Anna weiß wirklich viel. Wo finde ich meine Zählernummer? Wie funktioniert ein Umzug? Wie viel Strom erzeugt eine Photovoltaikanlage? Wenn man solche Fragen in das Live-Chat-Fenster auf der Website von E.ON eingibt, erhält man sofort eine Antwort von Anna. Nur ist Anna kein Mensch, sondern die neue digitale Kundenberaterin, die in diesem Sommer ihre Arbeit aufgenommen hat.
Zurzeit erkennt der Chatbot rund 250 Fragen und Themen, zu denen er sofort automatisiert Antworten liefert. Erst wenn Anna auch im dritten Anlauf nichts zu sagen weiß, geht die Frage an einen menschlichen Kollegen im E.ON-Service weiter. "Aus dem Stand heraus konnten wir 70 Prozent der Kundenanfragen mit dem Chatbot beantworten", berichtet Senior Vice President Digital Martin Endress von E.ON Energie Deutschland. Das Unternehmen mit Sitz in München ist die deutsche Landesorganisation des Essener Energiekonzerns E.ON SE.
Machine-Learning-Algorithmus soll den Chatbot trainieren
Betreute bisher ein Mitarbeiter zwei bis drei Chats parallel, so erledigt das nun der Chatbot zu jeder Tages- und Nachtzeit automatisiert allein. Dafür hatte die IT das gesamte Wissen von E.ON über Produkte, Services und Themen in einem Datenpool zusammengeführt, auf den Anna nun zurückgreift. Noch kontrollieren Mitarbeiter die Ergebnisse des Bots und verbessern seine Antworten, im nächsten Schritt soll dann ein Machine-Learning-Algorithmus den Bot trainieren.
Kunde jetzt immer im Mittelpunkt
Anna symbolisiert den Wandel bei E.ON: Der Versorger stellt den Kunden bewusst ins Zentrum allen unternehmerischen Handelns. Alle Kernpunkte der digitalen Agenda wie Automatisierung, Machine Learning und Artificial Intelligence zielen darauf ab, besser auf das Kundenverhalten zu reagieren.
Angesichts des sich massiv wandelnden Markts ist das auch nötig. Der Energiekonzern rückt mit neuen Geschäftsfeldern wie Smart Home, Energie-Management zu Hause, E-Mobility oder Konzepten vom Solardach bis zur Powerwall im heimischen Keller immer näher an den privaten Kunden heran.
Neue Services für Kunden geschaffen
Martin Endress kümmert sich in seiner Rolle als Digitalverantwortlicher um Themen wie Business Intelligence, Data Warehousing, Data Analytics und die Entwicklung der Website Eon.de für Privat- und Geschäftskunden. Die Website weiterzuentwickeln klingt für einen Energiekonzern vielleicht nicht nach einem Kernthema. Doch angesichts der neu entstandenen Geschäftsfelder kommt der Internet-Seite eine immer wichtigere Bedeutung zu. So eröffnete E.ON im vergangenen Jahr erstmals einen eigenen Webshop, weil das Angebot an Produkten ständig gewachsen war. Zurzeit werden zusammen mit 13 Partnern rund 60 Produkte angeboten, das Sortiment reicht von Leuchtmitteln über Thermostate und Rauchmelder bis hin zu Mährobotern.
Die SolarCloud für Photovoltaik-Anlagen
Im Solarbereich können Privatkunden heute beispielsweise die neue "SolarCloud" erwerben, die den von häuslichen Photovoltaik-Anlagen erzeugten Strom virtuell speichert. Kunden können damit ein persönliches Stromguthaben ansammeln und sich mehr und mehr unabhängig von der traditionellen Stromversorgung machen. Künftig sollen sie auch personalisierte Energiespartipps erhalten, wenn beispielsweise von einem Smart Meter ermittelte Verbrauchsdaten von E.ON analysiert werden.
Um das Verhalten und die Wünsche von Kunden künftig besser verstehen und daraus neue Services ableiten zu können, setzt das Digitalteam auf Techniken wie Machine Learning und Artificial Intelligence. Acht Data Analysts und Data Scientists sitzen in der Münchner Deutschland-Zentrale. Darüber hinaus arbeitet Endress mit den rund 45 Mitarbeitern des E.ON Data Lab zusammen, das ebenfalls in München sitzt und seine Dienste allen Konzernsparten anbietet.
Agile Methoden und Scrum-Teams
Der Kundenfokus, die entstehende Produktvielfalt und der Bedarf an schnellen Ergebnissen verlangen nach agilen Arbeitsweisen. So ist die Web-Entwicklung komplett agil aufgestellt, fünf DevOps-Teams arbeiten nach Scrum. "Ein Scrum-Team muss empowered sein, das ist das Wichtigste für agiles Arbeiten", erläutert Endress. "Es muss mit festen Rollen, aber ohne Hierarchie funktionieren und ein klares Ziel haben."
Lokal an einem Ort sollte das Team idealerweise nicht nur wegen des ständigen Austauschs arbeiten, sondern auch, um den Dokumentationsaufwand und den sonstigen Overhead zu verringern. Es soll sich ganz auf den Output fokussieren und schnell zu Ergebnissen kommen. Scrum ist laut Endress ein extrem fokussierter Ansatz, bei dem sich das Team von Sprint zu Sprint abspricht und die nächsten Schritte vereinbart. "Innovationstheater ist dagegen eher die Vorstellung, Scrum sei Jugend forscht, alle hätten Spaß und man klebe irgendwo bunte Zettel an die Wände", spöttelt Endress.
Agile Methoden breiten sich gerade auch im Business aus
Gut 100 Mitarbeiter nahmen in diesem Jahr an Kursen für agiles Arbeiten teil. "Das machen alle freiwillig, Zwang bringt da wenig", so Endress. Neben Scrum arbeitet die Digitaleinheit auch mit anderen agilen Methoden wie Kanban, Design Thinking sowie Lean Startup und Business Model Canvas. Und das neue Arbeiten färbt ab: Agile Methoden machen sich gerade auch im Business breit. Immer mehr Projektteams in den Fachbereichen nutzen ebenfalls Scrum.
Um Mitarbeiter agil arbeiten zu lassen, braucht es den Mut des Unternehmens, Fehler zuzulassen und diese nicht zu sanktionieren. Stimmen die Rahmenbedingungen, dann können die Entwickler selbst entscheiden, ohne lange auf eine Erlaubnis von Vorgesetzten, Boards oder Komitees zu warten. Ebenso werden sie bereit sein, Unterstützung von Dritten anzunehmen.
Mittleres Management wird sich künftig stark ändern
Am mittleren Management geht diese Entwicklung allerdings nicht spurlos vorbei: Es verändert sich. "Künftig wird es weniger klassische Führungskräfte alter Prägung geben, andere Anforderungen verlangen andere Fähigkeiten", ist sich Endress sicher. "Wir stehen am Beginn der Digitalisierung und wir lernen stetig dazu."
Der Digitalchef ist mittendrin
An Scrum-Schulungen hat Digitalchef Endress schon teilgenommen, doch jetzt taucht er noch tiefer ein. So fing er zu programmieren an und lernte HTML, CSS und aktuell Javascript. SQL und PHP sollen folgen: "Als Führungskraft ist es wichtig, sich tief im Thema auszukennen."
Der studierte Politologe promovierte in Energiewirtschaft, begann seine berufliche Karriere bei Microsoft und wechselte später als Berater zur Boston Consulting Group. 2014 kam er zu E.ON, wo er zuletzt im Bereich Customer Retention Loyalty viel mit Online- und CRM-Themen zu tun hatte. Zwar verlor er über die Jahre nie den Kontakt zur IT, "trotzdem ist die Lernkurve für die neue Position steil, ehe man wieder auf dem Stand der Technik ist", berichtet Endress. Wer heute im Digitalumfeld arbeite, müsse viel dafür tun, am Ball zu bleiben.
CDO und CIO
E.ON hat in allen Länderorganisationen Digitalchefs eingesetzt, außerdem gibt es mit Matthew Timms einen Konzern-CDO. Im September hat Timms zusätzlich die Rolle des Konzern-CIO von Edgar Aschenbrenner übernommen. Aschenbrenner wird jetzt den Workstream IT/Digital bei der Integration des Energieversorgers Innogy leiten. Die Digitalchefs arbeiten eng mit der "klassischen" IT und dem CIO zusammen, etwa bei den Themen DevOps, Vendor-Management, Cloud oder in Architekturfragen. Doch formal laufen beide Organisationen noch getrennt. Beim Start der Digitaleinheit vor vier Jahren sei die Teilung sehr gut gewesen, um Geschwindigkeit in die Entwicklung zu bekommen, sagt Endress. "Wir arbeiten heute sehr eng zusammen."
In Zukunft wird sich laut Endress bei den Energieversorgern noch viel mehr ändern als bisher. So wagt er die Prognose, dass in fünf Jahren das Geschäft mit Kundenlösungen über digitale Kanäle genauso groß sein wird wie über klassische Kanäle.
Bis dahin werde man sich von allen Legacy- und On-Premise-Systemen gelöst und diese in die Cloud verlagert haben. Dann ließen sich beispielsweise komplexe Online-Preisanalysen mit vielen historischen Daten in der Cloud betreiben. Solche riesigen Datenmengen könnten die Systeme heute noch nicht verarbeiten.
Reden statt eintippen
"Mit der entstehenden ausgezeichneten Infrastruktur können wir uns dann ganz auf Customer Experience konzentrieren und uns damit von Wettbewerbern differenzieren", blickt Endress tatenhungrig nach vorn. Und spätestens dann werden Kunden mit Anna reden können, anstatt ihre Fragen in den Chatbot eintippen zu müssen.