Die traditionelle hierarchische Organisation hat möglicherweise ihren Peak überschritten. Neue Modelle, die Kundenbedürfnissen und der Globalisierung Rechnung tragen sollten, waren zuletzt nicht immer erfolgreich. So setzte sich etwa die Prozessorganisation nicht gegen die Hierarchie durch. Oder die im Zuge von Kompetenzdezentralisierungen neu geschaffenen Units konnten sich nicht effektiv genug um ein strategisches Ziel herum ausrichten und schufen deswegen eher Parallelrationalitäten.
Innovationen blieben oft die Aufgabe von Projekten. Das war nur allzu oft ein recht düsteres Kapitel organisatorischer Praxis, da diese über zu wenig Anweisungsmacht und Motivationsstrukturen verfügten, um erfolgreich agieren zu können.
Nun sind zwei neue Elemente verfügbar, die begonnen haben, die Art und Weise, wie wir arbeiten, zu revolutionieren:
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Da ist zum einen das Auftreten von sogenannten freien Produzenten (Peers), die oftmals ihre verfügbare Zeit - zunächst häufig unbezahlt - nutzen, um gemeinsam mit anderen Peers für sich selbst und andere interessante Dinge zu schaffen, wie etwa Software, journalistische Inhalte, Designs und Lösungen für Issues aller Art.
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Der "kognitive Surplus" der Peers kann nun genutzt werden, weil - zum anderen - soziale Medien die Interaktion zwischen den Peers kostengünstig ermöglichen.
Nun haben Unternehmen - allen voran solche aus der IT-Industrie - erkannt, dass sie nur dann ausreichend Innovationen entwickeln können, wenn sie diesen Surplus anzapfen. Allein sind sie wegen vielfältiger Kostensenkungen oft nicht mehr in der Lage, die für Innovationen notwendigen vielen "Trial-and-Error"-Versuche zu durchlaufen. Beobachtet man die - häufig im Stillen stattfindende - Transformationen der IT-Industrie, wie bei SAP, IBM und Red Hat, so erkennt man dort die Strategie, die Intelligenz der Massen/Crowd und innovativer Entrepreneure zu nutzen: In der Masse sind die unzähligen "Trial-and-Error" Innovationsprozesse einfacher und kostengünstiger zu organisieren als in der Hierarchie.
Wenn sich IT-Unternehmen immer mehr zu Organisationen hin entwickeln, die nicht mehr selbst produzieren und proprietäres Wissen generieren, sondern vielmehr versuchen, die Intelligenz der Peers zur Erfüllung von Kundenanforderungen zu organisieren, dann spricht wohl einiges dafür, dass die traditionelle
IT-Organisation eines Unternehmens beginnt, diese Elemente auch für sich zu nutzen.
Radikale Individualisierung
Virtuelle Plattformen und Kooperationen drängen klassische Hierarchien in Wirtschaft und Politik zurück. Ayad Al-Ani beschreibt in seinem neuesten Buch die Chancen und den Preis, den wir für die radikale Individualisierung zahlen müssen. Erschienen ist das Buch im Februar 2013 im Springer-Verlag, Heidelberg, 303 Seiten, 39,99 Euro. |
Unterschiedliche Arbeitswelten
Zunächst muss festgehalten werden, dass die Arbeitsweisen der traditionellen IT-Organisation, aber auch der Fachbereiche auf der einen und der Crowd/Start-ups auf der anderen Seite sehr unterschiedlich sind:
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Die Crowd und ihre "freien Produzenten" folgen in der Regel dem Prinzip der Selbststeuerung und ähnlichen Kulturelementen der Techno-Elite (wie Urheberrechte, Peer-Reviews).
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Die Crowd produziert entlang einer "zufälligen" Supply Chain (die Crowd wird das Problem lösen) im Gegensatz zu einer (vermeintlich) deterministischen Supply Chain der Hierarchie (eine angebbare Person wird das Problem lösen).
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Peers arbeiten in Expertenhierarchien und Rollen, die vom Beitrag des Einzelnen und von seiner Reputation abhängen und flüssig sind.
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Peers identifizieren sich selbst zur Lösung eines Problems im Gegensatz zur Hierarchie, in der (immer knappe) Ressourcen "abgeordnet" werden müssen.
Das Innovationscampus-Modell
Daran schließt sich nun die Frage an, wie man innovative und selbstgesteuerte Wissensarbeiter zu einer Mitarbeit auch an kleinteiligen Issues bewegen kann, in denen kein "aufregender" gesellschaftlicher und technologischer Fortschritt abbildbar ist.
Das Kooperationsmodell zwischen Peers und Unternehmen sieht vor, dass in einem physischen oder virtuellen Rahmen freie Produzenten und Start-ups an der System- und Produktentwicklung mitarbeiten. Mit dem Unternehmen sind sie durch Kollaborations- und Governance-Prozesse verbunden, die es ermöglichen, Ideen der Externen in die Organisation einzuschleusen und Konsens herzustellen.
Die Innovationen können sich auf zwei unterschiedliche Bereiche fokussieren:
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Produktinnovationen: Dies ist wohl der einfachste Bereich für eine externe Kooperation, weil hier die Kundensichtweise dominiert.
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Mit dieser Kundensicht über Masken und Datenfelder verbunden ist die Systementwicklung: Hier sind graduell unterschiedliche Varianten denkbar, die sich entlang unterschiedlich ausgeprägter Vorgaben definieren. IBM hat im Zuge seines "Liquidprojekts" etwa freie Produzenten über Plattformen eingebunden, und diese entwickeln Lösungen auf Basis bereits definierter Spezifikationen. Erfahrungen zeigen, dass Arbeitspakete, die in drei bis fünf Arbeitstagen umgesetzt werden können, am besten funktionieren. Definierte Systemkerne können aber auch durch Peers eigenständig weiterentwickelt werden, indem diese Funktionalitäten definieren, testen oder Issues fixen, so wie dies in "Open Software"-Prozessen erprobt wurde. Hier ist das Ergebnis offener und bedarf eines Konsenses zwischen Peers und Unternehmen über die Ziele der Applikation.
In diesem Modell sind aber auch die Mitarbeiter der Organisation aufgerufen, neben oder statt ihrer Linienaufgabe mitzuarbeiten (Coupled Innovation Process). Essenziell erscheint, dass die Innovationskraft von externen Start-ups, Firmen und Peers genutzt wird, um die internen Innovationskapazitäten aufzuwerten:
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Start-ups können in den Campus einziehen, wenn sie sich verpflichten, beispielsweise X Tage für das Unternehmen zu arbeiten oder Y Ideen einzubringen
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Peers/Kunden/Externe können sich über Innovationsplattformen an der Lösung von Issues des Unternehmens beteiligen. Hierzu können eigene beziehungsweise mit Partnern entwickelte Plattformen, aber auch bereits existierende Plattformen genutzt werden, die die Crowd bündeln. Beispiele hierfür sind etwa Jovoto.com und Innocentive.com, die Tausende kreativer Peers mobilisieren können. Die Entlohnung der Peers erfolgt über Prämien und Lizenzgebühren.
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Schaffung informeller Räumlichkeiten im Campus zum Austausch von Ideen zwischen Unternehmensmitarbeitern und Externen (Third Places-Konzept der Creative Class).
Damit eine solche Interaktion zwischen Internen und Externen funktionieren kann, bedarf es entsprechender Governance-Prozesse oder Schnittstellenfunktionen.
Governance-Mechanismen einführen
Um eine bessere Verknüpfung zwischen den Anforderung der Unternehmung beziehungsweise ihrer Kunden und den Motivationen der Peers und Start-ups sicherzustellen, können je nach Bedarf diverse Governance-Mechanismen beispielhaft verwendet werden:
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Innovationsboards/Solution Fairs: Analog der Präsentation vor Investoren kann der Campus entsprechende Innovationsmärkte zu regelmäßigen Zeitpunkten organisieren, zu denen Peers, Start-ups und Mitarbeiter Produktideen vorstellen.
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Topic Platforms: Zu einzelnen Innovationsthemen/Fachthemen/Geschäftsprozessen werden integrierte Innovationsplattformen aufgesetzt, an denen interne Mitarbeiter (Fachbereich, IT) und Externe teilnehmen.
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Developer Platforms: Externe können in Umsetzungsprojekte integriert werden, um Lösungsprozesse zu beschleunigen. Entsprechende Anpassungen der Softwareentwicklungsprozesse müssen vorgenommen werden.
Scout- und Übersetzungsfunktionen sind wichtig
Die unterschiedlichen Arbeitsweisen und Motivationsanreize zwischen der Hierarchie und neuen Kollaborationsarten machen es notwendig, dass eine Such- und Brückenfunktion dazugeschaltet wird, die diese beiden Sphären entlang folgender Funktion verbinden kann:
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Identifikation: Um die thematisch richtigen Start-ups/externen Firmen/Peers auf den Campus zu bringen, müssen entsprechende Akteure (Peers, Start-ups, Firmen) und Netzwerke identifiziert werden. Möglicherweise kann man an bestehende Netzwerke von IT-Providern, etwa von SAP oder IBM, andocken und dort Sub-Gruppen bilden.
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Bargain: Es müssen Incentives und Kompensationsleistungen angeboten werden, um die Peers zu gewinnen. Die Incentives können materieller, aber vor allem auch immaterieller Art sein (zum Beispiel Reputation und Wertschätzung).
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Ankopplung: Es müssen die technischen (Kollaborationsplattformen, Räume) und prozeduralen Voraussetzungen geschaffen werden (zum Beispiel Öffnung der Codes, Methoden, Steuerungsmechanismen, Property Rights), damit Externe an den Innovationen der Unternehmen mitarbeiten und beide Seiten ihre Ansprüche und Interessen schützen können.
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Translate: Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind die Innovationen der Peers und Start-ups nicht ohne Weiteres für das Unternehmen nutzbar. Deshalb muss die Brückenfunktion in der Lage sein, diese Innovationen als Entwicklungsziele in die einzelnen Produktentwicklungsbereiche beziehungsweise dann in Applikations-Cluster einzubringen.
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Verbreitung: Haben sich erfolgreiche Innovationsprozesse und Plattformen etabliert, können sie innerhalb der Organisation multipliziert werden (Change by Platforms).
Diese Scout- und Brückenfunktion existiert allerdings heute noch kaum in einer Organisation. Gerade jüngere Mitarbeiter bringen viele Voraussetzungen für eine derartige Funktion mit, etwa Erfahrung in der Arbeitsweise von Netzwerken oder die Nutzung von Kollaborations-Tools, und könnten beim Aufbau eine wichtige Rolle spielen. Manager von Innovationsplattformen kämen hierfür ebenfalls infrage. Neben externen Beratern, die sich in absehbarer Zukunft hier spezialisieren werden, können auch kleine innovative Unternehmen, die heute schon die Balance zwischen interner und externer Innovation beherrschen, eingebunden werden.
Umsetzungsstrategien
IT-Organisationen werden sich vor allem auf das Management von Kundenforderungen, Architektur-Management, Designrichtlinien, Tests und Koordinationsaufgaben fokussieren. Produktion und Innovation werden in diesem Modell zunehmend von Peers und anderen Produzenten übernommen. Der IT-Campus spielt eine wichtige Rolle in der Migration hin zu solchen Modellen und erlaubt es, die neuen Beziehungen in den verschiedenen Ausprägungen zu pilotieren und schrittweise auszubauen.
Ayad Al-Ani ist Professor an der Hertie School of Governance in Berlin.