Thomas Engel machte sich nichts vor: "Wenn du was Neues anfangen willst", sagte sich der damalige CIO beim Schweizer Logistikkonzern Kühne + Nagel vor zwei Jahren, "dann musst du das jetzt tun." Nach 20 Jahren im Management-Dienst für die Metro, Ploenzke, AMC und zuletzt elf Jahre "Tag und Nacht" für Kühne + Nagel im IT-Top-Management war "einfach mal eine kreative Erholungspause nötig". Ein Hörsturz erleichterte dem damals 52-Jährigen die Entscheidung ein wenig, Körper und Geist eine Verschnaufpause zu gönnen - das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Kürzertreten als Trend
Seine Entscheidung kürzerzutreten liegt im Trend, meint Michael Kastner, Organisationspsychologe und Arbeitsmediziner von der Uni Dortmund. Unter den fünf von Kastner gefundenen Gründen für Unternehmer, sich mit dem Thema Work Life Balance auseinanderzusetzen, passt Engel ausgezeichnet zum Thema Downshifting (Grund 1), also sich dem täglichen Druck zu entziehen und eine Nische zu suchen, etwa als Folge psychomentaler Beeinträchtigungen (Grund 2; Kastner: "Die Leute werden rappelig"). Großes Problem ist, dass die Menschen mit der zunehmenden Komplexität, die die Globalisierung mit sich bringt, nicht Schritt halten können (Grund 3). Bei einer Halbwertszeit in der IT von 17 Monaten sei es für einen CIO auch mal angesagt, die alte stabile Lösung beizubehalten und nicht gleich wieder von vorne anzufangen. Wenn dann noch die Kompetentesten ins Ausland gehen (Grund 4) und aufgrund des demografischen Faktors zu wenig Nachwuchs heranwächst (Grund 5), ist für Kastner klar, dass Unternehmer handeln müssen. Aus rein existenziellen, also wirtschaftlichen Gründen.
Nach einer aktuellen Untersuchung der Europäischen Beobachtungsstelle für berufsbedingte Risiken im spanischen Bilbao gehen 60 Prozent der versäumten Arbeitstage auf Stress zurück, der mehr als jeden fünften (22 Prozent) betrifft. Das Institut beziffert den so verursachten jährlichen wirtschaftlichen Schaden in Europa auf über 20 Milliarden Euro. Unsichere Arbeitsverhältnisse, hoher Termindruck, unflexible und lange Arbeitszeiten und nicht zuletzt die immer weniger zu bewältigende Flut an Informationen auf elektronischem Wege machen Mitarbeitern in den Unternehmen zu schaffen.
Dass auch Manager über zunehmende Arbeitsbelastung und Verantwortung klagen, zeigt eine Umfrage der Management-Beratung Kienbaum. 83 Prozent der 142 Mitte vorigen Jahres befragten Manager bejahten die Frage, ob Arbeitsbelastung und Verantwortung zugenommen hätten. Jedoch empfand nur eine Minderheit dies als störend, 19 Prozent gaben an, die hohe Arbeitsbelastung anstrengend zu finden. 44 Prozent hingegen fanden sie ganz "normal" und 37 Prozent gar "herausfordernd". Befragt man zudem nur jene, die mit mehr als 200.000 Euro besonders gut verdienen, sinkt der Anteil derer, die ihre Arbeit als "anstrengend" empfinden, auf neun Prozent, bei den schlechter verdienenden Managern steigt der Anteil auf 22 Prozent.
Da passt Thomas Engel gut ins Bild. Auch der Ex-CIO von Kühne + Nagel hat seinen Job, den er "24 Stunden am Tag" erledigt hat, immer gerne gemacht und als "Herausforderung" angesehen. Auch an einem 25. Dezember, als er sein Handy versehentlich nicht ausstellte und "ein Kunde aus dem arabischen Raum" bei ihm anrief. "Weihnachten", fragte der, "was ist das?" Die Hälfte seiner Arbeitszeit war Engel unterwegs. "Ich habe aus dieser Zeit viel mitgenommen, viel erreicht", resümiert er heute. Und doch nagt das enorme Pensum an Körper und Geist.
Halbes Jahr mit fixen Terminen voll
Der Wechsel vom emsigen und umtriebigen IT-Manager zum Aussteiger hat ihm entsprechend zu schaffen gemacht: "Ich musst mich bremsen, nicht zu viel zu tun." Erst acht Monate nach dem selbst gewählten Wechsel habe er sich nicht mehr gejagt gefühlt, nicht mehr jenes "drivedrivedrive" in sich gehabt, so Privatier Engel. Er kramte also Unterlagen von Management-Seminaren hervor, die er beim Handelskonzern Metro vor vielen Jahren mal besucht hatte - über Stressbewältigung, Selbstmotivation und positives Denken. Ab sofort machte er sich morgens einen sehr spontanen Tagesplan, von Basteln über Aufräumen bis hin zu Fitness. "Vorher hatte ich extrem geplante Jahre", sagt Engel, "das halbe Jahr war ja im Voraus mit Group-Meetings, IT-Meeting und anderen festen regelmäßigen Treffen schon ‚rum." Komplett fremdbestimmt. Heute hält sich Engel einen Tag in der Woche völlig frei. "Da bin ich zum ersten Mal einfach aufs Motorrad gestiegen - ziellos!", überrascht sich Engel selbst.
Work Life Balance ist offenbar bei allen großen Konzernen heute ein Thema. Arbeiten von zu Hause aus, flexible Arbeitszeiten, Job-Sharing bis hin zum Sabbatical stehen bei Konzernen wie Siemens, Novartis und Porsche im Work-Life-Portfolio. Porsche bietet seinen Führungskräften zudem den "Boxenstopp", einen dreitägigen Klinikaufenthalt zusammen mit Partnern oder Partnerinnen an. Hier können sich die Top-Leute der Firma Tipps zu Ernährung, zum Umgang mit Stress und zur Fitness abholen. "Das haben schon viel wahrgenommen - ich auch", sagt Sven Lorenz, CIO von Porsche. Konzerne müssen in ihr Humankapital investieren. Sonst versiegt es.
Im Arbeitsalltag steht der Manager mit seinen Problemen dennoch allein da. Achim Mollbach von Kienbaum kennt die Nöte der Top-Klientel. Der Bereichsleiter und Coach bei Kienbaum Management Consultants rät zu Erholungspausen im Alltag: "Es gibt Manager, die viel reisen und immer Wanderstiefel oder Sportsachen dabeihaben", sagt Mollbach, der dafür plädiert, flexible Feierabende einzuführen und während des Tages immer mal wieder eine halbe Stunde Pause einzulegen. Dazu seien "Leerlaufzeiten" im Tagesablauf sehr gut geeignet. Reisezeiten ließen sich besser so nutzen, statt jederzeit und überall mit dem Blackberry erreichbar zu sein und so einem übertriebenen Kontrollbedürfnis nachzugeben. "Die Versklavung an den Blackberry schafft vor allem Mehraufwand, obwohl eine Zeit etwa im Zug gut zur Erholung genutzt werden kann", so Mollbach.
Nach Rüdiger Buchkremer, ehemaliger CIO beim Pharmakonzern Altana Pharma in Konstanz, hat gutes Management nichts mit viel Arbeit zu tun. Buchkremer wechselte 2004 als Professor zur Hochschule für Technik und Wirtschaft nach Chur in die Schweiz. "Ich hatte keine 80-Stunden-Wochen", sagt Buchkremer, "es geht vor allem darum, schnell Entscheidungen zu treffen und zu delegieren." Dazu sei es wichtig, die Leute gut zu kennen, denen man die Aufgaben anvertraut. "Es gab Kollegen, deren Abteilung nur das verlassen hat, was sie vorher auf seinem Tisch hatten", beobachtet Buchkremer, der sich selbst in der Anfangszeit bei Altana dabei erwischt hat, "für vier Stunden nach Kanada zu fliegen und bei vielen Besprechungen dabei zu sein. "Sie müssen Vertrauen zu ihren Mitarbeitern aufbauen und sich Zeit nehmen für eine gute Strategie", rät Buchkremer als Stressprävention.
Immer öfter schickte er Mitarbeiter zu den Besprechungen und nahm nur externe Meetings wahr, wenn die Perspektive da ist, "mit etwas Neuem im Koffer wiederzukommen". "Kollegen, die von sieben Uhr morgens bis 21 Uhr abends arbeiteten und stolz darauf waren, sind sehr selten wirklich erfolgreich gewesen", so Buchkremer, der sich auch seine Manager in der nächsten Ebene so ausgesucht hat, dass bei Ihnen Privatleben und Gesundheit wichtig war.
Einen besonderen Druck muss ebendieses mittlere Management aushalten, meint Kienbaum-Berater Mollbach. "Diese Manager leiden unter dem größten psychischen Druck", sagt er, denn dort treffen die Erwartungen des Top-Managements und der Mitarbeiter zusammen. Es gibt oft keinerlei Einbindung von Führungskräften des mittleren Managements in Entscheidungsprozesse. "Nicht die Arbeitsbelastung sorgt hier für Stress im Management, sondern das Gefühl von Ohnmacht und Kontrolllosigkeit", konstatiert Mollbach. "Diese Manager müssen nicht selten Dinge vertreten, die sie gar nicht entschieden haben und hinter denen sie aufgrund der Realitätsferne der Entscheidungen auch gar nicht stehen können." Gerade durch die Zentralisierung von Prozessen gab es in den zurückliegenden Jahren viele Top-down-Entscheidungen bis hinein ins Tagesgeschäft: "Fähigkeiten und Kompetenzen der hierarchisch weiter unten angesiedelten Manager waren wenig gefragt."
CIO ohne Entscheidungskompetenz
Eine ähnliche Erfahrung hat auch Claude Roeltgen gemacht, der jahrelang als CIO von Credit Suisse in Luxemburg tätig war. Als der Mutterkonzern der Landesgesellschaft dann den Konzern umstrukturierte und eine Matrixstruktur schuf, sah sich Roeltgen plötzlich vor der Situation, strategische Entscheidungen aus dem Head Office in der Schweiz lediglich entgegennehmen, aber nicht mehr beeinflussen zu können. Eine Situation, die Roeltgen dazu nutzte, die Bank zu verlassen und bei der Luxemburger Tochter der Bayerischen Landesbank anzuheuern, der LBLux. "Das ist so, als wenn Sie Trainer einer Fußballmannschaft sind und der Vorstand entscheidet, wer aufgestellt wird", sagt Roeltgen, der jetzt die Freiheit in der Entscheidung neu genießt.
Nicht nur, wenn Thomas Engel auf seiner Harley sitzt, genießt der Ehemalige von Kühne + Nagel heute seine neue Freiheit: "Ich habe mit ein paar guten Freunden eine Firma gegründet", sagt der 54-jährige Engel. Gut hat er noch die Zeit bei Kühne + Nagel in Erinnerung: von Kunden geforderte Lieferzeiten, Vorsprung managen, gezwungen zur Innovation, immer erreichbar sein und so weiter. Seinen komplett freien Tag hat Engel trotz seiner 20-Mann-Firma und seines Engagements als Business Angel beibehalten. Außerdem gibt es bewusst keine Arbeit mehr vor 8 Uhr morgens und nach 19 Uhr abends. Immerhin.