"In den letzten 80 Jahren hing das Geschäft von Mann+Hummel stark am Verbrennungsmotor", berichtet Alexander Stamm. "Das ändert sich gerade massiv." Das 1941 im württembergischen Ludwigsburg gegründete Familienunternehmen steckt in einer tiefgreifenden Transformation. Als Hersteller von Filterlösungen für die Automobil- und die Maschinenbauindustrie ist Mann+Hummel vom Übergang zu alternativen Antriebsformen und dem digitalen Wandel besonders betroffen.
"Wir verändern unser Portfolio und sind dabei, alternative Produkte zu entwickeln", sagt Stamm, der 2019 als CIO bei der Mann+Hummel-Gruppe einstieg. Das gelte sowohl für das klassische Geschäft im Unternehmensbereich Transportation als auch für die neue Sparte Life Sciences & Environment (LS&E). "Auch E-Fahrzeuge brauchen schließlich Filterlösungen, beispielsweise für den Innenraum, den Antriebsstrang und darüber hinaus." Die strategische Stoßrichtung aber sei klar: "Wir entwickeln uns immer stärker aus der Automobilindustrie heraus."
Neue Anforderungen an die IT
Aktuell erwirtschaftet der LS&E-Bereich rund zehn Prozent der Umsätze. Bis 2026 will Mann+Hummel den Anteil auf ein Drittel steigern. Damit verbunden sind auch ganz neu entwickelte Angebote, erläutert der CIO. So offeriere die Sparte unter anderem Filterlösungen für Rechenzentren, Krankenhäuser und diverse Lüftungssysteme. Auch Produkte für Klimaanlagen, Wasserfiltration und Kläranlagen gehörten zum erweiterten Portfolio. Die IT bleibt davon nicht unberührt, so Stamm: "Wir bedienen jetzt ganz andere Anforderungen." In der Automobilbranche gehe es traditionell um Just-in-Time- und Just-in-Sequence-Prozesse, auf die sich die IT einstelle. "In den neuen Geschäftsfeldern sehen wir nun auch den Endkunden an unseren digitalen Schnittstellen und müssen uns um Themen wie E-Commerce kümmern."
Drei Achsen der Transformation
Den Transformationsprozess beschreibt Stamm anhand von drei Achsen: Transformation des Geschäftsmodells und der Produkte, digitale Märkte und Interaktion mit den Kunden sowie die nach innen gerichtete Transformation zum Digital Enterprise. Dahinter steht ein ehrgeiziges Ziel: "Wir wollen uns vom klassischen, am Verbrennungsmotor ausgerichteten schwäbischen Mittelständer zum global aufgestellten Unternehmen entwickeln, das unterschiedliche Branchen bedient."
Den digitalen Wandel begleitet die IT auf mehreren Ebenen, beispielsweise wenn es um neue digitale Produkte geht. Schon jetzt baut Mann+Hummel "smarte Filter", die mit Sensoren ausgestattet sind, um den eigenen Zustand zu überwachen und Probleme zu melden, so der CIO. Daraus ließen sich datengetriebene Mehrwertdienste ableiten, die man etwa für landwirtschaftliche Maschinen anbieten könne. Auch mit digitalen Märkten beschäftigt sich die IT. E-Commerce, Social Media und Online-Marketing gehören nun zum Pflichtprogramm.
Smart Factory und Digital Twins
Der wichtigste Bereich im Transformationsprozess ist die Smart Factory. "Wir sind ein produzierendes Unternehmen, die Wertschöpfung findet im Kern in den Fabriken statt", erklärt der IT-Chef. Dementsprechend gehe es vor allem um Effizienz und Produktivität in den Abläufen. Auch digitalisierte Entwicklungsprozesse mithilfe digitaler Zwillinge spielten dabei eine zentrale Rolle.
Um den digitalen Wandel im ganzen Unternehmen voranzutreiben, hat Mann+Hummel neun "Action Fields" definiert. Daraus sind rund 200 einzelne Initiativen entstanden, die zu strategischen Aufgabenfeldern gebündelt wurden. Dazu gehören beispielsweise "Smart Factory & Digital Operations", "Digital Twins" und "Future Customer Interaction", aber auch weichere Themen wie "Digital Culture & Mindset".
Auf der CIO-Agenda: Multicloud, S/4HANA und Security
Dessen ungeachtet gibt es für Stamm auch reichlich klassische IT-Themen, um die er sich kümmern muss. "Wir haben schon auch eine ganze Menge im Maschinenraum zu tun", sagt er. Seine IT-Strategie dreht sich um die vier Säulen Business-Plattformen, Cloud, IT Operation Model und Security. Für alle Business-Funktionen gibt es eine Plattformstrategie und einen Bebauungsplan. Dazu gehören klassische Anwendungen wie ERP, CRM und PLM. Aktuell läuft ein Projekt zur Einführung des HR-Systems SAP SuccessFactors.
In Sachen Cloud Computing verfolgt Stamm eine hybride Multicloud-Strategie mit den zwei Hyperscalern Amazon Web Services (AWS) und Microsoft. Rund 90 Cloud-Services nutzt Mann+Hummel derzeit, Tendenz steigend: Der CIO will das Konzernrechenzentrum auflösen und IT-Ressourcen künftig zu großen Teilen aus der Public Cloud beziehen. Für bestimmte Bereiche werde es auch Private-Cloud-Plattformen geben.
"Wir wollen einen Lock-in so weit wie möglich vermeiden", begründet er die Strategie mit zwei Anbietern. Doch das sei nicht der einzige Grund. Die Hyperscaler hätten in Bereichen wie Data Analytics und Machine Learning jeweils unterschiedlich ausgeprägte Stärken, die man nutzen wolle. Ein weiterer Aspekt ist das für Mann+Hummel wichtige China-Geschäft. Wer dort in größerem Umfang Cloud-Ressourcen nutzen möchte, komme um einen lokalen Provider kaum herum, sagt Stamm.
Shared Services, Nearshore und Offshore
Geht es um das IT-Betriebsmodell, setzt der Manager auf einen Shared-Services-Ansatz. Etwa die Hälfte seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist in Nearshore- und Offshore-Regionen beschäftigt. Stamm spricht von "Best Cost Countries" und betont den Unterschied zum klassischen IT-Outsourcing. Die IT-Experten in diesen Ländern gehörten alle zur Belegschaft. Mann+Hummel wolle IT-Kompetenzen im Unternehmen halten, insbesondere in der Software-Entwicklung.
Das gilt auch für die vierte Strategiesäule Security. Vor gut eineinhalb Jahren hat der Zulieferer ein Security Operations Center (SoC) aufgebaut und das IT-Team umfassend in Sachen Sicherheit weitergebildet. Dennoch greife man bei bestimmten Themen auch auf externes Know-how zurück, so Stamm, beispielsweise in Form von Managed Services im Bereich SIEM (Security Information and Event Management).
Besonders wichtig ist ihm auch der Bereich Advanced Analytics: "Das ist der Kernbaustein, um uns zu einem datengetriebenen Unternehmen zu entwickeln." Mann+Hummel habe in diesem Feld viel investiert, etwa einen Data Lake implementiert und Data-Mesh-Technologien eingeführt. "Im Grunde geht es darum, Daten zu sammeln, um schnellere und bessere Entscheidungen zu treffen", so der CIO. Anwendungsbeispiele gibt es etwa im Inventory Management. Angesichts hoher Rohstoffpreise und vielfältiger Probleme in den globalen Lieferketten steckt hier noch viel Optimierungspotenzial.
S/4HANA-Migration in zwei Welten
Zu den größten Projekten auf der CIO-Agenda gehört die Migration auf SAP S/4HANA. Stamm hat es dabei mit zwei Welten zu tun. Die Herangehensweise im jungen Geschäftsbereich Life Sciences & Environment unterscheidet sich grundlegend von der im traditionellen Geschäft: "Im LS&E-Bereich, der auch durch viele Zukäufe gewachsen ist, heißt die Strategie Fit to Standard". Das neue SAP-Kernsystem soll also mit möglichst wenigen individuellen Anpassungen implementiert werden. Einige der LS&E-Werke arbeiten bereits produktiv im S/4HANA Public Cloud Tenant, der Rollout soll innerhalb von drei Jahren abgeschlossen sein.
Ganz anders die Situation im Stammgeschäft, wo das SAP-Projekt bereits vor zwei Jahren startete. Derzeit laufen vor allem strukturelle Vorbereitungen. So hat Mann+Hummel etwa eine neues Hauptbuch (SAP New General Ledger) eingeführt, das alte SAP-Kernsystem ECC arbeitet bereits mit der HANA-Datenbank. Die eigentliche S/4HANA-Transformation ist im Projekt "LEAP" organisiert (Lean Enterprise and Advanced Processes). Stamm verfolgt eine Mischung aus Greenfield- und Brownfield-Ansatz: "Wir wollen Ballast loswerden, aber Bewährtes erhalten. Deshalb haben wir eine große Process-Mining-Initiative vorgeschaltet."
Gemeinsam mit dem Softwareanbieter Celonis und Accenture arbeitet das Projektteam daran, tiefere Einblicke in die laufenden Prozesse zu gewinnen, Schwachstellen zu erkennen und automatisiert Verbesserungsmaßnahmen anzustoßen. Neben der klassischen Prozessoptimierung geht es auch darum, Prozessdaten strukturiert auszuwerten und daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Stamm: "Mann+Hummel ist 80 Jahre alt. Wir haben jetzt die einmalige Chance, in den Prozessen aufzuräumen und eine solide Basis für künftiges Wachstum zu legen." Das sehe auch die Geschäftsführung so.
Zentrale Strukturen für Business und IT
Die rund 400-köpfige IT-Organisation des Filterspezialisten ist klassisch funktional aufgestellt. Der CIO berichtet an Finanzchefin Emese Weissenbacher und gehört zudem einem erweiterten Geschäftsführungsgremium an, dem sogenannten Senior Leadership Team. Dort sitzen auch Verantwortliche aus den Business Units und aus anderen Funktionsbereichen. "Das IT-Budget liegt bei mir und wird zentral gemanagt", betont Stamm. Alle ITler berichteten über ihre jeweiligen Einheiten an den CIO.
Doch nicht nur die IT ist zentral organisiert. Auch alle andere Bereiche wie Finanz- und Logistikprozesse sind seit einiger Zeit durchgängig ausgerichtet, und das weltweit. Das war nicht immer so, erinnert sich Stamm. "Wir haben regionale Strukturen konsequent aufgebrochen." Die Aufräumarbeiten liefen noch. Ein anschauliches Beispiel für den Wildwuchs an Systemen und Prozessen fand er im Bereich Wareneingang: "Hier gab es mal 148 verschiedene Prozessvarianten. Nur ein kleiner Teil davon wurde wirklich gebraucht."
Innovationen und Fehlerkultur
Innovationen entstehen bei Mann+Hummel auf zwei Wegen, berichtet der CIO: Klassisch Top-down, wenn es etwa um neue Funktionen im ERP-System geht, aber auch Bottom-up in unterschiedlichsten Unternehmensbereichen. "Entscheidend ist, neue Ideen sichtbar zu machen und auch kleine Verbesserungen ernst zu nehmen. Es geht nicht um Revolution, sondern um Evolution." Für seinen Bereich hat er unter anderem den "IT Innovation Award" ins Leben gerufen. Erstes Fazit seiner Bemühungen: "Die IT ist heute viel experimentierfreudiger als noch vor zwei Jahren. Wir probieren mehr Dinge aus, beispielsweise über Minimum Viable Products."
Um den Innovationsprozess zu befeuern, bedarf es aber auch kultureller Veränderungen. Als Zulieferer für Automobilhersteller legte Mann+Hummel mit seinen Produkten großen Wert auf eine Null-Fehler-Kultur. In Zukunft werde es verstärkt darum gehen, offen mit Fehlern umzugehen, den Mut zu haben, diese einzugestehen und schneller daraus zu lernen, sagt Stamm. "Dazu gehört auch, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die nötige psychologische Sicherheit zu geben."
Lessons Learned
Die langen Lebenszyklen von Altsystemen bremsten den digitalen Wandel, blickt Stamm auf die vergangenen Jahre zurück. Doch entscheidend seien oft andere Faktoren. "Als ingenieursgetriebenes Unternehmen reden wir zu 95 Prozent der Zeit über Technologie und stellen doch immer wieder fest: Wenn etwas nicht klappt, war die Technik nicht das Problem."
Der Knackpunkt liege fast immer in der Unternehmenskultur. Dabei gehe es vor allem um die Haltung und den Mut der Mitarbeitenden sowie um Fähigkeiten im Change-Management. Die müsse man im Unternehmen stärker ausprägen. Angesichts des enormen Kostendrucks und der geopolitischen Verwerfungen komme es beim digitalen Wandel mehr denn je auf Geschwindigkeit an, so der CIO: "Ein Scheitern im Change-Management heißt in der Regel, man verliert Zeit und verursacht zusätzliche Kosten."