Dieter Zöller, 59 Jahre alt, hat Anfang der Siebzigerjahre eine Ausbildung zum Elektriker abgeschlossen. Nachdem ihn sein Ausbildungsbetrieb nicht übernahm, arbeitete er jahrelang für ein Unternehmen, das Spielautomaten aufstellte und reparierte. Mit seinem gelernten Beruf hatte das nicht viel zu tun. "Das war ja mehr Mechanik als Elektronik", sagt Zöller. "Ich habe 34 Jahre nicht in meinem eigentlichen Beruf gearbeitet."
Dann verlor er seinen Job und fing bei der KMS Zeitarbeit GmbH an, die ihn an verschiedene Arbeitgeber, unter anderem auch an die Deutsche Bank, vermittelte. Damit ist er ein ganz klassischer Zeitarbeiter, wie Elke Jahn vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bestätigt. "60 Prozent der Zeitarbeiter kommen aus der Arbeitslosigkeit", sagt die Expertin, zu deren Forschungsschwerpunkten flexible Arbeitsverhältnisse gehören. "Viele haben gar keine andere Wahl: Arbeitslosigkeit oder Zeitarbeit."
43,8 Prozent kamen über die Zeitarbeit zu einer Festanstellung
Studien belegen allerdings, dass Zeitarbeiter - zumindest die geringer qualifizierten unter ihnen - ein deutlich höheres Risiko haben, arbeitslos zu werden. Auch müssten viele von ihnen ihr Gehalt zusätzlich aufstocken. "Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist im Vergleich zur Gesamtökonomie höher, da Zeitarbeiter im Median drei Monate in einem Unternehmen bleiben, während der Median bei regulär Beschäftigten etwa vier Jahre beträgt", erklärt Jahn. Und die Frage, ob jemand aufstocken muss oder nicht, hänge stark von der Familiensituation und der Qualifikation ab. Während dem Single das Geld, das er als ungelernte Kraft bei einer Zeitarbeitsfirma verdient, vielleicht ausreicht, ist es für den Vater von drei Kindern viel zu wenig.
Und selbstverständlich verdient der Hilfsarbeiter auch in der Zeitarbeit weniger als der Maschinenbauer.
Für Zöller hat sich der Schritt allerdings ausgezahlt: Zweieinhalb Jahre lang war er als Zeitarbeiter beim Unternehmen Heinemann Projektleistungen in Mörfelden-Walldorf bei Frankfurt als Zeitarbeiter beschäftigt, bevor er übernommen wurde. Heinemann Projektleistungen ist ein Dienstleister für Elektro-, Datentechnik und Schaltschrankbau. "Die machen auch Strom, nicht nur Datentechnik", so Zöller. Der Betrieb sei auf ihn zugekommen und habe ihn abgeworben.
Damit steht er nicht alleine da, wie eine Studie der Personalberatungs- und Personalvermittlungsgesellschaft Page Personnel zeigt: 43,8 Prozent der von der Personalberatung befragten Fachkräfte, die bereits als Zeitarbeiter tätig waren, wurde eine Festanstellung angeboten.
Hier dürfe man allerdings die Kausalität nicht außer Acht lassen, erklärt Jahn. Sie gibt ein Beispiel: Zwei Personen mit gleicher Bildung, Berufserfahrung und Soft Skills werden zum gleichen Zeitpunkt arbeitslos. Einer geht in die Zeitarbeit, der andere nicht. Finden beide nach sechs Monaten eine Festanstellung, liegt es an ihrer Qualifikation - in diesem Fall ist die Zeitarbeit kein Sprungbrett aus der Arbeitslosigkeit gewesen.
Möglicher Berufseinstieg für Hochschulabsolventen
Es gibt jenseits der klassischen Zeitarbeit, die oft Beschäftigte aus dem Niedriglohnsektor vermittelt, aber auch noch eine Variante, die sich auf den kaufmännischen und technischen Bereich fokussiert. Die zu besetzenden Positionen erstrecken sich über die Bereiche Rechnungswesen & Controlling, Einkauf & Logistik, Vertriebsinnendienst & Customer Service bis hin zu Sekretariat & Assistenz sowie technische Berufe. Allerdings ist dieser Bereich eher klein, wie Jahn weiß. "Personen mit Hochschulabschluss sind in der Zeitarbeit mit einem Anteil von fünf Prozent extrem unterrepräsentiert", sagt sie. In der gesamten Ökonomie liege der Anteil der Hochschul- beziehungsweise Fachhochschulabsolventen dagegen bei 14 Prozent.
Für Hochschulabsolventen hat Zeitarbeit oft eine andere Funktion als für Handwerker, der einen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit sucht. Ein Beispiel dafür ist der Diplom-Kaufmann Ulf Florian, 48. Er hatte nach seinem Abschluss an der Universität zu Köln zunächst hauptsächlich Stabsstellen inne gehabt und viel im Controlling gearbeitet. Anschließend war er lange Zeit als freiberuflicher Unternehmensberater tätig. Die Nachfrage hat ihn zur Zeitarbeit gebracht, erzählt er. "Ich habe mich wegen einer Auftragsflaute bei einer Zeitarbeitsfirma beworben", so Florian. "Da kam dann die Frage: 'Würden Sie auch im Bereich der Zeitarbeit arbeiten?'", erinnert er sich. Zunächst sei er überrascht gewesen, weil er mit sich mit dem Gedanken gar nicht beschäftigt habe. "Dann habe ich mir gedacht: Das ist ehrbare Arbeit, also warum nicht?"
Nun macht er eine dreimonatige Krankheitsvertretung im Controllingbereich. Er verdiene zwar etwas weniger, als er es gewohnt sei, aber die Arbeit mache ihm Freude. "Die Zeitarbeit hilft, Flauten zu überbrücken", sagt er. Auch Unternehmen greifen bei Bedarf an Hochqualifizierten gerne auf Zeitarbeit zurück. "Da geht es meist um zeitlich begrenzte Projekte", erklärt Jahn vom IAB. "Der Entleiher braucht beispielsweise für drei Jahre einen Ingenieur, aber eine Festanstellung lohnt sich nicht."
Zeitarbeit als Weg in den Beruf
"Qualifizierte Zeitarbeit ist vor allem für Berufseinsteiger, sogenannte Young Professionals, und Fachkräfte geeignet, um in kurzer Zeit verschiedenste Erfahrungen zu sammeln und sich so besonders zu qualifizieren", weiß Ricardo Corominas, Managing Director von Page Personnel Deutschland. "Andere nutzen Zeitarbeit als Türöffner bei begehrten Arbeitgebern. Hier kommt es nicht selten vor, dass Mitarbeiter aus der Zeitarbeit in eine feste Anstellung übernommen werden."
Auch Brigitte Geissler, 35, ist über die qualifizierte Zeitarbeit in den Beruf gekommen. Sie hat an einer Fachhochschule Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Personalwesen studiert und kam über einen Personalvermittler zu ihrer ersten Festanstellung. Seit zwei Jahren ist sie wegen einer betriebsbedingten Kündigung wieder über ein Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt.
"Da gerade die großen Unternehmen Personalstellen fast nur noch über Zeitarbeit besetzen, lag der Gedanke nahe", sagt sie. Hinzu komme in ihrem Fall, dass ihre Erfahrungen mit der Zeitarbeit positiv gewesen seien. "Ich kann Zeitarbeit als Sprungbrett definitiv empfehlen. Da ich aus dem Personalwesen weiß, wen die Unternehmen über Zeitarbeitsfirmen einstellen, kann ich schon sagen, dass es für viele eine Möglichkeit zum Wiedereinstieg sein kann", so Geissler.
Die Crux mit dem Lohngefälle
Doch so positiv die Zeitarbeit für einzelne Betroffene ist, so schlecht ist mitunter auch das Image der Branche. "Wenn ich sage, dass ich im Bereich Zeitarbeit forsche, heißt es immer: Oh, die zahlen schlecht", erzählt Expertin Jahn vom IAB. Und tatsächlich gebe es verglichen mit der gesamten Ökonomie ein erhebliches Lohndifferential, wie sie sagt. "Das liegt aber daran, dass in der Zeitarbeit viel Geringqualifizierte beschäftigt sind und Zeitarbeitnehmer überproportional häufig in ungelernte Tätigkeiten vermittelt werden."
Mittlerweile gibt es jedoch auch für die Zeitarbeit Tarifverträge. So bekommen Zeitarbeiter nach neun Monaten in einem Betrieb einen Zuschlag von 50 Prozent auf ihr Gehalt. Das gilt seit dem Jahr 2012 zumindest für Zeitarbeiter in den Branchen Metall- und Elektroindustrie, Chemische Industrie, Kunststoff verarbeitende Industrie, Kautschukindustrie, Schienenverkehrsbereich, Papier, Pappe und Kunststoffe verarbeitende Industrie, Druckindustrie, Holz- und Kunststoff verarbeitende Industrie und Textil- und Bekleidungsindustrie. "Je länger jemand in der Zeitarbeit ist, desto geringer sind die Lohnunterschiede zur Stammbelegschaft", fasst Jahn die Verträge des Bundesarbeitgeberverbands der Personaldienstleister (BAP) zusammen. "Bei den Männern verringert sich der Unterschied nach zwei Jahren - nachdem Entlohnungsunterschiede herausgerechnet wurden, die infolge von unterschiedlicher Ausbildung, Berufserfahrung oder Tätigkeiten entstehen - von 25 auf 19 Prozent, bei den Frauen von 15 auf fünf Prozent."
Auch Elektriker Zöller bekam als Zeitarbeiter einen deutlich geringeren Grundstundenlohn als seine festangestellten Kollegen, wie er sagt. Dank Zulagen und Fahrtkostenerstattungen sei er am Ende des Monats jedoch annähernd auf das gleiche Gehalt gekommen. Wer einen Beruf gelernt oder besser noch studiert hat, verschlechtert sich durch Zeitarbeit finanziell also weniger stark.
Keine Angestellten zweiter Klasse
So sagt auch Nicole Joslyn-Freund, 53, über sich: "Ich bin kein Angestellter zweiter Klasse, ich bin komplett gleich gestellt." Die Diplom-Geologin und Mutter dreier erwachsener Töchter hatte nach ihrem Studium eine betriebswirtschaftliche Weiterbildung absolviert und ist seit dem im buchhalterischen Bereich tätig. 2012 hatte sie einen Burnout, der sie zwang, kürzer zu treten. "Ich war Finance-Manager und hatte darüber Kontakt zu Zeitarbeitsfirmen", erzählt sie. "Ich dachte, das könnte eine gute Möglichkeit für einen Wiedereinstieg in den Beruf sein." Das habe sie auch finanziell nicht bereut. "Ich hatte vorher eine leitende Position, die habe ich jetzt nicht mehr. Sonst hat sich für mich nicht viel geändert", sagt Joslyn-Freund.
Die Zukunft der Zeitarbeit
Die Zeitarbeitsbranche steht künftig allerdings vor großen Herausforderungen: Nach Jahren der Deregulierung des Zeitarbeitsmarktes greift die Politik wieder stärker in das Marktgeschehen ein. Vor allem Regulierungsansätze wie Equal Payment, branchenspezifische Tariflohnzuschläge sowie die angekündigte Verkürzung der Höchstüberlassungsdauer stellen die Anbieter von Personaldienstleistungen vor große Herausforderungen. Unter anderem sollen Leiharbeitseinsätze künftig nach 18 Monaten zu Ende sein.
"Zeitarbeiter, die gute Arbeit leisten, müssen dann nach 18 Monaten das Unternehmen verlassen, wo wir sie einsetzen, und in einen anderen Einsatz gehen. Das ist vor allem bei höher qualifizierter Projektarbeit nachteilig für Kunden und Mitarbeiter gleichermaßen", sagte Jacques van den Broek, Chef von Randstad, dem weltweit zweitgrößten Leiharbeitskonzern, im Interview mit der WirtschaftsWoche. Er ist überzeugt, das Politik und Medien übersehen, dass Zeitarbeitsjobs in keinem anderen Land - ausgenommen in Österreich - so sicher sei wie in Deutschland. Und auch Jahn sagt, dass sich die Situation der Zeitarbeiter verändert habe. "Die Branche hat sich in den letzten Jahren viel Mühe gegeben, ihr Image zu verbessern", urteilt die IAB-Expertin. "Aus ihrem Schmuddelimage kommt die Zeitarbeit aber wegen schwarzen Schafen trotzdem nicht so richtig raus."
Das mag mit einer der Gründe sein, weshalb die Gewinne der Personaldienstleistungsanbieter in den vergangenen Jahren trotz guter Konjunkturaussichten immer weiter gesunken sind. Zudem wird die mangelnde Verfügbarkeit von Fachkräften zunehmend zu einer Wachstumsbremse, wie eine Studie des Beratungsunternehmens Baker Tilly Roelfsauf Basis einer Befragung unter den 500 größten Personaldienstleistern Deutschlands zeigt.
Vor diesem Hintergrund zeigen sich die Zukunftserwartungen der Anbieter auch sehr uneinheitlich: Die befragten Marktteilnehmer befürchten vor allem die mit den aktuellen Regulierungsvorhaben der deutschen Bundesregierung verbundenen Einschränkungen. Eine Mehrheit der Personaldienstleister rechnet mit Umsatz- und Ergebnisrückgängen durch die (Wieder-)Einführung der im Koalitionsvertrag angekündigten Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten. "In puncto Regulierung sollte neben einer Stärkung der Rechte des Personals vor allem auch die volkswirtschaftliche Dimension in Betracht gezogen werden. Schließlich ist die Zusammenarbeit mit Zeitarbeitsfirmen branchenübergreifend ein zentraler Stellhebel für deutsche Unternehmen, um flexibel auf Konjunkturschwankungen reagieren zu können", sagt Dietmar Flügel, Leiter der Studie und Partner bei Baker Tilly Roelfs.
Außerdem erwarten die Personalvermittler, dass sich die Zeitarbeit in Zukunft durch tarifliche und politische Entscheidungen weiter verteuern wird. Das hätte vor allem für die gering qualifizierten Mitarbeiter Folgen. Werden sie aus Kostengründen nicht mehr als Leiharbeiter nachgefragt, droht vielen der Gang zum Arbeitsamt. Und das tut der Psyche weh, wie Jahn weiß: "Für viele Zeitarbeitnehmer ist Arbeitslosigkeit schlimmer als eine schlechte Entlohnung."
(Quelle: Wirtschaftswoche)