Wer in der IT arbeitet, hat es gut. Dieses Bild vermitteln die offiziellen Statistiken der Krankenkassen. Demnach kommen Beschäftigte der IT-Branche auf 6,6 Arbeitsunfähigkeitstage pro Jahr - wenig im Vergleich mit anderen Sparten. Die Technische Universität (TU) Dortmund hält das für "ein Phänomen des Präsentismus". ITler tauchen in den Krankenkassenstatistiken nicht auf, da sie auch dann weiter arbeiten, wenn es ihnen nicht gut geht, so die Wissenschaftler.
Sie wollten es genauer wissen und haben eine eigene Studie unter 344 Beschäftigten der IT- und Medienbranche - Freelancer und Angestellte - durchgeführt. Grund: Die Erfahrungen, die den Wissenschaftlern mitgeteilt wurden, zeichnen ein anderes Bild als die Krankenkassenstatistiken. Diese Diskrepanz hat sich in der Studie bestätigt. Dazu ein paar Zahlen:
Muskel- und Skelettbeschwerden sowie psychische Probleme: Die Studienteilnehmer beklagen Muskel- und Skelettbeschwerden sowie psychische Probleme, wobei die Nennungen von Freelancern höher liegen. 65 Prozent der Freiberufler führen Muskel-/Skelettbeschwerden an, bei den abhängig Beschäftigten sind es 41 Prozent. Bei den psychischen Problemen ist die Diskrepanz mit 51 Prozent (Freiberufler) und 41 Prozent (abhängig Beschäftigte) weniger stark.
Verdauungsbeschwerden: Probleme mit der Verdauung zeigen sich häufiger bei Angestellten als bei freien Mitarbeitern. 30 Prozent der Angestellten und 28 Prozent der Freien berichten davon.
Herz-/Kreislaufbeschwerden und Atmungssystem: 21 Prozent der Freelancer und 15 Prozent der abhängig Beschäftigten beklagen Herz-/Kreislaufprobleme. 18 Prozent der Freiberufler und zwölf Prozent der Angestellten geben Beschwerden mit dem Atmungssystem zu Protokoll.
Schmerzpunkt Nummer Eins, die Probleme mit Muskulatur und Skelett, führen die Forscher zunächst einmal auf sitzende Tätigkeiten zurück. Das gilt zumal, wenn der Arbeitsplatz ergonomische Mängel aufweist. Dass Freelancer diese Klage soviel häufiger äußern, liegt aber auch "zu einem nicht unerheblichen Maße" an Stress, so die Studienautoren.
Die häufigsten Stressfaktoren
Folge des Ganzen: Nur drei von zehn Freiberuflern der IT- und Medienbranche sowie nur rund vier von zehn (41 Prozent) abhängig Beschäftigten trauen sich selbst zu, bis zum Alter von 65 Jahren durchzuhalten. 14 Prozent der Freien und zehn Prozent der Angestellten glauben, dass sie nicht einmal bis 50 mithalten.
Als die zehn wichtigsten Stressfaktoren gelten folgende:
1. Schlecht zu bewältigende Aufgaben,
2. sinnlose Aufgaben und das Gefühl, der Einsatz lohne sich nicht,
3. kaum Wertschätzung durch Vorgesetzte und/oder Kunden,
4. nicht nachvollziehbar strukturierte Aufgaben,
5. Ergebnisdruck,
6. geringe Austauschmöglichkeiten mit Kollegen,
7. unangemessene Vergütung,
8. keine regelmäßigen Pausen,
9. Zeitdruck sowie
10. keine zeitliche Trennung zwischen Arbeit und Privatleben.
Die TU Dortmund wollte wissen, wie sich Stress und psychische Probleme äußern. Die Befragten sprechen vor allem von negativen Emotionen wie Angst und Erschöpfung. Sie hätten das Gefühl, sich nicht mehr erholen zu können.
Obwohl Freelancer die abgefragten Gesundheitsprobleme (bis auf Verdauungsbeschwerden) häufiger ankreuzen als abhängig Beschäftigte, stehen sie nicht unbedingt schlechter da. Sie fühlen sich zum Beispiel freier und erhalten manchmal mehr Wertschätzung für ihre Arbeit als Angestellte. Klagen über mangelnde Freiheit bei Fragen von Arbeitsorganisation und -zeit kamen öfter von Angestellten.
Andererseits fühlen sich Freie gestresster, weil sie Arbeits- und Privatleben weniger gut trennen können. Weitere Stressfaktor sind fehlender sozialer Austausch und wirtschaftliche Unsicherheit.
Stress kann aber auch gute Seiten haben. Mediziner unterscheiden zwischen dem negativen Disstress und dem positiven Eustress. So fand die TU Dortmund heraus, dass Menschen, die Spaß an der Arbeit haben und stolz auf ihre Leistung sind, Belastungen besser gewachsen sind. Das Kriterium ist hierbei die persönliche Erfüllung. Fehlt diese jedoch, steigt die Burnout-Gefahr.
Prävention erst bei Wehwehchen
Stellt sich die Frage nach der Prävention von Gesundheitsgefahren. Nach den Zahlen der Studie kümmern sich rund acht von zehn Befragten (Freelancer: 82 Prozent, Angestellte: 79 Prozent) darum. Offenbar jedoch nicht, bevor die ersten Wehwehchen auftauchen: Umfrageteilnehmer zwischen 20 und 30 Jahren zeigen sich als "Präventionsmuffel". Ab 56 tut jeder etwas für die Gesunderhaltung.
Mittel Nummer Eins ist Sport. Außerdem achten die Befragten auf ihre Ernährung. Jeder Vierte praktiziert regelmäßig Entspannungstechniken.
Was Urlaub betrifft, scheinen ITler Nachhilfe zu brauchen. Fast jeder vierte Freiberufler (23 Prozent) hat im vergangenen Jahr keinen Urlaub gemacht. Das sind jedoch weniger als bei den abhängig Beschäftigten - unter ihnen geben das 29 Prozent an. Wenn die Menschen denn wegfahren, fällt ihnen das Abschalten schwer.
Keine Ahnung wie man Urlaub macht
Das beginnt schon mit der Planung des Urlaubs. Wie Studienleiterin Dagmar Siebecke beobachtet, orientieren sich die Befragten dabei an Image- und Statusüberlegungen statt daran, was wirklich Entspannung bringt. Siebecke: "Hier ist zum Teil tatsächlich Hilflosigkeit und Unterstützungsbedarf zu diagnostizieren".
Die Studie über Belastungen, Beanspruchungen und Ressourcen in der IT-Arbeit ist Teil des Projektes "Pragdis". Pragdis steht für "Präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutz in diskontinuierlichen Erwerbsverläufen" und beschäftigt sich mit Präventionsstrategien für schwer erreichbare Zielgruppen (Freelancer, Intelligent Mobile Worker und diskontinuierlich Beschäftigte), die zukünftig durch das Raster des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu fallen drohen. Im Verbund der Technischen Universität Dortmund mit der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Team Gesundheit GmbH werden Ansatzpunkte innovativer Prävention auf den Ebenen Individuum, Unternehmen und Netzwerke erarbeitet.
Projektleiterin Dagmar Siebecke ist Diplom-Psychologin und Diplom-Arbeitswissenschaftlerin. Pragdis wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Europäischen Union (Europäischer Sozialfonds) gefördert.