Wenn Enrico Rühle nach einem Zehn-Stunden-Arbeitstag um kurz nach acht seinen 19 Monate alten Sohn ins Bett gebracht hat, fängt für ihn der Stress noch einmal so richtig an. Bis gegen Mitternacht sitzt er dann oft noch an seinem Rechner, liest die neuesten Studien über die Luftfahrtindustrie, macht sich schlau über Lieferketten-Management, wühlt sich durch seitenlange Excel-Tabellen und Präsentationen zum Thema internationales Marketing.
Seit neun Monaten büffelt der Indien-Geschäftsführer des TÜV Rheinland für den Euro*MBA, den sechs europäische Hochschulen gemeinsam als Fernstudium anbieten. Während seine Kollegen den Feierabend genießen, sitzt der Elektroingenieur oft zu Hause und lernt - in seinem kleinen Arbeitszimmer in der indischen IT-Hochburg Bangalore. Selbst in den Mittagspausen im Café klappt er schon mal den Computer auf. "Ich wollte meine betriebswirtschaftlichen Kenntnisse unbedingt mit einem MBA vertiefen", sagt der 38-Jährige. "Aber eine berufliche Auszeit kam für mich nicht infrage."
Deshalb hat er sich dafür entschieden, seinen MBA per Mausklick zu absolvieren, statt sich den Lehrstoff in Präsenzkursen in muffigen Hörsälen eintrichtern zu lassen. Für das international renommierte Euro*MBA-Programm investiert er neben seinem Vollzeitjob zwischen 15 und 25 Stunden pro Woche in sein Managementstudium. Nur sechs Mal in zwei Jahren fliegt er für das Studium nach Europa, das Gros seiner Studienzeit ist geprägt von Web-Seminaren und Gruppendiskussionen in Online-Foren. So kann Rühle sein Studium an einer europäischen Top-Adresse vorantreiben und sich gleichzeitig um 23 TÜV-Niederlassungen in Indien kümmern.
20 Wochenstunden lernen
Rühle ist einer von derzeit mehreren Tausend MBA-Studenten weltweit, die sich gegen die Auszeit vom Beruf entscheiden und für einen MBA nebenbei aus der Ferne lernen. Zwar gab es schon früher viele Teilzeitprogramme, die man neben dem Beruf absolvieren konnte. Doch auch dafür war es immer nötig, im Turnus weniger Wochen immer wieder zur Uni zu reisen und dort Wochenenden und Abende zu verbringen. Für viele Menschen keine Option mehr. Sie nehmen lieber zwei Jahre lang 20 Stunden Büffeln pro Woche in Kauf, um weiter bei der Familie leben und die Karriere im Unternehmen bei vollem Gehalt vorantreiben zu können.
Neue Generation
Deshalb werben inzwischen immer mehr Business Schools mit Online-Angeboten gezielt um diese neue Generation von MBA-Anwärtern. Da treffen sich Studenten aus aller Welt zu Web-Vorlesungen, sitzen Manager im Flieger und hören sich Seminarinhalte als Podcast an, lesen Ingenieure die Literatur für den Marketingkurs mit ihrem Tablet- Rechner auf dem Weg zur Baustelle. "Die Digitalisierung hat alle möglichen Industrien verändert, manche sogar ausgelöscht - warum sollte das vor der Bildung haltmachen?", sagt James Dean, Dekan der Kenan-Flagler Business School an der University of North Carolina. "Wir erleben die digitale Revolution des MBA."
Was Rühle heute vom fast 8.000 Kilometer entfernten Bangalore aus wie selbstverständlich erledigen kann, wäre vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. "Ende der Neunziger hat man sein Modem gestartet und gewartet, bis die Software alle Lehrinhalte synchronisiert hatte", sagt Dixon. Die Studenten durften nur wenige Grafiken hochladen, mussten PDF-Dokumente möglichst kurz halten, um die Server nicht zu überlasten. "Damals", sagt Dixon, "hielten viele das Fernstudium für zweitklassig."
Der virtuelle Student
Diese Zeiten sind endgültig vorbei. Waren es bis vor wenigen Jahren vor allem Business Schools aus der zweiten Reihe und klassische Fernhochschulen, die sich auf das Online-Gebiet wagten, drängen heute zunehmend Top-Schulen von den vorderen Rängen der MBA-Rankings auf den Markt und bieten mitunter sogar reine Online-Studien an - ohne eine Minute Präsenzzeit. So zählte die Akkreditierungsorganisation AACSB in ihrer letzten Umfrage, an der ausgewählte Business Schools teilnehmen, 74 akkreditierte Schulen, die Online-MBA-Programme anbieten - doppelt so viele wie noch vor sechs Jahren. Rechnet man die Angebote vieler nicht akkreditierter Business Schools hinzu, liegt die Zahl noch deutlich darüber.
Und sie wird weiter steigen. Die Online-Offensive von Top-Adressen wie der Kenan-Flagler School mit ihrem 2011 eingeführten "MBA@UNC" oder dem Madrider Instituto de Empresa mit dem "Global MBA+" ließ bei immer mehr MBA-Bewerbern das Interesse am Online-Studium steigen.
Am anderen Ende der Welt
Diesen Boom spürt auch das Euro*MBA-Konsortium. Die MBA-Aspiranten sind nach einer Einführungswoche vor Ort erst einmal sich selbst überlassen: zurück im Job, am Abend vor dem Rechner zu Hause. Alle Vorlesungen finden als Videokonferenz statt, eine pro Woche. Ständige Gruppenprojekte mit vier bis sechs Kommilitonen gehören dazu. Nur sitzen die mitunter am anderen Ende der Welt. "Das ist eine der größten Herausforderungen", sagt TÜV-Manager Rühle.
Wegen der Zeitverschiebung sitzt er oft noch nachts oder schon früh am Morgen am PC, um sich online mit seinen Kollegen zu besprechen. Jede Woche stellen ein Dozent oder Student außerdem eine neue Frage, die sich auf die aktuellen Studieninhalte bezieht und an alle richtet. Alles, was die Studenten dann im Netz schreiben, fließt in ihre Bewertung ein. Manche verlinken Web-Seiten, andere empfehlen wissenschaftliche Papiere und Bücher oder kommentieren aus eigener Erfahrung. Bald will Direktor Dixon die Studenten über Tablet-Rechner noch stärker vernetzen.
Die Fernhochschule Riedlingen ist diesen Schritt schon gegangen: Deshalb kann Erich Rajkovic, während seine Kinder drei Meter entfernt im Sandkasten buddeln, den Ausführungen seines Dozenten zum Unternehmensrecht lauschen. Mitten auf dem Kinderspielplatz.
Der mobile MBA der FH Riedlingen macht es möglich. Zu Beginn des Studiums erhielten Rajkovic und jeder seiner Kommilitonen ein iPad. Alle Inhalte stellt die Uni auf Apples Lernplattform "iTunes U" bereit - einmal heruntergeladen, kann Rajkovic sie überall anschauen. Nicht einmal Funklöcher oder langsame Internet-Verbindungen zwingen ihn zu Lernpausen.
Seit zwei Jahren arbeitet der promovierte Pharmazeut für den Medikamentenentwickler Affimed in Heidelberg, schließt Kooperationen mit großen Pharmakonzernen ab und wirbt um neue Investoren. "Welche Strategien für Marketing und Finanzierung unserer Projekte am besten sind, bekommt man im Labor nicht mit. Das muss ich mir jetzt mit dem MBA aneignen", sagt der 33-Jährige.
Ein Präsenzstudium kam für ihn nie infrage. Mehrere Tage im Monat ist er beruflich in Europa oder den USA unterwegs, an seinen freien Wochenenden zieht er den Spielplatz dem Hörsaal vor.
Keine Auszeit vom Job
Das kommt bei seinem Arbeitgeber gut an, weil der fast nie auf Rajkovic verzichten muss - und er selbst nicht etwa durch wichtige Geschäftsreisen Fehlzeiten im Studium ansammelt. "Die Belastungen durch das Fernstudium kann Herr Rajkovic sehr gut mit der Arbeit verbinden", sagt Affimed-Geschäftsführer Adi Hoess, "es ist kaum spürbar, dass er nebenbei an seinem MBA arbeitet."
Auch Samantha Collings wollte sich weiterentwickeln, ohne deshalb von der Familie getrennt zu sein. Die Britin, damals schon promovierte Neurologin, war mit ihrem Mann nach Wiesbaden gezogen und erwartete ihr zweites Kind. Nur zu Hause sitzen kam nicht infrage, ein Vollzeit-MBA auch nicht. Also schrieb sie sich für den Online-MBA an der Durham Business School ein. In zweieinhalb Jahren zog sie das Programm durch, gerade mal zwei, drei Wochenenden im Jahr verbrachte sie für das Studium in Durham, bestand ihren MBA schließlich mit Auszeichnung. "Ein Online-MBA erfordert viel Disziplin und Motivation", sagt Collings. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über Einsatzmöglichkeiten von sozialen Medien in der Pharmaindustrie - ein Bereich, in dem sie heute arbeitet. Also alles richtig gemacht?
"Wahrscheinlich ist mein Kommilitonen-Netzwerk nicht ganz so gut wie bei Kollegen, die zwei Jahre zusammen studiert haben", sagt sie. Das gibt auch Gillian Karran-Cumberlege, Partnerin bei der Personalberatung Fidelio, zu bedenken: "Das hochwertige Netzwerk, das man bei den renommierten MBAs von Harvard und ähnlichen Business Schools mitbekommt, ist enorm viel wert - dessen muss man sich bewusst sein, wenn man sich für ein Online-Programm entscheidet."
Zu Beginn war auch Rajkovic skeptisch, ob der iPad-MBA das Richtige für ihn ist. Schließlich war er während seines Studiums Fan handschriftlicher Notizen. "Aber das iPad ist nicht nur Spielerei, es hat ein sehr ausgeklügeltes System, mit dem ich einwandfrei lernen kann", sagt er. Ob Dokumente, Folien, Podcasts oder Videos, alle Formate und Inhalte sind auf dem Tablet logisch miteinander verbunden und lassen sich jederzeit abspielen.
Persönliche Kontakte pflegen
So schlüssig, dass kein MBA-Anwärter mehr nach Riedlingen fahren müsste: Die Studenten der dortigen Hochschule können ihre Seminare durch Online-Prüfungen ersetzen - und ihren Studiengang somit vollkommen digitalisieren. Derzeit nutzt dieses Angebot noch niemand. "Für mich ist es wichtig, meinem Gegenüber mal die Hand gereicht zu haben oder zusammen zu Abend gegessen zu haben", sagt Rajkovic, "so lernt man sich doch intensiver kennen."
Euro*MBA-Direktor Dixon vergleicht das Online-Studium gern mit sozialen Netzwerken. "Auf Facebook bin ich nur mit Leuten befreundet, die ich auch im echten Leben getroffen habe", sagt er. Auch im Online-Studium brauche man "zuerst den persönlichen Kontakt, um eine gute Online-Umgebung zu schaffen".
James Dean von der Kenan-Flagler School an der University of North Carolina ist da optimistischer. "Unsere heutigen Studenten sind vernetzt aufgewachsen", sagt er. "Wenn sie sich nach Monaten des Online-Studiums zum ersten Mal persönlich treffen, habe ich den Eindruck, sie kennen sich schon gut."
Das sind die besten Anbieter für MBA-Studiengänge (Platz 1-5)
Platz 1 |
Business School: Instituto de Empresa (IE) Ort: Madrid, Spanien Programm: Global MBA+ Durchschnittliche Dauer (Monate): 15 Online-Anteil (Prozent): 95 Präsenzzeit: 2 Wochen Kosten (Euro): 39.000 |
Platz 2 |
Business School: Warwick Business School Ort: Coventry, UK Programm: MBA by Distance Learning Durchschnittliche Dauer (Monate): 36 Online-Anteil (Prozent): 100 Präsenzzeit: 1 Woche pro Semester, auf Wunsch mehr Kosten (Euro): 19.800 |
Platz 3 |
Business School: Manchester University Ort: Manchester, UK Programm: Global MBA Durchschnittliche Dauer (Monate): 36 Online-Anteil (Prozent): k.A. Präsenzzeit: 1 Vor-Ort-Workshop pro Kurs Kosten (Euro): ca. 29.000 |
Platz 4 |
Business School: Thunderbird School of Global Management Ort: Glendale, USA Programm: Online Global MBA Durchschnittliche Dauer (Monate): 24 Online-Anteil (Prozent): 75 Präsenzzeit: 4 Wochen Kosten (Euro): ca. 53.500 |
Platz 5 |
Business School: Kelley School of Business Ort: Indiana, USA Programm: Kelley Direct MBA Durchschnittliche Dauer (Monate): 30 Online-Anteil (Prozent): 95 Präsenzzeit: 2 Wochen Kosten (Euro): 45.250 |
Das sind die besten Anbieter für MBA-Studiengänge (Platz 6-10)
Platz 6 |
Business School: Durham Business School Ort: Durham, UK Programm: Global MBA Durchschnittliche Dauer (Monate): 42 Online-Anteil (Prozent): 50 Präsenzzeit: nach Wahl Kosten (Euro): ca. 17.500 |
Platz 7 |
Business School: Euro* MBA Ort: Maastricht, Nantes, Barcelona, Aix-en-Provence, Leipzig, Warschau Programm: Euro MBA Durchschnittliche Dauer (Monate): 36 Online-Anteil (Prozent): 70 Präsenzzeit: 6 Wochen Kosten (Euro): 28.500 |
Platz 8 |
Business School: Penn State University Ort: Pennsylvania, USA Programm: iMBA Durchschnittliche Dauer (Monate): 24 Online-Anteil (Prozent): 95 Präsenzzeit: 2 Wochen Kosten (Euro): ca. 46.000 |
Platz 9 |
Business School: Fox School of Business Ort: Philadelphia, USA Programm: Online MBA Durchschnittliche Dauer (Monate): 24 Online-Anteil (Prozent): 100 Präsenzzeit: 1 Woche, auf Wunsch mehr Kosten (Euro): ca. 55.000 |
Platz 10 |
Business School: Drexel University: LeBow School of Business Ort: Philadelphia, USA Programm: MBA Anywhere Durchschnittliche Dauer (Monate): 24 Online-Anteil (Prozent): 100 Präsenzzeit: 8 bis 12 Tage Kosten (Euro): ca. 55.000 |
(Quelle: Wirtschaftswoche)