Citizen-Developer-Teams aufbauen
So lassen Sie Fachabteilungen coden
Der Mangel an IT-Fachkräften und Software-Entwicklern spitzt sich überall zu, gleichzeitig wächst der Druck zu digitalisieren. Deshalb setzen viele Unternehmen auf Low-Code- und No-Code-(LC/NC-)Entwicklungsplattformen, mit denen technisch interessierte Anwender aus den Fachbereichen arbeiten sollen. Diese so genannten Citizen Developer haben meist keine Vorkenntnisse in der Softwareprogrammierung. Dennoch steigt ihre Zahl, und die Analysten von Gartner prognostizieren: "Bis 2023 wird die Menge der aktiven Citizen Developer in großen Unternehmen mindestens vier Mal so groß sein, wie die der professionellen Entwickler."
Die meisten Citizen Developer kommen aus Geschäftsbereichen, die ihre Prozesse digitalisieren wollen und in LC/NC-Tools eine Möglichkeit zur Lösung ihrer Probleme sehen. Sie haben zwar nur geringe Programmierkenntnisse, sind aber in der Regel technikaffin. Oft haben sie schon vorher mit Tabellenkalkulationen und Datenbanken gearbeitet oder sind mit der sonstigen IT ihres Unternehmens gut vertraut, weil sie etwa als Kundendienstmitarbeiter oder Geschäftsanalysten tätig sind.
Citizen Developers: 41 Prozent könnten Programmierer sein
Den Marktforschern von IDC zufolge bauen große Konzerne inzwischen sogar ganze digitale Ökosysteme mit Tausenden von Entwicklern auf. Ein Großteil davon komme nicht aus der IT-Organisation, sondern aus den Fachabteilungen und habe den Auftrag, Geschäftsprozesse zu optimieren und zu automatisieren. Der Pool potenzieller Entwickler aus dem Business ist groß: Laut Gartner sind im Durchschnitt 41 Prozent aller Mitarbeiter aus dem Business theoretisch dazu in der Lage - wobei diese Zahl je nach Branche variiert.
Bis 2025 werden den Marktauguren zufolge 70 Prozent der von Unternehmen entwickelten neuen Anwendungen auf LC/NC-Technologien basieren, während es vor zwei Jahren weniger als 25 Prozent gewesen seien. Die Ausgaben für diese Technologien sollen bis 2025 voraussichtlich auf fast 30 Milliarden Dollar ansteigen. Interessant am Rande: Auch viele IT-Unternehmen arbeiten mit LC/NC-Entwicklungswerkzeugen, darunter die großen CRM-, ERP- und PaaS-Anbieter (Platform as a Service).
Neben den Newbies aus dem Business sind auch viele professionelle Entwickler an Bord. "Wir haben relativ wenig Widerstand seitens der professionellen Entwicklungsteams und der IT festgestellt, wenn es gilt, Low-Code-Technologie in ihr Tool-Set zu integrieren", beobachtet Jason Wong, Software Design and Development Analyst bei Gartner. Er merkt an, dass einige LC/NC-Tools direkt auf Profi-Entwickler abzielten, darunter Retool und Appsmith. Das sei ein Indiz dafür, dass die Akzeptanz und Reife der Technologie auf allen Ebenen zunehme.
Citizen-Development-Teams aufbauen: So geht's
Da die Tools grafische Benutzeroberflächen (GUIs) verwenden und vom klassischen Zeilencode weitgehend abstrahieren, lassen sich relativ schnell Anwendungen mit modularen Codesätzen erstellen. Die meisten Nutzer verwenden die Werkzeuge, um einfache Geschäftsprobleme zu lösen, zum Beispiel die Umwandlung eines papierbasierten in einen digitalen Prozess. Viele Lösungen sind kostenlos und lassen sich einfach nutzen. Amazon Honeycode beispielsweise ist ein Low-Code-Onlinedienst, der diverse Vorlagen für das Erstellen von Mobile- und Webanwendungen für das Projektmanagement mitbringt.
Doch hier liegen auch die größten Risiken, mahnt Michele Rosen, Research Manager bei IDC. Nahezu jeder könne sich auf diese Weise seine App bauen. "Aus Sicht der IT-Abteilung ist es besser, eine einzige Plattform bereitzustellen, die alle verwenden." Dort ließen sich dann auch die gesammelten Best Practices des Unternehmens zugreifen und nutzen. Auch könne die Art und Weise, wie Daten in diesen Apps verwendet werden sollen, besser gesteuert werden. Unternehmen sollten dazu Governance-Richtlinien für die App-Entwicklung definieren - Leitplanken, in denen sich alle bewegen müssen. Die Regeln sollten für interne genauso wie für externe Anwendungen gelten. In einigen Fällen ließen sich auch die Richtlinien, denen die Softwareentwickler in den IT-Abteilungen folgten, ebenfalls auf das Citzen Development anwenden.
Wie IDC-Analystin Rosen erklärt, bieten LC/NC-Tools oft Möglichkeiten, Freigaben und Tests in den Entwicklungsprozess zu integrieren. Durch technologisch erzwungene Leitplanken und Richtlinien könnten Citizen Developer somit Apps erstellen, ohne dabei die IT-Infrastruktur des Unternehmens zu gefährden. Unternehmen sollten einen Katalog mit vorab genehmigten LC/NC-Lösungen bereitstellen, indem sie einen internen App-Store für Mitarbeiter einrichten und dazu Schulungen anbieten, rät Rosen.
Wichtig ist es in jedem Fall, die IT-Abteilung von Anfang an einzubeziehen. Sie muss die Anwendungen, die in den Katalog aufgenommen werden sollen, prüfen und festlegen, auf welche Art von Daten die entstehende Software zugreifen darf. Sudarshan Dharmapuri, Vice President of Products bei Cisco, stellt klar: "Die IT ist und bleibt Hüterin der Kerngeschäfts-Systeme. Sie muss mitreden, wenn festgelegt wird, welche Anwendungsfälle und Workloads für Citizen Development freigegeben werden." Ebenso müsse die IT die Plattform auswählen und die richtigen Vorgaben für deren Management machen. Auf dieser Basis könnten dann Citizen Developers loslegen und ihre Beiträge leisten.
Zudem ist es wichtig, Ansprechpartner aus der IT zu benennen, die den Neulingen als Mentoren zur Seite stehen können. Solche IT-Fachleute kennen sich oft mit der Einhaltung regulatorischer Vorschriften aus und wissen zudem, welche Daten zur Verfügung gestellt werden dürfen. Auch geht es darum, die Amateurentwickler vor Fehlern zu bewahren, wenn sie konfigurierbare Low-Code- und Drag-and-Drop-Interfaces verwenden. Unerfahrene Entwickler können schnell unbeabsichtigt Endlosschleifen programmieren oder andere Fehler in ihren Workflow einbauen.
IDC-Analystin Rosen empfiehlt, dass sich professionelle Entwickler aus den IT-Abteilungen immer wieder die Programmierlogik der LC/NC-Anwendungen ansehen sollten, an denen ihre Kollegen der Fachbereiche arbeiten. "Am Ende geht es auch bei No-Code immer noch um Code, nur auf einer höheren Abstraktionsebene. Das Unternehmen muss wissen, wie dieser Code erstellt wurde und ob er sicher ist." Es bestehe das Risiko, dass Citizen Developer beim Erstellen einer Anwendung unwissentlich sensible Daten in ihren Code einfügten.
Wichtig für den Erfolg von Citizen-Development-Vorhaben sei es, eine Qualitätssicherungs-Pipeline einzurichten. Sie ermögliche es den IT-Abteilungen, die von Citizen Developern erstellten Anwendungen zu überprüfen und die Einhaltung interner Geschäftsregeln sicherzustellen.
Citizen Development: Die Nachteile von Low-Code/No-Code
ComplianceCompliance ist auch deshalb relevant, weil viele LC/NC-Plattformen Cloud-basiert sind. Damit erhöht sich das Risiko, dass sensible Daten, die von den Geschäftsbereichen in die Tools eingegeben werden, nach außen dringen. Ebenso besteht die Möglichkeit, das LC/NC-Anwendungen nicht zu 100 Prozent die internen Sicherheitsanforderungen erfüllen. Zudem lassen sich die entstehenden Anwendungen unter Umständen nicht in die bestehenden Back-End- und Front-End-Geschäftsanwendungen integrieren. Alles zu Compliance auf CIO.de
"Es gibt diese ständige Bedrohung durch Schatten-ITSchatten-IT", warnt Rosen. Wer Microsoft 365 und die Microsoft PowerApps nutze, könne durchaus auf die Idee kommen, eine App zu erstellen, ohne jemals mit der IT-Abteilung zu sprechen. "Einige Leute denken mit Sicherheit nicht als erstes an Datenpolitik, wenn sie solche Tools verwenden", beobachtet die IDC-Analystin. Alles zu Schatten-IT auf CIO.de
Bei den meisten LC/NC-Werkzeugen handele es sich um Web-basierte Entwicklungsumgebungen, so dass man seine Daten im Wesentlichen auf irgendwelchen Servern ablege. Die Mitarbeiter müssten damit sensibel umgehen, ähnlich wie beispielsweise mit der Bedrohung durch Phishing-Angriffe. "Viele Anbieter werben gerne damit, dass man keine Schulung brauche, um ihre Low-Code oder No-Code-Tools zu verwenden. Das ist aber nicht richtig!"
Beispielsweise hat RizePoint, ein Anbieter von Qualitätsmanagement-Software, seinen Mitarbeitenden ein technisches Schulungsprogramm über die Browser-basierte Online-Fortbildungsplattform Codeacademy zugänglich gemacht. Durch die Fortbildung vieler Mitarbeiter aus den Fachabteilungen konnte sich das Unternehmen Neueinstellungen sparen und schließlich sogar offene Stellen im technischen Bereich mit eigenen Leuten aus anderen Abteilungen besetzen. Das Unternehmen stopfte damit nicht nur ein Loch in seiner Personaldecke, es verbesserte auch die Mitarbeiterbindung, da viele Beschäftigte es gerne sahen, dass in sie investiert wurde und sie etwas Neues lernen konnten.
Online-Schulungsplattformen wie Codecademy oder andere sind beliebt, um Citizen-Developer-Programme aufzusetzen. Solche interaktiven Lernumgebungen helfen den Menschen, Wissen in ihrem eigenen Tempo aufzubauen. "Die Beschäftigten erlernen kontinuierlich neue Fähigkeiten und können sich auf künftige Aufgaben so vorbereiten, wie sie später tatsächlich auf sie zukommen", wirbt Jonathan Naymark, Geschäftsführer von Codecademy.
Citizen Developer: Schulungen sind kostspielig
Er warnt allerdings davor, dass Citizen-Development-Programme kostspielig und zeitintensiv seien. "Sie sollten nicht auf die leichte Schulter genommen werden", so Naymark. Das LC/NC-Entwicklerprogramm bei RizePoint konnten die Mitarbeitenden in sechs Monaten durchlaufen. Das Unternehmen kombiniert dabei das Erlernen des Tools mit eigenen Business-Erfahrungen, indem es Mitarbeitende aus dem Kundenservice einbindet. Die haben zwar keinen technischen Hintergrund, aber ein tiefes Verständnis für die Produkte und Anforderungen des Unternehmens.
Das Schulungsprogramm konzentriert sich zunächst auf das Erlernen von JavaScript - eine der einfacheren Programmiersprachen. "JavaScript ist flexibel und einfach zu erlernen. Damit kann man sich richtig austoben. Denken Sie nur an all die beliebten JavaScript-Bibliotheken, die es für die Erstellung von Webanwendungen gibt", sagt Darrel Williams, Chief Technology Officer von RizePoint. Sein Unternehmen misst die Fortschritte der Schulungsteilnehmer alle zwei bis vier Wochen, um sicherzustellen, dass die Inhalte verinnerlicht wurden.
"Wenn sie sich erst einmal mit der Schulungsplattform zurechtfinden, können sie sich nach Bedarf auch mit SQL-Datenbanken und mit grundlegendem HTML und CSS-Webdesign (CSS = Cascading Style Sheet) beschäftigen", sagt Williams, der selbst erst im Alter von 35 Jahren eine Karriere in der Technologiebranche eingeschlagen hat. "Wenn sie gut sind, schließen sei ein 90-tägiges Praktikum an und können dann auch unser IT-Team unterstützen."
Seine Citizen Developers bringt RizePoint während ihrer Praktika immer wieder mit erfahrenen Softwareentwicklern höherer Ebenen zusammen. Das Unternehmen hält sich zudem an standardmäßige Best Practices im Bereich der Qualitätssicherung, vor allem, wenn Citizen Developers Anwendungen entwickeln, die von mehreren Geschäftsbereichen genutzt werden sollen. (hv)
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Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation Computerworld.com.