Microsoft-Gründer Bill Gates war schon immer für eine Vision gut. Dass 640 KB Arbeitsspeicher für jeden Anwender ausreichen sollten, hat er zwar stets dementiert. Gesichert hingegen ist die Aussage, die Gates im Herbst 1999 angesichts des Hypes um Application Service Providing (ASP) im Interview mit unserer Schwesterpublikation Computerwoche abgab: "Keiner will heute Software mieten. Die Kunden möchten die Programme kaufen und dann für immer nutzen."
In Bezug auf ASP mag Gates recht behalten haben, der Ansatz ging schon kurz nach der Jahrtausendwende unter. Software-as-a-Service (SaaS) hingegen gehört heute zum Stand der Dinge, und es hat ein Umdenken stattgefunden - auch bei Microsoft. Anfang 2013, schätzt Gartner, kamen rund acht Prozent der Office-Arbeitsplätze in Unternehmen (außerhalb Chinas und Indiens) aus der Cloud. Die Zahl soll bis 2017 auf 33 Prozent und bis 2022 auf 60 Prozent beziehungsweise knapp 700 Millionen Arbeitsplätze steigen, prognostiziert Gartner-Analyst Tom Austin, der eine ähnliche Entwicklung bei E-Mail-Lösungen sieht. Die Cloud nimmt allmählich Gestalt an.
Auch Daimler-CIO Michael Gorriz ist sich sicher, dass SaaS keine Eintagsfliege wie ASP sein wird: "Ich wette, dass der Anteil der Cloud-Nutzung in Unternehmen bis 2023 speziell für Software-as-a-Service auf 30 Prozent steigen und damit einen entscheidenden Anteil am Lösungsportfolio der IT-Landschaft haben wird." Im CIO-Jahrbuch 2013 warf Gorriz zentrale Fragen für Unternehmen auf: Welche Funktionalität will ich wann und wo unter welchem Risiko mit welchem Cloud-Provider abbilden? Schließlich würden die Herausforderungen weniger in der technischen Machbarkeit als vielmehr in strategischen Überlegungen liegen. Die Rechnung des Daimler-CIOs: "Geht man davon aus, dass sich IT-Landschaften pro Jahr um rund sechs Prozent verändern und weniger als die Hälfte der Services aus der Cloud bezogen werden, lässt sich ein Anteil an SaaS von 30 Prozent im Jahr 2023 hochrechnen."
Firmenchefs sind skeptisch
Der Münchner IT- und Unternehmensberater Dieter Sinn hält das für einen "interessanten Punkt", und er folgert: "Das Wachstum für SaaS kommt aus neuen Bereichen, und Bestandssysteme wie das klassische ERP werden nur zögerlich als Service bezogen." Schließlich könnten Konzerne eine interne Cloud aufsetzen und Synergieeffekte durch die eigene Zentralisierung und Automatisierung erreichen. Der Mittelstand sei von der Logik her mit SaaS sinnvoll zu versorgen, sagt Sinn, doch de facto sei es auch hier bislang kaum zu einem Umstieg von langjährig optimierten Kernanwendungen in die Cloud gekommen. "Die Firmenchefs sind überwiegend skeptisch gegenüber Veränderungen, wenn das System rund läuft."
Zu den neuen Feldern mit SaaS-Potenzial zählt Sinn, der die Softwarebranche seit der ASP-Bewegung verfolgt, spezielle Branchen- und Anwendungsplattformen wie etwa die Fahrzeugvernetzung, aber auch horizontale Business-Themen wie CRM, Vertriebsunterstützung und E-Marketing: "Dafür konnte oder wollte die interne IT in letzter Zeit nicht genug Ressourcen aufbringen." Mit Folgen, so der Berater: "Was die Geschäftstätigkeit in starkem Maße prägt, wird aus den Fachabteilungen heraus getrieben." Oder, um es positiv zu formulieren: "Die Potenziale liegen in den neuen Geschäftsprozessen." Im Jahr 2017 gibt der Marketing-Chef mehr Geld für IT aus als sein CIO, mutmaßt Gartner.
Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass es für eingespielte Kernapplikationen eine Bestandsgarantie gibt. "In den klassischen Applikationslandschaften herrscht ein gewaltiger Rationalisierungs- und Konsolidierungsdruck", berichtet Pascal Matzke, Research Director von Forrester. Dies betreffe vor allem komplexe und heterogene Konzerne in Deutschland ohne zentralisierte IT-Landschaft. Viele Workloads würden wegfallen, "heilige Kühe" geschlachtet werden - als Richtungsweiser dient die Deutsche Bank, die dem Vernehmen nach 250 Legacy-Applikationen in einer mehrjährigen Initiative in einem standardisierten Kernbanksystem konsolidiert hat. "Unternehmen werden sich den Luxus von Silo- und Insellösungen nicht mehr leisten können", sagt Matzke.
Der Forrester-Analyst ist sicher, dass Daimler-CIO Gorriz die Wette gewinnen wird. Schließlich sei die Zahl der eingeführten SaaS-Applikationen in den Unternehmen in den vergangenen Jahren exponentiell angestiegen. "2012 bezog jedes Unternehmen der Global Fortune 2000 im Schnitt neun Anwendungen-as-a-Service, 2013 sind es schon 13 SaaS-Applikationen." Zwar sei es noch ein weiter Weg zu den angepeilten 30 Prozent, aber der Trend sei unverkennbar. Erst kamen die "Systems of Engagement" (Forrester) wie CRM und Collaboration an die Reihe, in denen es um menschliche Interaktion geht, doch inzwischen würden laut Matzke auch klassische Kernanwendungen wie Product-Lifecycle-Management (PLM) in die Wolke transferiert: "Für die Cloud spricht nicht nur die höhere Umsetzungsgeschwindigkeit, sondern auch die bessere Kostentransparenz."
Schambach hat den Umstieg auf SaaS bereits 2004 vollzogen, als er nach seinem Rückzug von Intershop in den USA mit der Gründung von Demandware einen Neuanfang startete. Er entwickelte eine mandantenfähige E-Commerce-Software "zur Miete" mit einem integrierten Betreiberkonzept. "Alle Funktionen für die Automatisierung, die früher manuell oder mit externen Werkzeugen geleistet werden mussten, haben wir von Anfang an in die Software eingebaut", erinnert er sich. Das Programm steuere Performance, Sicherheit, Backup und Skalierung selbstständig und – anders als bei ASP – mit hohen Skaleneffekten.
Schambachs Unternehmen Demandware, das 2012 in New York an die Börse ging, ist auch ein Beispiel für SaaS-Effekte, die über die reine Bereitstellung eines Programms hinausgehen. "Wir kennen die Geschäftsprozesse unserer Kunden sehr genau und wissen, worauf es ankommt", sagt der Gründer. So seien viele Mitarbeiter keine Softwaretechniker, sondern Verkaufs-Profis oder Shop-Manager. "Durch die zentrale Plattform mit ihren Analysemöglichkeiten können unsere Mitarbeiter erkennen, was bei einigen Kunden gut ankommt, um an anderer Stelle umgehend gegenzusteuern."
Preise vom Erfolg abhängig
"Eine IT, die nicht spezialisiert ist, kann diese Vorgaben kaum erfüllen", erwidert Schambach, und er verweist auf "kreative Online-Merchandiser, die unter extremem Zeitdruck stehen und stündlich neue Anforderungen haben". Dies überfordere viele IT-Abteilungen, bei denen Internet und E-Commerce nicht das Kerngeschäft sind und wo Anpassungen zeitraubend programmiert werden müssen. Auch bei der Abrechnung ist Schambachs Demandware näher am Business: "Unser Preismodell sieht so aus, dass wir am Erfolg partizipieren, denn die Bereitstellungsgebühren sind im Wesentlichen eine Beteiligung an der Umsatzsteigerung des Kunden."
Verglichen damit sieht die traditionelle, betriebsnahe IT etwas angestaubt aus. Folglich hat Schambach keinen Zweifel, dass Daimler-CIO Gorriz die Wette gewinnen wird: "In den vergangenen Jahren sind kaum noch klassische Software-Unternehmen gegründet worden, und sämtliche Enterprise-Anwendungen, die standardisierbar sind, werden in der Cloud entwickelt."
Die Optionen liegen auf der Hand: "Ich verpflichte mich entweder dazu, als IT allein die Kosten in den Kernprozessen und der Infrastruktur zu minimieren", sagt Forrester-Experte Matzke. Die neue Welt mit den Systems of Engagement werde dann den Fachbereichen und Cloud-Brokern überlassen. "Oder die IT tritt selbst als Broker für Cloud-Services auf." Dann müsse sie ihr Ökosystem steuern, Portfolio-Management betreiben und in neue Technologien investieren, argumentiert der Analyst: "Das ist ein Scheideweg für die IT, speziell in Unternehmen mit föderierter Struktur."
Anschluss verpasst
Als Folge des Ansatzes, die IT allein als Kostenstelle zu begreifen, haben viele IT-Leiter am Front-End den Anschluss zum Kunden verpasst und die "neuen" Kernprozesse noch nicht verstanden. Die Revolution wurde durch ein verändertes Einkaufsverhalten und höhere Ansprüche an den Kundenservice ausgelöst - "welche IT hat sich schon auf User Experience fokussiert?", fragt Matzke. Die gute Nachricht ist: IT-Organisationen sind nicht allein davon betroffen. "Business- und Applikations-Logik bauen bei SaaS auf geteilten Best Practices auf, was von einem Lizenzmodell hin zu einem Community-Modell führt", sagt Matzke. Dies umfasse alle Stufen der Wertschöpfungskette: "Reden wir in zehn Jahren überhaupt noch über klassische Anbieter von Software, Hardware und IT-Services?"
Auch der Münchener Unternehmensberater Sinn prognostiziert die Gefahr einer Zweiteilung der IT-Organisationen: "Nah an den Geschäftsprozessen können sie als Makler im Unternehmen helfen, den Wildwuchs der Cloud-Services einzudämmen und in sinnvolle Bahnen zu leiten." Das Gegenszenario wäre eine schwache IT, die sich nur um den Systembetrieb kümmert - und Gefahr läuft, über kurz oder lang auszudünnen. Die These von Daimler-CIO Gorriz, wonach die IT dank SaaS "zu einem prozesskritischen und geschäftsgestaltenden Faktor" aufgewertet wird und mehr Luft bekommt, um neue Lösungen zu entwickeln, sieht Sinn eher skeptisch. "Das ist keine typische Entwicklung, schon gar nicht für den Mittelstand." Dennoch glaubt er, dass Gorriz in Bezug auf SaaS "im Großen und Ganzen richtig liegt" und die Wette gewinnen wird. Persönlich würde Sinn aber eher auf 29 als auf 30 Prozent SaaS im Jahr 2023 tippen: "Als ASP-Wegbereiter bin ich ein gebranntes Kind - auch damals war ich überzeugt, dass sich das Modell durchsetzen wird."
SaaS-Wette - Gorriz schickt Programme in die Cloud "Ich wette, dass der Anteil der Cloud-Nutzung in Unternehmen bis 2023 speziell für Software-as-a-Service auf 30 Prozent steigen und damit einen entscheidenden Anteil am Lösungsportfolio der IT-Landschaft haben wird", schrieb CIO Michael Gorriz von Daimler ins CIO-Jahrbuch 2013. Die Entwicklung hat jedoch weitreichende Folgen für IT-Organisation, und CIO Gorriz beschreibt drei Effekte: 1. Wahrnehmung: Die Arbeit der IT wird zunehmend zu einem prozesskritischen und geschäftsgestaltenden Faktor, der großen Einfluss auf die Effizienz einer Firma und ihrer Business-Prozesse besitzt. 2. Ressourcenverschiebung: Die IT-Abteilung wird bei Security und Wartung der Anwendungen entlastet und schafft sich so Räume für mehr Entwicklungsarbeit. Dafür eignet sie sich im Cloud-Zeitalter neues Wissen an - nämlich die Sicht des Kunden oder des Nutzers im Unternehmen. 3. Aufgabenbereich: Statt die Anforderungen der Fachabteilungen in hauseigenen Systemen abzubilden, wird die IT-Abteilung als "Service Broker" den passenden Cloud-Provider vermitteln. So wettet die Redaktion: Es ist absolut realistisch, dass Daimler-CIO Michael Gorriz recht hat und in zehn Jahren 30 Prozent der Programme als Service bereitgestellt werden. Erstens wandelt sich die Anbieterseite, zweitens entstehen Vorteile für die IT, und schließlich machen die Fachbereiche Nägel mit Köpfen. Ob dies aber dazu führt, dass IT-Organisationen automatisch aufgewertet werden und als "Service Broker" eng an allen Geschäftsprozessen die Geschicke ihrer Unternehmen koordinieren, ist zweifelhaft. |