Das große Vorbild der IT-Abteilungen war die schwäbische Hausfrau: Sie musste hart arbeiten, sparsam wirtschaften und sättigende Gerichte auf den Tisch bringen - pünktlich. Viele IT-Manager haben diese Rolle angesichts des permanenten Kostendrucks und des Zwangs zur Rechtfertigung verinnerlicht. Doch die Digitalisierung stellt neue Anforderungen an die IT-Abteilungen: Heute sind agile Prozesse, optisch ansprechende Oberflächen und soziale Skills gefragt.
Woher können die Impulse kommen, damit die eigene Organisation fit für die neuen Anforderungen wird? "Beim Startup in die Lehre", lautet immer öfter eine Antwort. Mal gehen Bahn-Manager nach Berlin Mitte in ein junges Unternehmen, mal hoffen Topmanager im Silicon Valley auf die digitale Erweckung, mal spüren altgediente Führungskräfte dem Entrepreneurial Spirit in den urbanen Ballungsräumen Asiens nach. Zu Hause erzählen sie den Mitarbeitern dann, dass das Gras woanders grüner ist. Und auf der heimatlichen Scholle soll plötzlich gedeihen, was über Jahrzehnte kleingehalten wurde: die Startup-Mentalität.
August-Wilhelm Scheer hat schon einige Unternehmen aufgebaut, und auch in einem börsennotierten Konzern stand er lange an der Spitze. "In großen IT-Organisationen entwickelt man auf lieb gewonnenen technischen Plattformen weiter und hangelt sich von Release zu Release mit kontinuierlichen Verbesserungen, wagt aber keine disruptive Innovation", sagt der ehemalige Bitkom-Präsident. Dem entgegen wirkten die Treiber Motivation und Neugier: "Startups möchten neue Ufer anstreben, neue Ideen umsetzen, und das mit hoher Energie." Was Unternehmen brauchen, heißt in der Fachsprache "organisationale Ambidextrie". Gemeint ist die Fähigkeit, gleichzeitig effizient und flexibel zu sein - Optimierer und Forscher.
Ideen der jungen Wilden schützen
Scheer zufolge liegt die größte Blockade meist in den Köpfen der Mitarbeiter - alle anderen Probleme seien leichter zu lösen. Allerdings sei deren Zurückhaltung verständlich: "Viele Manager und Mitarbeiter sind mit den gegenwärtigen Technologien und Lösungen im Unternehmen erfolgreich geworden und deshalb eher skeptisch gegenüber neuen Dingen, von denen sie weniger verstehen."
Die Spannung zwischen Neuem und Altem spiele sich seit jeher zwischen den Generationen ab und sei in der IT wegen der schnellen Technologiesprünge besonders ausgeprägt. "Hier sind Manager gefordert, die Spannung in produktive Diskussionen umsetzen können, um die jungen Wilden mit ihren krausen Ideen zu schützen und zu ermutigen sowie die klassischen Mitarbeiter zu motivieren, sich weiterzuentwickeln." Keine leichte Aufgabe, räumt Scheer ein.
Auch Andy Goldstein sieht, dass in klassischen Organisationen "die Agilität oft auf der Strecke bleibt". Der Partner der Firma Deloitte Digital sammelte drei Jahrzehnte lang Erfahrungen beim Gründen, Aufbauen und Führen von Firmen, bevor er Mitgründer und Executive Director des LMU Entrepreneurship Center der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie des "German Accelerator" in München wurde. "Jede Abteilung hat ihre definierten Ziele, jeder Mitarbeiter seine klare Aufgabe und jeder Prozess seine Historie und Berechtigung - in komplexen Organisation ist meist alles so aufeinander abgestimmt, dass Veränderungsenergien wenig Chancen haben."
Goldstein zufolge braucht es klare Strategien und eine übergreifende Einbindung aller Führungskräfte, Abteilungen und Mitarbeiter. Prozesse, Wissenssilos und Assets müssten analysiert und optimiert werden. "Nur so lassen sich Blockaden und Berührungsängste der Mitarbeiter gegenüber Neuerungen abbauen und jene Agilität fördern, die für den digitalen Wandel innerhalb von Unternehmen nötig ist." Das klingt nach Arbeit - vor allem, wenn man es richtig machen will: "Wichtig ist, Aktionismus möglichst zu vermeiden", fordert Goldstein aus Erfahrung.
Wie schwierig Veränderungen in der Organisation sind, weiß Oliver Lindner. Der IT-Service-Management-Stratege der Continental AG will "die IT von der Tool- zur Serviceorientierung bringen". Auf dem Weg dorthin erweitert sich die Perspektive vom Produkt zur Systemsicht sowie die Entscheidungsbefugnis und Verantwortung von Linienvorgesetzten oder den technischen IT-Teams in die Prozesse beziehungsweise hin zu neuen Rollen wie dem Service-Owner. Bedenken und Widerstände sind programmiert. "Die Fortentwicklung einer Organisation resultiert nur selten daraus, dass die Zufriedenen zur Veränderung aufrufen", sagt Lindner. "Die Unzufriedenen und Hungrigen haben die Welt verändert."
Standards und mutige Revolutionäre
Um die Komplexität ihrer globalen IT besser zu steuern und nach Möglichkeit zu reduzieren, führte Continental Prozesse, Governance, Architekturstandards und Rollen ein, so Lindner: "Das macht das System vermeintlich statischer, ist aber erst mal nichts Schlechtes. Entscheidend ist, wie viel Bürokratie etabliert wird und wie viele Freiräume bleiben, um die Ziele zu erreichen." Schließlich führten in einem agilen und flexiblen Unternehmen viele Wege zum Ziel. Somit benötigten die Standards auch mutige Revolutionäre, die sie in Frage stellten, wenn das Ziel auf neuen Wegen besser erreicht werden könne.
"Bürokratie muss stets hinterfragt werden, da sich die Umgebung in der IT stets verändert", argumentiert der ITSM-Experte. Mit statischen Regeln sei man auf lange Sicht in komplexen Systemen nicht erfolgreich. "In der Mathematik gibt es die Erkenntnis, dass Systeme dazu neigen, sich selbst zu erhalten, bis sie plötzlich komplett kippen." Folglich bräuchten Unternehmen in der Belegschaft Bewahrer und "Catalysts for Revolution", fordert Lindner. Management und Führungskräfte müssten für die sinnvolle Balance sorgen: "Gesunde Systeme verändern sich regelmäßig."
Wer schnellere Ergebnisse erzielen und interne Reibungsverluste verringern will, trennt Alt und Neu. Die klassische IT verbleibt im Unternehmen, die neuen Technologien werden in eine Art Startup ausgelagert: Beim Händler Edeka heißt die separate Einheit "Lunar", der Versicherer Ergo hat ein digitales Lab in Berlin eröffnet, ebenso der Stahl- und Metallhändler Klöckner mit seinem "kloeckner.i", die Commerzbank betreibt den "Main Incubator", und bei BMW ist es die "BMW Car IT" mit Entwicklungslabors in Ulm und München.
Dort ist "eine Prise Spinnertum" erwünscht. Michael Würtenberger, einer der Geschäftsführer der BMW Car IT, bringt damit die Arbeitskultur des 220 Mitarbeiter starken Unternehmens auf den Punkt - im besten Sinne der Wortbedeutung: einer verrückt klingenden Idee nachzugehen, sie auszuprobieren und zu schauen, was sich daraus entwickelt.
Der zweite Geschäftsführer, Reinhard Stolle, bezeichnet die Firma für Automotive-Software als "Biotop, in dem es nicht um die schnellste Zeit auf dem Nürburgring geht, sondern um die beste Softwarelösung". Sein Ziel ist es, eine organisatorische Einheit von IT-Experten zu bilden, die eine eigene Softwarekultur aufbauen und pflegen können. "Wir wollten uns bewusst von der Kultur eines traditionell mechanisch und elektrotechnisch getriebenen Großkonzerns absetzen, um nicht absorbiert zu werden", sagt Stolle, der selbst lange im Silicon Valley gearbeitet hat.
Auch August-Wilhelm Scheer kann der Strategie der Trennung einiges abgewinnen: "Fokussierung durch Entflechten ist sinnvoll. So braucht sich die neue IT nicht immer gegenüber der klassischen IT zu verteidigen und kann unbeschwert Technologien einsetzen, die alte IT-Erbhöfe angreifen."
Nach einer Untersuchung von Crisp Research benötigen IT-Abteilungen großer Unternehmen im Durchschnitt drei- bis viermal mehr Zeit und Ressourcen als eine junge Sofwarefirma, um Prototypen und Proof of Concepts vergleichbarer Komplexität zu entwickeln. Als eine Lösung verweist Scheer auf das "anregende Fast-fail-Phänomen" bei Startups, die früh erkennen, wenn eine Idee nicht erfolgreich ist und das Geld zur Neige geht. "Bei großen Unternehmen werden Projekte immer wieder hoffnungsfroh verlängert, bis man sie doch stoppt."
Zusammenführung sinnvoll?
Das Schwierigste ist der anschließende Brückenschlag zurück in den Konzern. Wie die Einheiten zusammengeführt werden, ist derzeit meist graue Theorie. Ob es überhaupt machbar und sinnvoll ist, auch. "In Konzernen ist Scheitern kein Teil der Lernkurve, sondern das Ende des Ideengebers", sagt ein Manager einer deutschen Versicherung. Am Ende könnte es auf ein Lose-lose-Geschäft herauslaufen: Fließen das Alte und das Neue zusammen, werden die Stärken beider Seiten verwässert. Vielleicht hilft ein Blick auf das "Gesetz von Conway".
Der amerikanische Informatiker Melvin Conway postulierte, dass die Strukturen von Systemen durch die Kommunikationsstrukturen der sie umsetzenden Organisationen vorbestimmt sind. "Organisationen, die Systeme modellieren, sind auf Modelle festgelegt, welche die Kommunikationsstrukturen dieser Organisationen abbilden." Frei auf Deutsch: "Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus."