Elastizitätsvorteile der großen Hyperscaler."
Allerdings gebe es auch gute Gründe für eine On-Premises-IT, insbesondere wenn es um schützenswerte Daten und um Kostenvermeidung gehe. Besonders rechenintensive Simulationsaufgaben in der Entwicklung etwa ließen sich mit internen Ressourcen kostengünstiger erledigen. Ob Daimler eines Tages auch den SAP-Betrieb in die Cloud verlagert, ist noch nicht entschieden. Entscheidend sei, ob ein Cloud-Betrieb der Applikationen Kostenvorteile bringe.
In allen Überlegungen steht auch das Thema Security im Mittelpunkt. Grundsätzlich geht es Brecht darum, Sicherheitsaspekte von Anfang an in den Softwareentwicklungsprozess zu integrieren, statt nachträglich Anpassungen vorzunehmen. Das erfordere vor allem von den Entwicklern ein Umdenken. Die Security-Bedrohungen und daraus erwachsene Anforderungen an die IT hätten massiv zugenommen: "Es geht längst nicht mehr nur darum, geistiges Eigentum zu schützen, sondern auch um Kunden-, Produkt- und Produktionsdaten." Das mache IT-Projekte komplexer und anspruchsvoller.
Die Mitarbeiter ("People in IT") sind für Daimler der entscheidende Erfolgsfaktor, wenn es gilt, das Tempo zu erhöhen. Brecht verfolgt einerseits nach innen gerichtete Maßnahmen wie die Initiative "#TwiceAsFast certified", die unter anderem Schulungen für das Senior Management im Hinblick auf die fünf Prioritäten der Daimler-IT umfasst. Andererseits hat Daimler diverse Maßnahmen angestoßen, um sich als attraktiver Arbeitgeber für IT-Experten zu positionieren. Dazu gehören etwa Kampagnen auf YouTube und LinkedIn. "Wir suchen insbesondere Data Scientists und AI-Experten", beschreibt Brecht die Anforderungen, "aber auch Cloud-Spezialisten, IT-Architekten und natürlich Security-Fachleute."
Künstliche Intelligenz (KI) ist für den IT-Chef ein Querschnittsthema, das in viele Prozesse eingewoben sei. Das Paradebeispiel liefert das autonome Fahren. Der schwäbische Autobauer nutzt KI und Machine Learning aber auch im Backend, für Finanzprognosen und Bot-gestützte Interaktionen im IT-Bereich. Schon seit Längerem gibt es KI-basierte Prozesse in der Entwicklung und der Produktion.
Daten sind die Basis für solche Einsatzszenarien, und wie viele andere Großunternehmen kämpft auch Daimler mit einer Vielzahl gewachsener Silos. Brecht steuert zum Beispiel mit der Cloud-basierten Analytics-Plattform eXtollo dagegen, die weltweit im Konzern verfügbar ist.
Blockchain für die Lieferkette
In Sachen Blockchain war Daimler früh aktiv. Schon 2017 platzierte der Konzern eine Unternehmensanleihe mit Hilfe von Blockchain-Technik auf dem Markt. Im Februar 2019 starteten die Schwaben gemeinsam mit dem Softwarehersteller Icertis einen Blockchain-Pilotversuch für transparentere Lieferketten.
Brecht kann sich als weiteres Einsatzgebiet auch die sicherere Dokumentation von Fahrzeugdaten vorstellen. Im Zeitalter der vernetzten Automobile, die permanent auch Bewegungsdaten und Informationen zum Fahrverhalten senden, gewinne das Thema an Bedeutung. Den aktuellen Hype um Blockchain- und Distributed-Ledger-Konzepte sieht er dennoch kritisch: "Blockchain-Technologien werden eher in der Nische produktiv zum Einsatz kommen, weniger in der Breite."
Technische Fragen bilden für den CIO aber nur eine von drei Dimensionen der digitalen Transformation. Um als Unternehmen langfristig erfolgreich zu sein, müssten methodische und kulturelle Aspekte hinzukommen. Konzernweit hat Daimler beispielsweise das Programm "Leadership 2020" gestartet, in dem es um kulturelle Themen, Agilität und cross-funktionale Teams geht. Agile Methoden, so Brecht, sollten nicht nur in der IT, sondern auch in den Fachabteilungen eingesetzt werden. Der typische Product Owner in Scrum-Teams etwa komme meistens aus einem Fachbereich.
Innovationen entständen im Konzern grundsätzlich dort, wo auch das Fachwissen sei. Daimler habe dafür eine "Lab-Struktur" etabliert, deren Einheiten größtenteils in den Domänen angesiedelt sind, zum Beispiel in der Produktion. Eine Ausnahme bildet das Lab 1886, in dem Kollegen bereichsübergreifend an neuen Geschäftsmodellen arbeiten. Hier entstanden beispielsweise die Ideen für den Car-Sharing-Dienst car2go und die Mobilitäts-App moovel. An Input mangele es nicht, beteuert der CIO. Die Schwierigkeit bestehe eher darin, die erfolgversprechendsten Projekte auszuwählen: "Wir müssen vor allem die Frage beantworten: Was machen wir nicht?"
Lessons Learned
Mit den bisher erzielten Ergebnissen in Sachen IT-Beschleunigung zeigt sich Brecht zufrieden. Die Strategie, #TwiceAsFast quasi als "Leitplanke" zu definieren und den Teams zugleich viele Freiheiten in der Umsetzung zu lassen, habe sich ausgezahlt. Dazu gehört für den CIO auch, in den eigenen Reihen die Kompetenz für Hardware und Software auszubauen.
Angesichts der massiven Umbrüche in der Automobilbranche hat sich Brechts Verständnis des Begriffs Geschwindigkeit verändert. Er sieht darin nicht nur einen Erfolgsfaktor, sondern "eine Strategie an sich". An das Konzept der Bimodal IT glaubt er dagegen nicht mehr. Als global tätiger Konzern brauche Daimler auch im Backend eine Agilisierung, die sich beispielsweise über APIs erreichen lasse: "Ich glaube an EINE Geschwindigkeit. Und die ist schnell."