"Selbst-Kannibalisierung" klingt nicht nach Zukunftsmodell. Für Andreas Wiele aber ist sie genau das. Wie andere Verlags-Manager steht auch der Vorstand der Bild-Gruppe und Zeitschriften bei der Axel Springer AG vor der Herausforderung, den digitalen Wandel im Journalismus in ein tragfähiges Geschäftsmodell zu übersetzen. "Dabei dürfen wir auch keine Scheu haben, unsere eigenen Geschäftsmodelle zu hinterfragen", sagte Wiele Ende Januar auf der 19. Handelsblatt-Jahrestagung "Strategisches IT-Management" in München. Sprich: Weiterhin gibt es am Kiosk je nach Region für 60 bis 70 Cent die gedruckte Bild-Zeitung. Gleichzeitig arbeitet der Verlag mit Macht daran, neue Leser für die digitalen Ausgaben zu gewinnen und mit ihnen Geld zu verdienen.
Auf 10,3 Millionen exklusive Online-Leser kommt man derzeit insgesamt. Bild verkauft mittlerweile jeden Tag mehr als 100 000 digitale Exemplare über Apps auf Smartphones und Tablets. Den Online-Auftritt Bild.de konsumieren die Leser bisher kostenlos; im Laufe des Jahres aber soll ein Teil der Inhalte unter dem Arbeitstitel "Bild Plus" nur noch gegen Bezahlung abrufbar sein. Laut den Anfang März veröffentlichten Bilanzzahlen wuchs der Umsatz mit digitalen Medien bei Axel Springer im Vergleich zum Vorjahr um 22 Prozent und trägt mit mehr als 1,1 Milliarden Euro rund 37 Prozent zum Gesamtumsatz des Konzerns bei.
"Geschäftsentscheidend"
Die IT wird im Zuge dessen "geschäftsentscheidend und produktrelevant", sagt Wiele. Die Entwicklung, die er schildert, vollzieht sich zurzeit branchenübergreifend. Informationstechnik dient Unternehmen nicht mehr nur dazu, die Kommunikation unter Mitarbeitern und zum Kunden sicherzustellen oder Fertigungsprozesse zu steuern. Sie ist selbst in zunehmendem Maße Teil von Endprodukten. Zuständig dafür, zumindest teilweise: der CIO. In einer Online-Umfrage auf CIO.de gab von 114 teilnehmenden Lesern mehr als jeder Dritte an, die Position von CIO und IT-Abteilung werde in der Folge stärker. Wurde in den vergangenen Jahren stets gefordert, der IT-Chef dürfe sich nicht bloß als Techniker begreifen, sondern müsse das Geschäft seines Unternehmens unterstützen, so erfährt diese Sicht jetzt einen neuen Dreh: Der CIO nähert sich dem Geschäft weiter an, indem er gerade durch sein Technikverständnis Produkte verbessern hilft.
Bei Springer hat die gestiegene Bedeutung der IT dazu geführt, dass CIO Daniel Keller, seit November in dieser Position, nicht mehr wie sein Vorgänger an den Finanzvorstand berichtet, sondern direkt an den Markenverantwortlichen Andreas Wiele. Mindestens alle 14 Tage tauschen sich beide beim Jour fixe aus. Wichtigstes Thema derzeit ist, ein neues Bezahlsystem für die künftig kostenpflichtigen digitalen Artikel zu entwickeln.
Auch in der Redaktion, die mit Texten, Videos und Bilderstrecken die eigentlichen Produkte von Springer herstellt, ist die Veränderung zu spüren. Wiele sagt, man wolle durch dezentrale IT in den Abteilungen "im täglichen Geschäft Business-nah arbeiten". Denkbar sei es, IT-Mitarbeiter etwa neben Channel-Verantwortlichen in Redaktionsbüros zu setzen. Vorangetrieben hat einen solchen Ansatz auch schon der scheidende Chefredakteur von Zeit Online, Wolfgang Blau. Sein Ziel: dadurch Datenjournalismus fördern, also die IT-gestützte Aufbereitung von Informationen wie Wetter- oder Verwaltungsdaten für die Berichterstattung.
Autos warnen sich vor Staus
Das neue Miteinander zwingt dazu, Berührungsängste zu überwinden. Andreas Wiele, einst selbst Redakteur bei der "Hamburger Morgenpost", erinnert sich an Zeiten, als "Drucken das Einzige war, worin Journalisten Verständnis für Technik hatten", und "der Druckereileiter Technikchef" im Verlag war. Heute erwartet er sich, dass der CIO mit "großem Business-Verständnis" dazu beiträgt, "bessere Produkte zu schaffen".
Bei Audi geht die Nähe zwischen Produkt und IT inzwischen so weit, dass sich der Autohersteller auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas präsentiert. Für Firmenchef Rupert Stadler ist "ein Audi heute das größte Mobile Device", wie er auf der Handelsblatt-Tagung in München sagte. Nicht nur, dass der Mensch am Steuer eines neuen A3 per Spracherkennung SMS diktieren und sein Hörbuch an der Stelle fortsetzen kann, an der er es zu Hause gestoppt hat; die zunehmende Vernetzung von Fahrzeugen untereinander soll außerdem eine Art Schwarmintelligenz hervorbringen, die Fahren "sicherer und komfortabler" macht: Autos warnen sich gegenseitig vor Staus, Defekte meldet ein Fahrzeug automatisch an Hersteller oder Werkstatt. Für Stadler wird die IT dabei zu nicht weniger als dem "Nervensystem" im Unternehmen. Dem CIO komme die Rolle eines "Dolmetschers" zu.
Gefordert ist von IT-Chefs bei dieser Lage außerdem Beratungskompetenz, wie das Beispiel von Roland Schütz zeigt. Seit er im November 2010 CIO bei Lufthansa Cargo wurde, sieht sich Schütz mit der Frage konfrontiert, wie der Einsatz von IT Kerngeschäftsprozesse weiter verbessern kann. Alle Logistikprozesse bei dem Luftfrachtdienstleister zu digitalisieren ist zurzeit sein wichtigstes Projekt. Zur Hälfte sei es abgeschlossen, wie Schütz auf der Tagung "Strategisches IT-Management" berichtete.
Aus anfangs mehr als 400 Produkten hat er sich mittlerweile für die Plattform iCargo des Herstellers IBS entschieden, die jetzt vor der Einführung steht. Wie die Ausgangslage aussah, veranschaulicht Schütz beispielhaft an einem Dokument, mit dem die Mitarbeiter bei Lufthansa Cargo täglich zu tun haben: Der Frachtbrief mit seinen Durchschlägen in sieben Farben symbolisiert, welche Rolle papierbasierte Prozesse in der Branche noch spielen. Bisher sei die Luftfrachtlieferkette gekennzeichnet durch eine zerstückelte Anwendungslandschaft, Datenhaltung an verschiedenen Orten und Prozess- wie Medienbrüche.
Dabei sieht der CIO gerade in der Digitalisierung "große Differenzierungsmöglichkeiten" gegenüber Konkurrenten. Der weltweite Wettbewerb in der Branche sei hart. Zusätzlich stehen Luftfrachttransporteure unter dem Druck, immer schärfere Sicherheitsmaßnahmen und immer neue Zoll- oder Handelsvorschriften in ihren Prozessen abzubilden. Als ein Unterscheidungsmerkmal sieht man bei Lufthansa Cargo attraktive Umschlagzeiten. "Je kürzer, desto attraktiver ist das Produkt", fasst Roland Schütz den Ansatz zusammen.
Auch hier spielt die Formel "IT ins Produkt" eine wichtige Rolle. Sein derzeitiges Digitalisierungsprojekt sei dafür erst das Fundament, sagt der CIO. Sein Ziel ist die "Supply Chain Visibility" - Transparenz über die gesamte Lieferkette. Ein Element dabei ist die Sendungsverfolgung über GPS. Ob Schiffsschraube, Computerteile oder ein Tier: Mit einem GPS-Chip versehen, könnte der Standort einer Sendung jederzeit ermittelt werden.
Wie die Mobiltelefone der Fluggäste müssten allerdings auch diese GPS-Chips während des Fluges ausgeschaltet sein. Doch wer soll nach dem Verladen an jedem einzelnen Frachtstück den Sender deaktivieren? "Wir können ja nicht durch den Frachtraum kriechen", sagt Roland Schütz. Sein Ansatz: Die GPS-Sender erkennen automatisch das typische Elektrosmog-Muster im Inneren eines Flugzeugs und schalten sich von selbst aus. Dieses Beispiel für "IT im Produkt" testet Lufthansa Cargo derzeit im Pilotbetrieb.
Neue Produkte dank Datenanalyse
Solche Innovationen sind es, die die IT bei Lufthansa Cargo zum Produktionsfaktor machen. Mit der simplen Frage: "Kann ich die IT wegdenken?" gelinge es ihm auch, dem Top-Management den Beitrag seines Departments zum Geschäft darzulegen. Als er vor etwas weniger als zweieinhalb Jahren die Verantwortung für die Cargo-IT übernommen hat, habe er natürlich auch erst einmal seine "Lieferfähigkeit" beweisen müssen, erinnert sich Roland Schütz. Die Erkenntnis, dass die IT eine "notwendige Voraussetzung fürs Geschäft" sei, stärke seine Position im Unternehmen. Ein Beleg: Bei Lufthansa Cargo ist die IT ausdrücklich in der Unternehmensstrategie verankert.
Wie die Annäherung zwischen Geschäft und Informationstechnologie sich organisatorisch in einem Unternehmen niederschlagen kann, zeigt das Beispiel des Energieversorgers E.ON. "Die IT sieht sich im E.ON-Konzern als einen der zentralen Enabler für intelligente Energiesysteme", sagte auf der Tagung in München Jürgen Stetter. Er leitet das vor einem Jahr neu gegründete Innovation Center Energy Intelligence. Das Innovation Center strebt unter anderem danach, auf Grundlage von Datenanalysen Kundenservices zu verbessern und neue Produkte und Geschäftsmodelle daraus abzuleiten. Das Ziel: dem Kunden Vorteile zu bieten und sich dadurch positiv von den Wettbewerbern zu differenzieren.
Früher entschieden sich die Kunden fast ausschließlich über Gewohnheiten und den Preis für oder gegen einen Stromanbieter. In letzter Zeit allerdings wachse das Interesse an Themen wie "Home Energy Management Systems", "Komplettservice für eigene Energieerzeugung und Speicherung" oder "Energie-Autarkie", sagt Jürgen Stetter, der vor seiner jetzigen Position Head of Business Intelligence bei der Konzerntochter E.ON IT war. Die genannten Themen will das Innovation Center unter seiner Leitung systematisch erforschen. "Welche konkreten Bedürfnisse haben unsere heutigen und künftigen Kunden?" sei die Leitfrage. Ziel ist, aus Markt- und Kundendaten Innovationen abzuleiten, die für Kunden und den Düsseldorfer Konzern Mehrwert erzeugen. "Im ersten Schritt analysieren wir Daten; im zweiten Schritt überlegen wir, welche neuen Produkte und Services sich mit den Erkenntnissen zusammenstellen lassen", sagt Jürgen Stetter. Ausgewertet werden unter anderem Daten aus Social Media wie Facebook und Twitter. Ein wichtiger Ansatz dabei sei, Themen wie Datenschutz und Transparenz gegenüber den Kunden sensibel zu handhaben, heißt es bei E.ON.
Das Innovation Center Energy Intelligence ist dabei als "reine Steuerungseinheit", wie Stetter sagt, schlank aufgestellt - ebenso wie die weiteren Innovation Centers, die E.ON seit 2011 eingerichtet hat. Die Besonderheit an Stetters Einheit: Funktional gehört sie zum direkt dem CTO unterstellten Bereich Technology & Innovation, in dem der Konzern alle Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten gebündelt hat - disziplinarisch ist Stetters Innovation Center der Konzerntochter E.ON IT zugeordnet. Diese Positionierung zeigt deutlich, wie der Einzug von IT-Komponenten in Endprodukte traditionelle Grenzen zumindest in Teilen infrage stellt. Betriebswirt Stetter jedenfalls sagt: "Unser klares Ziel ist es, Datenanalysen und IT noch stärker bei Erzeugung, Transport, Speicherung, Handel und Vertrieb von Energie und damit verbundenen Services einzusetzen."
Bewusst spricht man bei E.ON vom "Brückenschlag zwischen IT und anderen Konzerneinheiten". Und für Andreas Wiele von Axel Springer bringt "nur verzahnte Zusammenarbeit zwischen IT- und Business-Verantwortlichen das richtige Produkt hervor".
Nicht länger gangbar sei vor dem Hintergrund der Weg, wie früher oft geschehen, vor allem über Werkverträge mit Externen zusammenzuarbeiten. "Vor allem die Produktentwicklung wird immer stärker mit Inhouse-Kompetenzen umgesetzt, und dafür werden mehr eigene Entwickler eingestellt", so der Chef der Bild-Gruppe bei der Axel Springer AG. Obwohl die Arbeit in einem Medienhaus für Entwickler attraktiv sei, finde Springer am "hart umkämpften Standort" Berlin nur schwer Spitzenkräfte in ausreichender Zahl, sagt der Manager. Deshalb wirbt das Unternehmen mittlerweile auch auf dem internationalen Arbeitsmarkt verstärkt Spezialisten an. So wurden jetzt erstmals gezielt spanische IT-Kräfte rekrutiert.
Hoher Anteil externer Spezialisten
Beim Luftfrachtdienstleister Lufthansa Cargo dagegen zeichnet sich eine genau entgegengesetzte Entwicklung ab. Um die Liefertreue zu erhöhen, will der IT-Verantwortliche Roland Schütz den Anteil externer Mitarbeiter mit Spezialkenntnissen hoch halten. Bei hohem Outsourcing-Anteil werde eine "tendenziell kleinere, aber leistungsstarke IT-Abteilung" fest im Unternehmen verbleiben, sagt der IT-Chef. Kernfunktionen wie Anforderungs-Management, Projektleitung, Architektur, Multi-Provider-Management, IT-Controlling und andere Governance-Funktionen will Schütz in jedem Fall im eigenen Haus halten.
Software-Entwickler arbeiten direkt in der Entwicklung
Deutlich macht das der Unterschied zwischen beiden Beispielen: Die mit IT-Innovation im Produkt zweifellos wachsende Bedeutung des Informationstechnologie-Ressorts geht nicht zwingend damit einher, dass sich der Herrschaftsbereich des CIOs ausdehnt. Eher zeichnet sich ab, dass er sich weniger deutlich als bisher von den Fachbereichen im Unternehmen abgrenzt. Schließlich erwartet etwa Audi-Chef Rupert Stadler, dass sein CIO "quer im Unternehmen unterwegs" ist. Wie die einst festen Bastionen sich einander öffnen, zeigt sich nicht nur an den IT-Experten, die Andreas Wiele neben Journalisten in den Springer-Redaktionen platzieren will. Rupert Stadler betont, schon heute arbeiteten bei Audi Software-Entwickler direkt in der Entwicklung, nicht nur in der klassischen IT-Abteilung. Und auch Roland Schütz setzt auf Projekte gemischte Teams aus Business und IT an.
Ob die derzeitige Entwicklung nun die klassische IT-Abteilung wachsen oder schrumpfen lässt, IT-Kompetenz sich in den Fachbereichen ansiedelt oder Querschnittsabteilungen entstehen: Die CEOs Andreas Wiele und Rupert Stadler, der CIO Roland Schütz und auch der zwischen beiden Welten stehende Jürgen Stetter machen deutlich, dass sich das Verhältnis zwischen Business und IT gerade neu festrüttelt. Auf Konflikt und Verteilungskämpfe scheint dabei keiner gebürstet - bisher.