"Berlin: Software-Tester: Stellenausschreibung für Menschen im Autismus-Spektrum (m/w)". So und ähnlich lauten die Jobangebote auf der Webseite des Unternehmens Auticon in Berlin. Als erstes Unternehmen in Deutschland beschäftigt Auticon ausschließlich Menschen mit Asperger-Autismus als Consultants im Software-Testing.
Geschäftsführer Dirk Müller-Remus ist Vater von vier Kindern und hat selbst einen 20-jährigen Sohn mit Asperger-Syndrom. „Im Bereich Software-Testing sehen wir eine hervorragende Möglichkeit, Menschen mit Asperger-Autismus eine berufliche Perspektive zu bieten und sie sinnvoll am ersten Arbeitsmarkt einzusetzen", sagt Müller-Remus im Gespräch mit CIO.de.
Small-Talk und unruhige Umgebung als extreme Stresssituation
Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, von der Männer etwa sechsmal häufiger betroffen sind als Frauen. Das Asperger-Syndrom wird auch als leichte Form des Autismus bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine Kontakt- und Kommunikationsstörung. Asperger-Autismus unterscheidet sich von anderen autistischen Störungen dadurch, dass die Betroffenen in der Regel über eine normale Sprachentwicklung und hohe bis sehr hohe kognitive Fähigkeiten verfügen.
In der sozialen Kommunikation und Interaktion haben sie hingegen Schwächen. So stellen Small-Talk und eine unruhige Arbeitsumgebung für viele Asperger-Autisten eine extreme Stresssituation dar. Aus diesen Gründen sind viele Menschen mit Asperger-Autismus arbeitslos oder begegnen großen Schwierigkeiten im Berufsleben.
Der Frankfurter Dirk Müller-Remus, Jahrgang 1957, arbeitete nach einem Betriebswirtschafts-Studium bei Siemens in der Software-Entwicklung, als CIO bei Aastra DeTeWe und als Vorstand bei Nova Vision, einem Medizintechnik-Unternehmen mit IT-Schwerpunkt. Die Idee für sein eigenes Unternehmen trug er schon lange mit sich herum. Bereits 2009 beschäftigte er sich mit der Arbeitsmarktsituation von Menschen im Autismus-Spektrum. Ende 2011 schließlich gründete er die Auticon GmbH.
Sie bietet Functional Testing, System-, Modul-, Integrations- und Regressionstests sowie User Interface Tests an. Müller-Remus sagt allerdings: "In Berlin haben wir gemerkt, wenn wir ein klares Profil gewinnen wollen, dann müssen wir uns spezialisieren." Einen Schwerpunkt der Dienstleistung will er daher fortan auf Embedded Software Testing legen.
Bevor Auticon seine Consultants erstmals beim Kunden einsetzt, absolvieren sie eine Schulung, an deren Ende sie ein anerkanntes Zertifikat als Software-Tester erhalten. Die bisher acht Mitarbeiter erhielten im zweiten Halbjahr 2012 durch das Münchner Unternehmen Emenda ein Intensiv-Training in "Embedded Software Testing" mit Fokus auf der Automobilindustrie. Schwerpunkt war MISRA C:2004, ein C-Programmierstandard in der Branche. Ende November waren die Schulungen abgeschlossen – nun, Anfang 2013, soll die Arbeit beim Kunden beginnen. "Wir stehen an der Startrampe", sagt Müller-Remus.
Besondere Stärken beim White-Box-Testing
Müller-Remus: "Vor allem beim White Box-Testing, bei statischen und dynamischen Tests, haben unsere Tester ihre besonderen Stärken. Das sind Aufgaben, die nicht jeder Tester gleich gerne mag. Dabei geht es darum, nach bestimmten formalen Richtlinien zu prüfen und tief in den Code hineinzugehen." Im Gegensatz zum Black-Box-Test ist beim White Box-Testing der Blick in den Quellcode gestattet, es wird am Code geprüft.
Damit die Menschen mit Asperger-Syndrom auch tatsächlich ihr Potenzial entfalten können, begleiten sogenannte Job Coaches sie bei der Arbeit. Sie sollen auch die ersten Ansprechpartner für Kunden sein. Die Job-Coach-Leistung ist für Kunden im Preis für Tests durch Auticon eingeschlossen.
Müller-Remus ist eines dabei ganz besonders wichtig: "Die Coaches bringen nicht die Abläufe vor Ort durcheinander. Es ist eine Hintergrundleistung; sie kommunizieren per E-Mail oder Telefon mit dem Mitarbeiter und helfen, falls es Probleme gibt." Vor Ort beim Kunden kümmerten sich die Job Coaches um Dinge wie eine zusätzliche Trennwand oder Kopfhörer, die Mitarbeiter für ihre Arbeit benötigen.
Das Testen von Software erfordert eine hohe Konzentration, viel Zeit und Geduld, man müsse detailgenau und präzise sein, analytisch und logisch vorgehen, wie Müller-Remus betont: "Das alles sind genau die Stärken, die unsere Mitarbeiter aufweisen."
Laut Sozialrecht schwerbehindert, für Software-Tests besonders begabt
Sozialrechtlich gelten die Mitarbeiter von Auticon mit Asperger-Syndrom als schwerbehindert. Speziell fürs Testen von Software haben sie nach Aussage ihres Arbeitgebers allerdings eine sehr hohe Begabung, eine sozusagen angeborene, eingebaute Qualitätsdisposition. "Sie haben Freude daran, Fehler zu finden und zu analysieren. Das macht sie so besonders. Wenn man die fachliche Qualifikation stärkt und es in einen passenden Rahmen packt, wird es für alle sehr erfolgreich", sagt der Auticon-Geschäftsführer.
Die Mitarbeiter haben aufgrund der sozialen Probleme in der Interaktion und in der Kommunikation oft schon einen harten Weg hinter sich. Müller-Remus will das Negative jetzt ins Positive wenden: "Wir wollen nicht auf den Schwächen herumreiten, wir wollen die Stärken hervorkehren. Wenn die Menschen in einem Umfeld sind, das sie akzeptiert, können sie ihre Stärken sehr gut entfalten." Aufgaben müssten dazu nur gut strukturiert sein, aufkommende Probleme rechtzeitig gelöst werden. Denn: Autisten brauchen eine klare Struktur und eine ebenso klare Kommunikation.
Denn Autisten verstehen vieles wortwörtlich. Deshalb müsse man ihnen stets die reine Sachbotschaft übermitteln. Müller-Remus: "Wir Normalmenschen oder 'Neurotypen' reden oft im Konjunktiv. Wir neigen dazu, uns nicht so direkt auszudrücken, das ist dann schwierig. Autisten brauchen klare Ansagen. Das zwingt uns zu klaren Formulierungen."
Menschen mit Asperger-Syndrom haben auch im Alltag oft besondere Probleme, etwa bei den Themen Miete zahlen, Planung oder Zeitmanagement - aber, das ist wichtig, nur in Gebieten, in denen nicht ihr Spezialinteresse liegt. Ein Asperger-Autist, dessen Spezialinteresse in der IT liegt, sei als Mitarbeiter für ein Unternehmen wie Auticon hoch funktional, sagt Müller-Remus.
Der Geschäftsführer hat mittlerweile ein großes Netzwerk aufgebaut – zum Autismus-Verband, Selbsthilfegruppen, Autismus-Ambulanzen und der Berliner Charité. "Wenn wir Leute suchen, aktivieren wir es." Bei Bewerbern achtet Auticon zunächst genau darauf, ob sie tatsächlich eine ausgeprägte IT-Kompetenz und die nötigen Fertigkeiten mitbringen, die in einem professionellen Umfeld genutzt werden können.
Vorbehalte geprägt vom Hollywood-Film "Rain Man"
"Danach führen wir einen fachlichen Eignungstest gemeinsam mit Wissenschaftlern der Freien Universität durch, die prüfen, ob wirklich die notwendige Kompetenz im analytisch-logischen Denkvermögen vorliegt", sagt Müller-Remus. Das gebe seinem Team die Sicherheit, die richtigen Mitarbeiter zu finden. Eine weitere Testphase schließt sich an: Wie sind die Fähigkeiten bei der Kommunikation, im Team, unter Stress, ist der Mitarbeiter pünktlich, ordentlich, zuverlässig leistungsbereit und motiviert? Und: "Können wir uns die Kandidaten beim Kunden vor Ort vorstellen?"
In 95 Prozent der Fälle gebe es in der Öffentlichkeit - und vor allem bei älteren IT-Entscheidern - eine falsche Vorstellung von Autismus, bedauert Müller-Remus, der die bestehenden Vorbehalte abbauen will. Sie seien stark geprägt vom Film "Rain Man". Darin spielt Dustin Hoffmann den autistischen Raymond, der ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis hat, aber kaum Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen kann. "Das ist ein Beispiel, das auf unsere Mitarbeiter nicht zutrifft. Kommunikation und Zusammenarbeit sind möglich", sagt Müller-Remus.
Vorbilder für Auticon gibt es bereits in anderen europäischen Ländern, in Belgien, Dänemark und der Schweiz. In Deutschland aber sei man das erste Unternehmen dieser Art. Notwendig für die Gründung eines solchen Unternehmens sei außer Management-Fähigkeiten und IT-Kenntnissen auch persönliche Betroffenheit. "Ich habe einen Sohn, der ist 20 Jahre alt und Asperger-Autist. Das ist meine intrinsische Motivation", sagt Müller-Remus.
Alle bisher acht Mitarbeiter von Auticon in Berlin bekommen laut Firmengründer ein marktgerechtes Gehalt in der Höhe dessen, was ein Junior-Softwaretester verdient. Neben den Testern und dem Geschäftsführer arbeiten für Auticon noch ein Mitarbeiter für Organisation und Marketing, ein IT-Manager als fachliche Schnittstelle zum Kunden und ein Job Coach, der Probleme in der Kommunikation zwischen Mitarbeitern und Kunden schon im Vorfeld abfangen soll. In den kommenden fünf Jahren will Müller-Remus weitere 50 Mitarbeiter mit Autismus einstellen. Im ersten Quartal des dritten Geschäftsjahres will er mit Auticon den Break even schaffen.
Je größer ein Unternehmen, desto eher sehen die Verantwortlichen dort auch die Möglichkeit, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, der Corporate Social Responsibility, gerecht zu werden - sich also durch einen Auftrag an Dienstleister wie Auticon als besonders verantwortungsbewusst zu zeigen. Allerdings, und darauf legt Müller-Remus Wert, versteht man sich selbst als ein ganz normales IT-Beratungsunternehmen – nur eben mit speziellen Mitarbeitern. "Wir wollen uns über unsere Leistung und Qualität definieren und sind nicht mit einer Behindertenwerkstatt zu vergleichen", sagt er.
Vodafone in Düsseldorf beschäftigt dieses Jahr vier Auticon-Mitarbeiter
Diejenigen, die bisher mit Softwaretests ihr Geld verdienen, müssten die neue Konkurrenz aber nicht fürchten. "Wir nehmen niemanden etwas weg, sondern ergänzen das Portfolio, weil unsere Mitarbeiter Aufgaben übernehmen, die andere nicht so gerne machen", sagt Müller-Remus. Das seien oft Dinge, die die Firmen schon immer mal machen wollten, zu denen sie aber in der Hektik des Alltags nicht kommen, etwa im Bereich Dokumentation oder bei der Bereinigung von Datenbeständen.
Die weitere Expansion ist schon geplant: Mit Vodafone in Düsseldorf hat Auticon gerade einen langfristigen Kooperationsvertrag abgeschlossen. "Wir werden dort vier Mitarbeiter einsetzen, die, in eine größere IT-Fachabteilung integriert, vor Ort arbeiten. Wir haben sie gemeinsam mit Vodafone ausgesucht", sagt Müller-Remus. In München will Auticon noch im Sommer 2013 mit vier bis fünf Mitarbeitern starten. Danach könnten Frankfurt und Hamburg folgen – aber erst ab 2014.
In den Gebieten IT, Musik und Sprachen lägen die besonderen Stärken von Asperger-Autisten. Vielleicht entwickle sich Auticon später auch einmal in diese Richtungen weiter, sagt Müller-Remus. Im Augenblick aber bleibe man erst einmal beim Qualitätsmanagement.