IT-Manager wetten

Etablierte Unternehmen brauchen Startups

14.05.2018 von Carsten Priebs
Carsten Priebs wettet, dass in fünf Jahren Unternehmen ohne ­Startup-Kultur in der Bedeutungslosigkeit verschwinden werden.
Carsten Priebs, Head of IT-Masterplan Management Office und Deputy CIO at DB Netz AG, Deutsche Bahn Group
Foto: Carsten Priebs

Die Digitalisierung verändert Marktstrukturen nachhaltig - das wird allgemein als Disruption bezeichnet. Der Innovationsbedarf der Unternehmen ist immens, wenn sie nicht vom Markt verschwinden oder in eine Nische gedrängt werden wollen. Die Innovationsfähigkeit aber ist insbesondere durch Mangel an Mitarbeitern mit den nötigen technischen Fähigkeiten und frischen Ideen wie auch durch althergebrachte Unternehmenskulturen begrenzt.

Startup-Initiativen sind deshalb notwendig, um sowohl die technische und kommer­zielle Basis zu schaffen als auch einen Wandel der Kultur zu bewirken. Innovationen, die nur Bestehendes weiter optimieren, sind nicht groß genug gedacht: Die Struktur der Märkte wird durch völlig neue digitale Angebote verändert - eine massive Bedrohung, aber auch Chance für bestehende Unternehmen.

Ist es aber denn wirklich nötig, den vielen bisher schon erschienenen Artikeln zur Digitalisierung einen weiteren hinzuzufügen? Insbesondere in den IT-Abteilungen erntet man mit dem Begriff oft genervtes Augenrollen - "Nicht schon wieder...". Und genau deshalb! Wäre ich Raucher, würde es mich auch nerven, ständig zu hören, wie schlecht Rauchen ist. Und trotzdem wäre es sinnvoll, mich so lange damit zu belästigen, bis ich endlich aufhöre.

Was Digitalisierung bedeutet

In diesem Sinne soll dieser Artikel einen Anstoß geben, endlich groß zu denken und all die umfassenden Maßnahmen einzuleiten, die einige Unternehmen bereits angegangen sind. Und er soll noch einmal herausstellen, dass Digitalisierung nicht etwas ist, was die IT ja schon seit Langem macht - nur jetzt vielleicht mit neueren Werkzeugen und anderen Endgeräten. Digitalisierung ist eben nicht die Einführung eines Intranets oder die Optimierung interner Prozesse.

Auch das Entwickeln einer App, die das Produktsortiment eines Werkzeugherstellers anzeigt, ist hier nicht gemeint. Wenn in dieser App allerdings das Verleihen der Werkzeuge zwischen Handwerkern ermöglicht wird - dann kommen wir der Sache schon näher.

Kurz ein paar Fakten

Es gibt Gewinner und Verlierer. Gewonnen haben Spotify, Paypal, Airbnb. Nicht so gut lief es für Nokia, Brockhaus, Kodak. Eine direkte Gegenüberstellung macht die Dynamik deutlich: 2004 dominierten Quelle und Neckermann bei einem europäischen Gesamtumsatz von 7,5 Milliarden Euro den Versandhandel in Deutschland mit über 30 Prozent Marktanteil, während Amazon zu diesem Zeitpunkt in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Japan bei drei Milliarden Dollar Umsatz lag.

Acht Jahre später ging Neckermann.de in die Insolvenz, und Amazons Deutschland-Umsatz war auf neun Milliar­den Dollar gewachsen - und lag 2016 weltweit bei 140 Milliarden Dollar. In dieser Zeit hat sich Amazon vom Online-Buchhändler zum zentralen digitalen Ecosystem gewandelt und greift heute auf völlig anderen Märkten an: Auge in Auge mit Netflix wird Fernsehen neu definiert.

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Es beginnt mit Technik …

Die Informationstechnologie bietet heute so mächtige Werkzeuge, dass ihr Einsatz vorhandene Marktstrukturen zerstört. Daher auch der Begriff Disruption - also Zerreißen.

Das Beherrschen dieser Werkzeuge gestaltet sich prinzipiell nicht übermäßig kompliziert, wie die vielen Startups und die vielen Apps in den jeweiligen App-Stores zeigen. Im Vergleich zum Beginn des Internet-Zeitalters liegen durch Cloud Computing die Markteintrittshürden radikal niedriger, und das Wachstum hat sich durch die praktisch vollständige, jederzeitige Erreichbarkeit der Zielgruppe und durch Netzwerkeffekte rasant beschleunigt (2016: 80 Prozent Internet-Nutzer in Deutschland, davon 80 Prozent per Handy/Smartphone, 3,4 Milliarden Internet-Nutzer weltweit, davon 2,3 Milliarden in sozialen Netzwerken). Drei Personen können ausreichen, um als Startup einen Markt aufzurollen: ein Industriekenner, ein Techie und ein Entwickler von digitalen Geschäftsmodellen.

… und endet beim Kunden

Gelingt es einem Startup, einen bislang unerreichten Kundennutzen zu schaffen, kann es den Markt radikal ändern. Es kann innerhalb kürzester Zeit riesige Nutzerzahlen erreichen und damit mehr über die Kunden und deren Bedürfnisse erfahren. Mit Big Data und künstlicher Intelligenz lässt sich das Angebot weiter optimieren und insbesondere für die Kunden individualisieren, um eine dominierende Stellung zu erreichen. Hat sich das Startup durchgesetzt, ist diese Marktposition schwer anzugreifen, da mit jedem Tag sein Wissen über die Kundenbedürfnisse tiefer wird und unmittelbar in den Service und das Produkt einfließen kann.

Darüber hinaus kann das Startup seine Kundenschnittstelle, seine datenbasierten Kenntnisse über die Kunden und seine Reichweite einsetzen, um in angrenzende beziehungsweise völlig neue Märkte einzudringen. Das erklärt sicher auch einen Teil der aktuellen Börsenbewertung des Online-Fahrdienstleisters Uber in Höhe von 70 Milliarden Dollar trotz eines Verlusts von zwei Milliarden Dollar im Jahr 2016 - nicht schlecht für ein acht Jahre altes Unternehmen.

Für einen Großteil des Verlusts sind die Subventionen an die Fahrer verantwortlich, damit diese für Uber fahren und nicht zum Beispiel für Lyft. Denkt man an Uber als die Kundenschnittstelle für eine autonom fahrende Autoflotte, erkennt man den Reiz, der in diesem Geschäftsmodell steckt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Ob die Erwartungen, die solchen Bewertungen zugrunde liegen, sich erfüllen oder ob sich ein anderer großer Player vor Uber schieben wird, liegt natürlich im Dunkeln. Klar ist allerdings, dass der Markt für Personenbeförderung in den Industrieländern (Uber ist in 76 Ländern aktiv) radikal umgekrempelt wurde. Auch wenn einzelne regionale Märkte noch gesetzlich geschützt sind, wird es vermutlich nur eine Frage der Zeit sein, wie lange sich die Bürger dort ein zumindest vermeintlich besseres Angebot vorenthalten lassen.

Was Startups erfolgreich macht

Im Kern ist es vermutlich der unbändige Wille zum ganz großen Erfolg, verbunden mit einer intelligenten Herangehensweise: Im Pitch erklären die meist jungen Gründer in fünf Minuten, warum sie ein bedeutendes Problem der Menschen lösen - das ist sehr und manchmal erstaunlich selbstbewusst. Es geht immer um das Große, und nur durch den Fokus auf das Große erreicht man auch Großes.

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Diese Kraft wird gleichsam durch eine bedächtige Vorgehensweise kanalisiert: Zuerst geht es darum, als Ausgangspunkt die Kundenbedürfnisse zu verstehen, dann werden Hypothesen aufgestellt, wie diese befriedigt werden könnten. Die Ergebnisse fließen in ein erstes, einfaches Produkt ein, um es dann möglichst schnell mit ersten Kunden zu testen. Passt es nicht, wird es geändert, sonst wird auf Basis der datengetriebenen Kundenbeobachtung weiter ausgearbeitet - und wieder schnell getestet und so weiter.

Dieses Vor­gehen sichert Kundennutzen und reduziert die Kosten von Fehlentwicklung. Fehler sind hierbei willkommen, zeigen sie doch, an welcher Stelle das Produkt oder die Dienstleistung besser werden kann. Die Stichworte lauten: Lean Startup, Design Thinking, Agilität, Minimum Viable Product.

Freies Arbeiten wichtig

Dazu brauchen das Startup und die Menschen im Startup Unabhängigkeit. Sie machen Fehler, sie lernen, sie haben Raum und Zeit für Kreativität, sie bearbeiten miteinander Probleme intensiv ohne Hierarchie oder Abteilungsgrenzen. Das fordert allerdings einerseits von den Menschen die Fähigkeit, so zu arbeiten, und andererseits speziell von den Führungskräften, kon­kreten Nutzen durch das Schaffen dieses Umfelds und die individuelle Förderung von Mitarbeiter-Fähigkeiten zu stiften.

Wenn hier eigentlich allgemein von Innovation die Rede sein sollte, wie kommt es, dass jetzt praktisch nur von Digitalisierung die Rede ist? Weil zu erwarten ist, dass Software in fast allen Produkten und Dienstleistungen einen oder den entscheidenden Produktionsfaktor ausmachen wird: Sei es Software für das autonome Fahren, die Ladesteuerung von Batterien, 3D-Druck, Krebs­bekämpfung, Essenbringdienste. Software ist heute das universelle und bedeutendste Werkzeug, so wie der Stein in der Steinzeit.

Wenn Software das universelle Werkzeug ist, dann ist Programmierung ihre Anwendung und Startup-Kultur ihr Erfolgsfaktor. General Electric lässt alle neuen Mitarbeiter Programmierkurse durchlaufen - unabhängig vom fachlichen Ein­satz­gebiet. Daimler will 20 Prozent seiner Mitarbeiter in einer Schwarmorganisation, also vernetzten Teams außerhalb einer Hierarchie, arbeiten lassen.

Also jetzt handeln …

Das funktioniert also auch in Deutschland. Das Frankfurter Insurtech Clark, das alle Versicherungen des Kunden in einer App auf dem Smartphone zusammenfasst und das Portfolio gemäß den Kundenbedürfnissen per Robo-Advisor und künf­tig sicher auch per künstliche Intelligenz optimieren will, hat es innerhalb von weniger als 80 Tagen von der Idee bis zum ersten Kunden in der App geschafft - gemeinsam mit den Aktivitäten ähnlicher Insurtechs ein klarer Angriff auf sämtliche nichtdigitalisierten Versicherungsmakler.

Wie können auch mittelständische Unternehmen und Konzerne eine solche Geschwindigkeit erzielen und potenziell disruptive Innovationen schaffen? Es gibt sicher für jedes einzelne Unternehmen eine optimale Strategie, die man durch intensives Nachdenken erarbeiten könnte. Vielleicht kann man es aber auch so machen wie die Digitalisierer im Silicon Valley: vorhandene Tools und Vorgehensweisen, die sich als erfolgreich herausgestellt haben, identifizieren, selber ausprobieren und anpassen - einfach machen!

… und zwar richtig

Wenn wir vom Kunden her denken, seine Pro­bleme und Bedürfnisse kennen, können wir die Marktspielregeln umgehen oder außer Kraft setzen oder einen ganz neuen Markt schaffen. Das wird zwar nicht in einem einzigen Schritt zu schaffen sein, aber die Vision dafür sollte formuliert sein. Einige Venture Capitalists (VCs) im Silicon Valley investieren nur in Startups, die die Phantasie haben, eine Bewertung von einer Milliarde Dollar zu erreichen - erst dann ändern sie nämlich wirklich Märkte! Die Motiva­tion für die Unternehmen: Wenn sie es nicht selbst tun, wird es jemand anders in die Hand nehmen. Also: Keine graduellen Verbesserungen von Bestehendem oder leichte Abwandlungen - hier sind echte Game Changer gefragt.

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Im Alleingang wird nicht jedes Unternehmen seinen Markt ändern können, aber es kann ihn gestalten: durch den Bau von Netzwerken - Ecosysteme von Partnern auf einer technischen und kommerziellen Plattform, die das Unternehmen entwickelt und betreibt. Oder es beteiligt sich aktiv in einem bestehenden Ecosystem, zumindest im ersten Schritt. Klar, dass das Unternehmen hier auch etwas zum Erfolg der anderen Teilnehmer beiträgt - es muss sich öffnen, macht sich angreifbar. Die Gefahr aber, allein und ohne Partner abgehängt zu werden, ist weitaus größer.

Kill the Company!

Die ganz Mutigen stellen das Unternehmen selbst in Frage - nach dem Motto: Kill the Company! Warum auf den Disruptor warten, wenn man es selbst sein kann? Früher oder später wird jeder Markt, wird jedes Unternehmen an die Reihe kommen - da ist es besser, man führt die Entwicklung selbst an. Das ist natürlich eine besondere Herausforderung an Kommunikation, Führung und Zusammenarbeit im Unternehmen.

Kann Ihr Unternehmen das auch? Ja, bestimmt! Nur vermutlich nicht auf die bisherige Weise - sonst wären Sie ja bereits ein Disruptor. Verbinden Sie sich mit Startups: Gründen Sie sie, ziehen Sie sie auf, beteiligen Sie sich, kaufen Sie sie. Zu gewinnen gibt es technische Kompetenz, frisches Denken, die nötige Outside-In-Sicht und ein gutes Stück Killerinstinkt. Und viele grandiose Ideen, die im etablierten Unternehmen sofort wieder verwor­fen oder nicht einmal ansatzweise bedacht worden wären.

Diese Startup-Kultur muss auch wieder auf das Mutterunternehmen zurückwirken. Denn die Vorgehensweisen, die Startups erfolgreich machen, machen auch große Unternehmen erfolgreich: Kundenorientierung, Zusammenarbeit, Freiraum, Diversität oder eine inspirierende Arbeitsumgebung. Das ermöglicht auch den langjährigen Mitarbeitern, die Startups zu akzeptieren und zu fördern. Das ist nötig, denn die Start­up-Initiativen sollen einen zukünftigen, noch ungewissen Erfolg bringen - die aktuelle Belegschaft erwirtschaftet den heutigen Erfolg. Die geschick­te Verbindung beider Welten ist der Schlüssel.

Weil Startup-Kultur dazu führt, den Kunden noch passendere Produkte und Services anzubieten und den Mitarbeitern eine inspirierende Arbeitswelt zu ermöglichen und erfolgreiche Unternehmen zu entwickeln, habe ich bei meiner Wette das gute Gefühl, dass Sie auch in fünf Jahren mit großartigen Innovationen Märkte gestalten werden.

Ich freue mich auf Ihr Feedback!

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