Herr Brecke, die digitale Transformation treibt derzeit wohl fast alle Unternehmen um. Was ist Ihrer Meinung nach am wichtigsten, um die Aufgabe zu stemmen?
Jan Brecke: Wichtig ist, dass die Unternehmen den unbedingten Willen haben, die Herausforderung anzunehmen und die digitale Transformation zu meistern. Dieser Aufgabe ist unbedingt Vorrang einzuräumen. So muss auch das Topmanagement und, soweit möglich, ein Querschnitt der gesamten Mitarbeiterschaft in die Gestaltung des Veränderungsprozesses involviert sein.
Bewährt hat sich eine gute Mischung aus nominierten, anerkannten und geachteten Change Agents sowie weiteren Führungskräften und Mitarbeitern, die motiviert sind. Darüber hinaus brauchen die Unternehmen innovative Beschäftigte, die Erfahrung im Veränderungsmanagement besitzen. Doch auch mit einem engagierten Team ist ein langer Atem vonnöten. Denn bis eine Transformation wirklich sichtbar wird, dauert es mit Sicherheit drei bis fünf Jahre. Eine etablierte Kultur lässt sich schließlich nicht so schnell ändern.
Die Digitalisierung schreitet aber schnell voran. Wie schaffen die Unternehmen den Spagat zwischen den Anforderungen des schnellen Wandels und dem Bestandsgeschäft?
Jan Brecke: Hier hilft ein symbolisches Bild aus der Schifffahrt: Eine Organisation ist wie ein Ozeanriese und damit auch ein Symbol für das Standardgeschäft. Es braucht aber während und nach der Digitalisierung auch Schnellboote als Symbol für die Innovationeinheiten. Dies macht deutlich, dass im Moment ein Zusammenspiel beider Einheiten erforderlich ist.
Wir müssen auf eine schnelle Umsetzung mit Fehlertolerierung in den Innovationsbereichen hinwirken und auf eine möglichst geringe Fehlerquote in den produzierenden Standardbereichen. Das versteht man unter Ambidextrie. Viele halten Ambidextrie irrtümlicherweise nur für ein Buzzword, das durch die Managementliteratur gejagt wird. Es handelt sich hierbei aber insbesondere für den Mittelstand um einen sehr guten Weg, praxisnah Digitalisierungsprojekte anzugehen und gleichzeitig die bisherigen Stärken im Geschäft voranzutreiben.
Was ist die größte Herausforderung bei der Einführung von Ambidextrie? Gibt es Unterschiede zwischen den Unternehmen?
Jan Brecke: Es klingt banal, aber für die etablierten Unternehmen ist die größte Schwierigkeit, mit Ambidextrie überhaupt einmal anzufangen. Dabei vollzieht sich der Wandel idealerweise in kleinen Schritten: Der Innovationsbereich nimmt das Arbeiten der Zukunft vorweg und wird mehr und mehr ausgeweitet. Man kann also sofort beginnen, ein solches System aufzubauen, und es braucht dafür nicht einmal viele Ressourcen. Problematisch bei inhabergeführten Firmen ist, dass sie in der Regel zu sehr auf den Inhaber fokussiert sind. Da braucht es die Bereitschaft der Geschäftsführung, mehr in den Hintergrund zu treten.
Global ausgerichteten Unternehmen fällt die Einführung wiederum leichter als national verankerten, da sie mit der heutigen sogenannten VUKA-Welt - einer Welt, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägt ist - eher vertraut sind. Und Startups tragen natürlich wenig historischen Ballast mit sich und sind per se moderner und innovativer. Hier ist Ambidextrie am einfachsten zu realisieren. Die meisten Startups leben dies auch schon.
Eine Taskforce aus kreativen Talenten bilden
Wie lauten Ihre Tipps für die Einführung von Ambidextrie?
Jan Brecke: Sowohl für die Konzeption als auch für erste Versuche empfiehlt es sich, ein Kernteam aus Toptalenten zusammenzustellen, die das Unternehmen gut kennen und denen man zutraut, die Unternehmenskultur innovativ weiterzudenken sowie die zukünftige Führung des Betriebs mitzugestalten. Für diese Taskforce sollten also kreative und agile Denker nominiert werden, die aufzeigen, wie eine innovativere Unternehmenskultur in rund fünf Jahren auszusehen hat.
Sie sollte als Sparringspartner für den Vorstand beziehungsweise die Geschäftsleitung agieren und in regelmäßiger Interaktion aufzeigen, welche Game Changer entscheidend sind, um das Unternehmen voranzubringen. Ein Teil dieser Talente und Change Agents darf auch gerne kritisch und unbequem sein. Wichtig ist: Auch wenn es der Geschäftsführung aufgrund der derzeitigen Unternehmenskultur im Hause eventuell schwerfällt, sollte sie auf Augenhöhe mit der schnellen Eingreiftruppe gehen. Denn diese Zusammenarbeit beziehungsweise der Austausch zwischen Taskforce und Geschäftsführung simulieren auch die Arbeit in der Zukunft, die einen viel stärkeren Netzwerkcharakter als heute haben wird.
In dem Team wird außerdem schon eine agile Kultur praktiziert - beispielsweise durch tägliche Standup-Meetings, durch Sprints oder dergleichen - und man generiert erste Hypothesen, wie dies zukünftig auch in einem Großteil des Unternehmens praktiziert werden kann.
Nach einer zirka drei- bis sechsmonatigen Analysephase der Taskforce sollten dann eine erste Auswertung und weitere Schritte erfolgen. Unter anderem ist zu entscheiden, wie viele Mitarbeiter agil arbeiten sollen. Hier ist ein Prozentsatz zwischen zwei und 20 Prozent ratsam. Dieser Anteil kann im Laufe der Jahre mehr und mehr erweitert werden. Die nominierten Talente agieren hier idealerweise als Botschafter für die Ambidextrie und schulen weitere Mitarbeiter in agilen Arbeitsformen.
Welche Bedeutung kommt der Führung im Zeitalter der Digitalisierung zu?
Jan Brecke: Ich bin davon überzeugt, dass sich Führung und Zusammenarbeit komplett ändern werden. Denn künstliche Intelligenz, Robotik und Smart Data bringen die Unternehmen an den Rand der Singularität, verstanden als der Scheidepunkt, an dem ein System in etwas komplett Neues umbricht. In diesem Zusammenhang muss Führung quasi den passenden Rahmen für den rasanten Fortschritt der Technologie in den Unternehmen setzen.
Zum Video: Wie sich Soft Skills und KI ergänzen
Führungskompetenzen der Zukunft
Mit Ihrem Modell "Singularity Leadership" umreißen Sie, auf welche Führungskompetenzen es künftig ankommt. Können Sie diese kurz erläutern?
Jan Brecke: Grundsätzlich sind künftig weichere Skills gefragt. Aufgrund der tendenziellen Überlegenheit der künstlichen Intelligenz gegenüber dem Menschen, was analytische Fähigkeiten betrifft, braucht die Führungskraft im Unternehmen einen Fokus auf andere menschliche Intelligenzen. Wichtig werden Introspektion, also eine nach innen gerichtete Selbstbeobachtung, interpersonelle Fähigkeiten wie Team- und Kommunikationsfähigkeiten sowie Bauchgefühl und Intuition. Jegliche kommunikative Fähigkeiten sollten dabei darauf abzielen, dass die Mitarbeiter der Führungskraft freiwillig - völlig unabhängig von Hierarchie - folgen.
Neben einer grundlegenden allgemeinen Intelligenz sind außerdem Lernagilität und Leidenschaft nötig. Wer sich nicht wirklich weiterentwickeln will, wird es in der Digitalisierung schwer haben. Entscheidend ist ferner die Haltung der Führungskraft. Hier werfe ich das Schlagwort "Confident Humility" in den Raum, das sich am ehesten mit "selbstbewusster Bescheidenheit" übersetzen lässt. Führungskräfte, die diese gegensätzlichen Eigenschaften in sich vereinen, haben die richtige Haltung, um in der postdigitalen Welt zu führen.
Sie vertreten die These, dass Unternehmen gerade in der Digitalisierung mehr Menschlichkeit, mehr menschliche Werte brauchen. Warum ist das so?
Jan Brecke: Weil Menschlichkeit nicht nur für Sozialromantiker wichtig ist, sondern sich langfristig auch rechnet. Produkte werden immer vergleichbarer. Die wahren Innovationen werden von kreativen Menschen gemacht. Zudem hat man nachgewiesen, dass Menschen eine grundlegende soziale Sicherheit an ihrem Arbeitsplatz brauchen, um Hochleistung und Kreativität bringen zu können.
Über Jan Brecke
Jan Brecke ist Experte für Führung im digitalen Zeitalter und Singularity Leadership®. Als Diplom-Psychologe und systemischer Coach berät er mit seiner Unternehmensberatung weltweit Konzerne und coacht Senior Executives.