Unter Content versteht viele Anbieter heute alles – vom Dokument über Multimedia-Dateien, Bilder und Computer-Output-on-Laser-Disc (COLD) bis hin zu Records. Aber auch an Funktionen ist bei ECM einiges hinzugekommen: Zu den Klassikern Dokumenten-Management, Archivierung und Dokumentenerfassung(Capturing) gesellen sich Workflow, Web-Content-Management (WCMS), Collaboration, Records-Management, Output-Management und Digital-Asset-Management. Die meisten Systeme verfügen heute über einen Funktionsumfang, der vor einigen Jahren noch den Kauf mehrerer Systeme erfordert hätte.
Klar, dass nicht jeder dieses Funktions-Potpourri aus eigener Kraft stemmen kann. Übernahmen wie die von Filenet durch IBM oder von Hummingbird durch Open Text sind seit Jahren an der Tagesordnung. Sind Firmenaufkäufe doch der schnellste Weg, um – zumindest verbal – mit einer kompletten Suite antreten zu können. Zugeschlagen haben dabei nicht nur IBM und Open Text: Legato, Documentum, Captiva und Acartus sind heute vereint unter dem EMC-Dach. Hummingbird schnappte sich Red Dot, SoftM übernimmt Solitas Informatik, Beta Systems und Kleindienst fusionieren.
Die Exklusivität ist dahin
Die Folge dieses Kaufbooms: Bestimmte Marktsegmente wie zum Beispiel Workflow-Systeme oder Records-Management-Lösungen sind quasi ausverkauft. Lediglich für Archivierung- und auch Erfassungslösungen sowie Dokumenten-Management und Web-Content-Management gibt es noch zahlreiche Anbieter.
Aber nicht nur ECM-Anbieter reichern ihre Suiten mit Funktionen aus den Nachbarsuiten an. Umgekehrt sind Funktionen, die früher der ECM-Branche Exklusivität gaben, heute in Standardsoftware zu finden. Aus allen Richtungen springen die Anbieter auf den Zug auf. Egal ob Hersteller von Web-Content-Management-Systemen, Storage-Hersteller, Output-Spezialist oder Infrastrukturanbieter: Man kauft sich ein, strickt an den Lösungen und integriert so weit wie möglich. Die Großen schlukken die Kleinen; manchem steckt noch der eine oder andere Brocken im Hals. Mit „Information-Lifecycle-Management“ haben die Speicherhersteller StorageTek, HP, EMC und Hitachi sogar einen neuen Trend ins Leben gerufen, der anfangs als Konkurrenz gesehen wurde. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet. ILM und ECM werden heute als Ergänzung verstanden.
Auch die Suchmaschinenbetreiber greifen – zumindest indirekt – den ECM-Markt an. „Google ist der natürliche Feind des Records-Management“, sagt Ulrich Kampffmeyer, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Project Consult. Enterprise Search macht’s möglich: Alles finden, ohne es abzulegen (siehe Seite 30). Sind die Suiten funktionell aufgerüstet, sind Marktanteile zu sichern. Bestes Beispiel: der Kauf von Hummingbird durch Open Text.
Die wichtigsten Spieler
Die großen Analystenhäuser wie Gartner und Forrester konzentrieren sich in ihren Analysen auf den amerikanischen Markt und sind damit nur bedingt repräsentativ für Deutschland. Lediglich die als „führend“ eingestuften Unternehmen sind auch in Deutschland bekannt – tummeln sich doch im Leader-Quadranten von Gartner IBM, EMC, Stellent, Open Text, Filenet und Hummingbird. Um in diesen Quadranten zu kommen, müssen die Hersteller mehr als eine überzeugende Vision haben: Die ECM-Suite muss gut skalierbar und integrierbar sein und zumindest die sechs ECM-Basisfunktionen – DMS; WCM, Records-Management, Capturing, Collaboration und Workflow – vorweisen. Ganz vorne platzieren die Analysten EMC und IBM.
IBM greift mit dem umfassendsten ECM-Portfolio neue Märkte an. Besonders WebSphere als Portalplattform wird immer weiter ausgebaut. Mit Einstiegspaketen zu günstigen Preisen will IBM neue Märkte erschließen. Um Marktanteile zu gewinnen, kann man natürlich auch die Konkurrenz kaufen. So geschehen Mitte August: 1,6 Milliarden Euro hat IBM für Filenet auf den Tisch gelegt. Der ECM-Keyplayer hatte sich bislang dadurch ausgezeichnet, alle wichtigen ECM-Funktionen im Eigenbau erstellt zu haben. Mit diesem Konzept ist er besonders erfolgreich im Banken- und Versicherungsmarkt sowie in den öffentlichen Diensten unterwegs.
Auf der anderen Seite holt EMC immer weiter auf. EMC hat sich früher als andere durch Käufe in eine gute Ausgangslage gebracht. Die Analysten raten dem Unternehmen, sich jetzt stärker auf einzelne Branchen zu fokussieren. Lediglich in der Pharmaindustrie hat sich die eingekaufte Documentum bereits einen Namen gemacht. Interessant wird auch sein, wie sich EMC gegen Microsoft positioniert.
Stellent hingegen bietet nach Forrester die meisten ECM-Funktionen und kann Content jeglicher Art verwalten. Allerdings wird das Unternehmen auf dem deutschen Markt erst langsam bekannter.
Open Text hat sich mit zahlreichen Käufen massenweise Überschneidungen ins Haus geholt, die es noch zu bereinigen gilt. Eine Strategie, die die Analysten in Frage stellen. Doch den Verantwortlichen bei Open Text scheint der Rat der Analysten egal zu sein – es wird weitergekauft: Für Hummingbird hat man mehr als 482,9 Millionen US-Dollar geboten, um die Offerte der Investorengemeinschaft Symphony Technology Group zu überbieten. Dabei hat sich Hummingbird erst vor kurzem mit dem Kauf von Red Dot in die Riege der großen ECM-Spieler katapultiert. Zumindest führten die Gartner-Analysten das Unternehmen seit November 2005 im Leader-Quadranten. Inzwischen hat der Geschäftsvorstand von Hummingbird dem Übernahmeangebot von OpenText zugestimmt und den Aktionären empfohlen, auf das Angebot von 27,85 US-Dollar pro Aktie einzugehen.
ECM gehört in die Infrastruktur
Für die Analysten von Forrester gehören ECM-Funktionen in die IT-Infrastruktur. Der Grund: Anwender wollen von den großen Infrastrukturanbietern kaufen. Hoffen sie doch, dass es den großen Softwarehäusern gelingt, ECM in ihr gesamtes IT-Portfolio zu integrieren. Natürlich suggerieren Namen wie EMC, Microsoft und IBM zudem Investitionssicherheit. Die bereits erwähnte Folge: Die ECM-Anbieter lassen sich immer weniger vergleichen. Konzentrieren sich viele große Anbieter darauf, ECM-Funktionen in die Infrastruktur zu integrieren, bauen andere wie zum Beispiel Filenet oder Stellent an Content-zentrierten Anwendungen.
Geht es um ECM auf Infrastrukturebene, sind nach Forrester EMC und IBM die klaren Marktführer. IBM als Infrastrukturanbieter und ältester Spieler auf dem ECM-Markt steht sozusagen konkurrenzlos da. Aber welche Rolle spielen Microsoft, Oracle und SAP?
Software-Klassiker auch dabei
SAP als klassischer ERP-Anbieter dehnt sich von datenorientierten zu dokumentenorientierten Lösungen aus. SAP offeriert inzwischen auf Basis des NetWeaver vier von sechs ECM-Komponenten. Mit DMS, Records-Management, Business-Process-Management und Collaboration ist SAP erste Wahl für langjährige SAP-Kunden. Gartner sieht ECM à la SAP nur in SAP-basierten Umgebungen. Ist es notwendig, ein umfassenderes ECM zu etablieren, wird SAP Druck von Oracle und Microsoft bekommen.
Konkurrenten auf dem Weg
Oracle hat mit Content Services 10g den ECM-Markt betreten – eine ECM-Suite, die nach Analystenmeinung noch sehr rudimentär ist. DMS, Workflow und optional Recordsmanagement sind bereits vorhanden. Für den Anfang reicht es. Doch erwarten viele mehr: Warum sonst fegen immer wieder Übernahmegerüchte über den Markt? Wird Oracle doch noch einen ECM-Anbieter schlucken? Egal ob aus eigener Kraft oder gekauft: Sicher ist, dass sich der Datenbankpartner vieler ECM-Hersteller langsam, aber sicher zum Konkurrenten mausert.
Bei Microsoft dachte man sich wohl: Warum nicht mehr aus der Content-Schmiede Office machen und sich auch um die Content-Verwaltung kümmern? Nach Forrester ist Microsoft auf jeden Fall der größte Visionär im ECM-Umfeld. Schon heute können die Anwender von Microsoft Office so genannte Windows-Sharepoint-Services ohne Mehrkosten nutzen. Herzstück der ECM-Strategie wird aber der neue MS-Office-Sharepoint-Server 2007 (siehe auch Seite 52): Er wird nicht nur mit Records-Management aufwarten, auch WCM, Formular-Management und Enterprise Search sind integriert. Hinzu kommen – so der verantwortliche Produkt-Manager Andreas Schulz – „ein bisschen Business-Intelligence und ein bisschen Workflow“. Den zahlreichen Partnern bleiben nur noch die Funktionen Archivierung und Dokumentenerfassung. Außerdem sind Experten gefragt, die die neuen Angebote auf branchenspezifische Belange herunterbrechen. Ulrich Kampffmeyer vermisst noch die Durchgängigkeit der Lösung: „Ein Schritt in diese Richtung wäre eine gemeinsame Datenbasis für Access, Exchange und Sharepoint: Auch die hat man in Form des SQL-Servers schon im Haus.“
Der deutsche ECM-Mittelstand
Im Gegensatz zum ERP-Markt, dessen Hersteller sich an einer Hand abzählen lassen, sind auf dem deutschen ECM-Markt nach wie vor auch viele mittelständische Softwareunternehmen zu Hause. Bernhard Zöller, Geschäftsführer der gleichnamigen DMS-Beratungsgesellschaft, hat in einer noch nicht veröffentlichten Branchenstudie über 50 DMS/ECM-Hersteller für den deutschen Markt ausfindig gemacht. Dabei sind Betasystems, COI, d.velop, docuware, Easy, ELO, GFT-Solutionen, IQDOQ, Optimal Systems, Saperion, SER Solutions, Soft M, windream und viele andere. Ulrich Kampffmeyer charakterisiert dieses Marktsegment so: „Typischerweise entwickeln die Anbieter ihre Lösungen ausgehend vom DMS hin zum Business-Process-Management. Bei Collaboration verweist man gerne auf Domino oder Exchange. Web-Content-Mangement wird eher stiefmütterlich behandelt.“
Die Grenzen verschwimmen, das Profil der Branche verwischt, ECM wird zum Allgemeingut. Während IBM und EMC schon lange auf das Thema setzen, wollen nun auch Microsoft, Oracle und SAP den ECM-Markt erobern. Die Folge: Immer mehr ECM-Funktionen verschwinden in Betriebssysteme, wandern in Datenbanken und in Standardanwendungen. ECM-Funktionen werden in den Untergrund der Systeme gedrängt. Das ist die eine Seite, die andere: In jedem Unternehmen gibt es Content-zentrierte Prozesse und Akten, die auch weiterhin von einem ECM-System abgebildet werden und die auch weiterhin auf dem Bildschirm des Anwenders erscheinen.