Die Musiker waren die Idee von Stefan Dombrowski. Stolz steht der 39-jährige gelernte Röntgentechniker vor der Elbphilharmonie, der neuesten Attraktion im Hamburger Miniatur Wunderland. Während am Original immer noch gewerkelt wird, probt im Nachbau - ein Meter lang, 82 Zentimeter hoch - bereits das Orchester. Die Streicher, Blechbläser und Flötisten, jeweils gerade mal zwei Zentimeter hoch, wiegen sich im Takt.
"Alle Musiker sind mit einem dünnen Draht am Boden befestigt, die Bewegungssteuerung erfolgt über drei hinter den Wänden des Konzertsaals versteckte Elektromagneten, die die Figuren mal in die eine, mal in die andere Richtung ziehen", erklärt Modellbauer Dombrowski seine Welt der Winzlinge.
Die Anlage verdankt die Stadt Hamburg nicht nur Dombrowski, sondern vor allem dessen Chefs, den Zwillingen Gerrit und Frederik Braun. Die beiden Unternehmer, die den Freizeitpark, 250 Meter Luftlinie von der echten Elbphilharmonie entfernt, 2001 gegründet haben, pflegen eine besondere Philosophie. Sie räumen ihren Mitarbeitern so viel Freiheit wie möglich ein.
Konkret heißt das: Für die Miniatur-Wunderland-Kreativtruppe aus 50 Modellbauern und Elektrotechnikern gelten keine Restriktionen wie Kostenvoranschläge, Budgets oder Zeitvorgaben. Nur mit Mitarbeiter an der langen Leine, so die Überzeugung der Braun-Zwillinge, kann ihr Unternehmen erfolgreich sein. Denn erst dann entstünden auch überraschendende oder pfiffige Einfälle wie die Magnet-Musiker.
"Die Vielfalt der Ideen macht den Reiz der Anlage aus", sagt Frederik Braun, und sein Mitarbeiter Dombrowski ergänzt: "Wenn wir eine Idee haben, überlegen wir, wie man sie realisieren könnte, und dann tüfteln wir so lange, bis es funktioniert."
Das freie Überlegen und Tüfteln an der Alster hat Gigantisches in Klein hervorgebracht. 900 Züge mit gut 15.000 Waggons auf 13 Kilometer Gleisanlagen rollen durch Hamburg, alles en miniatur. Es gibt eine Fantasiestadt Knuffingen mit eigenem Flughafen. Wer will, kann sich die USA mit der Spielhölle Las Vegas und Miami in Florida, die Alpen oder Skandinavien, jeweils im Maßstab 1:87 verkleinert, anschauen. Die Abwechslung kennt keine Grenzen. Auf dem Mast eines Seglers balancieren, gefertigt von Dombrowskis Kollegin Elke Bochonek, Käpt’n Blaubär und sein begriffsstutziger Matrose Hein Blöd aus der "Sendung mit der Maus". Anderswo pinkeln zwei Männer im hohen Bogen von einer Brücke. Und ein Tierarzt leistet einer lilaweißen Milka-Kuh Geburtshilfe.
Das Kreativkonzept des Unternehmerduos geht auf. Die Vielfalt der Ideen lockt inzwischen jährlich mehr als eine Million Besucher in die Hamburger Speicherstadt. Neben Hafen und Reeperbahn zählt das Wunderland mittlerweile zu den größten Attraktionen der norddeutschen Metropole. Der Umsatz dürfte im zweistelligen Millionenbereich liegen; genaue Zahlen veröffentlichen die Gründer nicht.
Zufriedenere Mitarbeiter sind kreativer
Die Mitarbeiter einfach mal machen lassen - auf diese Idee verfallen auch andere Unternehmen, vom Sensorenhersteller bis zum IT-Konzern. Die Folgen sind greifbar: Die zufriedeneren Mitarbeiter sind kreativer. Mehr Freiheiten fördern zudem das Image des Arbeitgebers, wenn sich in Zeiten des demografischen Wandels der Wettbewerb um Fachkräfte verschärft.
"Das Interesse der Unternehmen, den Mitarbeitern mehr Freiräume zu geben, wächst", sagt Erik Bethkenhagen, Geschäftsführer bei Kienbaum in Gummersbach bei Köln, der vor allem die Personalabteilungen von Unternehmen berät. Ein Grund sind die steigenden Ansprüche der Mitarbeiter an ihre Tätigkeit. Soziologen haben Absolventen, die derzeit von den Hochschulen in die Unternehmen strömen, "Generation Y" (abgeleitet vom englischen "why") getauft. Die Mitarbeiter von morgen stellen häufiger als früher die Sinnfrage und wollen sich stärker im Beruf verwirklichen, gleichzeitig aber auch genügend Zeit für Freizeit und Familie haben. "Denen müssen die Unternehmen etwas bieten", sagt Berater Bethkenhagen.
Dabei sind mehr Freiheit, Freizeit und Flexibilität für die Unternehmen kein Selbstzweck. Den meisten, die derzeit bei ihm anfragen würden, gehe es "nicht um Philanthropie oder um demokratischere Strukturen im Betrieb". Im Vordergrund stehe schlicht, "die Potenziale der Mitarbeiter zu heben". Die Formel vieler Unternehmer ist deshalb sehr einfach. "Zufriedenere Teams sind erfolgreichere Teams", sagt Ana-Cristina Grohnert, Personalchefin bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, früher Ernst & Young. "Das lässt sich klar belegen."
Die Palette der Freiheiten, die die Unternehmen in dieser Absicht ihren Mitarbeitern gewähren, ist vielfältig. Ideen dazu gibt es in Firmen aller Klassen, in der 23-Mitarbeiter-Agentur CPP aus Offenbach ebenso wie im Weltkonzern Adidas.
Während andere arbeiten, dürfen die Beschäftigten am Konzernsitz im fränkischen Herzogenaurach Sport treiben, so oft und so lange sie wollen - sofern sie die Zeit morgens oder abends dranhängen. Die 3.400 Mitarbeiter in der Zentrale können aus mehr als 200 kostenpflichtigen Kursen wählen - von Yoga und Pilates bis hin zu Fußball, Basketball, Boxen oder Squash. Wer will, kann seine Laufrunden im eigenen Adi-Dassler-Stadion mit dem WM-tauglichen Rasen drehen. Im nächsten Frühjahr eröffnet auf dem Firmengelände ein 1.100 Quadratmeter großes Fitness-Center. Bald soll auch der 15 Meter hohe künstliche Kletterfelsen stehen.
Der Leistungsdruck ist immens bei Adidas, der Konkurrenzkampf in der Sportartikelindustrie hart. Mit einem Jahresumsatz von knapp 15 Milliarden Euro rangieren die Franken mit großem Abstand auf Platz zwei hinter dem US-Giganten Nike. Um nicht zurückzufallen, zählt jede Minute. Die Idee, Mitarbeitern trotzdem freizugeben für Sport während der Arbeitszeit, stammt vom kalifornischen Outdoor-Ausrüster Patagonia. Dessen Gründer Yvon Chouinard lässt seine Leute während der Arbeit im Pazifik surfen. Dem Erfolg tut das keinen Abbruch: Der Patagonia-Umsatz, der für 2013 bei etwa 600 Millionen Dollar liegt, wächst seit Jahren zweistellig.
Auch Adidas profitiert, wenn die Gehirnzellen der Mitarbeiter etwa beim Laufen stimuliert werden. Produktmanager Andrew Barr zum Beispiel schnürt gemeinsam mit Kollegen mittags häufiger mal die Laufschuhe. "Klar sprechen wir dabei auch immer wieder über neue Produktideen", sagt der gebürtige Schotte.
Idee beim Laufen
Eine gute Idee hatten Barr und seine Mit-Läufer vor gut einem Jahr: "Ein paar von uns sind in eng anliegenden Kompressionsshirts gelaufen. Dabei haben wir uns gefragt, ob wir nicht dieselbe Technologie für das Obermaterial von Laufschuhen einsetzen könnten." Kompressionseinlagen stimulieren den Blutfluss im Körper.
Direkt nach der Mittagspause schnappten sich Barr und seine Kollegen Scheren, schnitten ein Kompressionsshirt auseinander und zogen es über einen Schuh. "Das fühlte sich so gut an, dass wir weitergemacht haben", sagt der 29-Jährige. Heute findet sich diese Idee im Energy Boost wieder, dem Top-Laufschuh von Adidas.
Etwas ganz anderes hat sich 3M (weltweit rund 30 Milliarden Dollar Umsatz, 88.000 Mitarbeiter) einfallen lassen. Die Entwickler des US-Technologiekonzerns bekommen in der Regel klar gesagt, was sie zu tun haben. Aber 15 Prozent ihrer Arbeitszeit dürfen sie für eigene Projekte aufwenden, die außerhalb ihrer Aufgaben und manchmal sogar abseits der 3M-Produktpalette liegen. Die berühmten gelben Post-it-Haftzettel zum Beispiel sind auch durch die 15-Prozent-Regel entstanden.
Die nutzte auch Adrian Jung, Spezialist für Industrieklebstoffe in der Entwicklungsabteilung der deutschen Niederlassung in Neuss bei Düsseldorf. Der 38-jährige Chemiker hörte immer wieder die gleichen Klagen von Kunden. Anwender, die Maschinenteile verkleben, waren sich zum Beispiel nicht hundertprozentig sicher, wann sie diese maximal belasten durften. Denn dem verwendeten Klebstoff war nicht anzusehen, wann dieser Zeitpunkt erreicht war. Ebenso wenig konnten sie abschätzen, ob der Klebstoff schon zu alt war und die optimale Wirkung verloren hatte.
Jung ergriff die Initiative und überzeugte seine Chefs, ihm 15 Prozent seiner Arbeitszeit für die Lösung des Problems zu überlassen. Er begann, mit Farben und Chemikalien zu experimentieren, die die Eigenschaften des Klebstoffs anzeigen sollten. Nach ersten Erfolgen durfte er sein Team sogar auf drei Mitarbeiter aufstocken. Am Ende kreierte Jung einen neuartigen "Ampelklebstoff", der die Härtung sichtbar macht: Verfärbt der Klebstoff sich nach dem Auftragen grün, dürfen Maschinenteile und andere Schwergewichte belastet werden. Wird er blau, wurde er zu lange oder falsch gelagert und muss ausrangiert werden. 3M wirbt nun damit, dass der Ampelklebstoff im Flugzeugbau oder bei Windkraftanlagen die Sicherheit erhöht.
Erfinder Jung bekommt dafür keine Prämie, sondern einen Anteil am Umsatz, weil das Patent auch auf ihn angemeldet wurde. Von jedem Euro, den 3M durch den Ampelklebstoff künftig einnimmt, geht ein kleiner Anteil an den Erfinder. Der Betrag kann sich, wenn es gut läuft, nach Auskunft des Unternehmens "zu einem zusätzlichen Monatsgehalt pro Jahr" summieren.
Eine ähnliche Regel wie bei 3M existiert auch bei Google: Die Mitarbeiter dürfen 20 Prozent ihrer Arbeitszeit für eigene Projekte aufwenden. Mit solchen Freiheiten will der Suchmaschinen-Gigant vor allem hoch spezialisierte Fachkräfte anlocken. "Softwareentwickler sind schließlich händeringend gesucht", sagt Google-Manager Stefan Keuchel. Bei Google arbeiten weltweit 25.000 Entwickler, etwa die Hälfte aller Mitarbeiter.
Um qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen, bietet der Internet-Konzern (Umsatz 2012: etwa 50 Milliarden Dollar) allerlei Freiheiten, von denen Beschäftigte vieler anderer Unternehmen nur träumen.
Kostenloses Mittagessen
Das Mittagessen in der Kantine ist kostenlos. Es gibt einen Games Room mit Kicker, Billardtisch sowie Xbox- und Wii-Spielkonsolen. Im komplett verdunkelten Quiet Room darf, wer mag, ein Nickerchen halten. Ein eigenes Fitness-Center mit zwei persönlichen Trainern rundet das Angebot ab. Seit Jahren zählt Google zu den beliebtesten Arbeitgebern in Deutschland.
Kritiker sehen darin bloß eine besonders intelligente Form des Unternehmens, möglichst viel aus den Leuten herauszuholen. "Mit dieser Tarnung verfolgen Unternehmen einen knallharten Zweck", schreibt der Bestsellerautor Martin Wehrle, der sich als Chronist des Büro-Wahnsinns ("Ich arbeite in einem Irrenhaus") einen Namen gemacht hat. "So bequem soll es sein in ihren heiligen Hallen, so heimelig und luxuriös, dass der Mitarbeiter gar nicht mehr nach Hause will", sagt Wehrle. "Der moderne Arbeitsplatz ist ein Fliegenfänger: Mit seinem süßen Duft lockt er die Mitarbeiter an - und dann bleiben sie kleben. Gerne 60, 70 Stunden pro Woche."
Vertrauen ist gut, Freiheit auch - aus diesem Grund fehlt in der Kantine der Sick AG die Kasse. "Wir vertrauen darauf, dass die Mitarbeiter den korrekten Betrag von ihrer Geldkarte abbuchen lassen", sagt Personalchef Andreas Grieger. Der Industriebetrieb im badischen Waldkirch stellt Sensoren her, die etwa die Kunstschätze im Pariser Louvre vor Diebstahl schützen.
Grieger ist zuständig für weltweit 6.300 Mitarbeiter, davon 3.000 in Deutschland, und spricht viel von Vertrauen und Eigenverantwortung. Die Mitarbeiter können ihre Arbeitszeit frei wählen, innerhalb eines weiten Korridors von 6.30 Uhr bis 19 Uhr. Sie müssen sich lediglich - eigenständig – absprechen, wer wann anwesend ist. Teams in der Produktion entscheiden gemeinsam über die Urlaubsplanung oder darüber, wann das Telefon mal ausgeschaltet wird, um ungestört arbeiten zu können.
Die Freiheiten gewährt der Sensoren-Spezialist eher der Not gehorchend. Denn Waldkirch nördlich von Freiburg im Breisgau liegt ziemlich ab vom Schuss. "Die Region ist zwar attraktiv, aber wir müssen geeignete Mitarbeiter erst einmal hierher locken", sagt Grieger. "Mit den flexiblen Arbeitszeiten und Entscheidungsfreiheiten können wir bei Bewerbern punkten." Im Gegenzug verlange das Unternehmen auch viel von der Belegschaft, immerhin wachse der Umsatz jedes Jahr zweistellig, im Geschäftsjahr 2012 auf 970 Millionen Euro.
Rund 750 Kilometer nördlich, in Velgen bei Lüneburg. In dem kleinen Dorf in Niedersachsen sitzt die Firma Deerberg – das Gegenteil von Amazon. Der Online-Handelsriese aus den USA fällt durch niedrige Löhne, permanenten Leistungsdruck und befristete Arbeitsverhältnisse auf, klagt die Gewerkschaft Verdi. Dass es auch ganz anders gehen kann, zeigt Deerberg.
Der mittelständische Versandhändler hat sich auf den Verkauf nachhaltig produzierter Mode spezialisiert. Der Umsatz legt regelmäßig zweistellig zu und hat inzwischen 55 Millionen Euro erreicht. Die Zahl der Mitarbeiter verdoppelte sich in den vergangen drei Jahren auf mehr als 400.
Freiheiten und Verantwortung
Inhaber Stefan Deerberg setzt darauf, den Mitarbeitern möglichst viele Freiheiten zu lassen, etwa in Form flexibler Arbeitszeitmodelle, ihnen aber damit auch mehr Verantwortung zu geben. Das fängt bei der Ausbildung an: 2009 gründete Deerberg dazu das Lindgrenhus, das wie ein eigenständiger Versandshop funktioniert. Nicht altgediente Chefs, sondern junge Auszubildende treffen dort die Entscheidungen. Die Azubis suchen das Sortiment selbst aus und kaufen eigenständig bei Lieferanten ein. Bald soll das Projekt erweitert werden. Etwa 30 junge Nachwuchskräfte werden sich künftig um einen eigenen Online-Shop rund um das Thema nachhaltiges Wohnen kümmern, Möbel einkaufen, Präsentation und Versand managen.
Dass seine Mitarbeiter selbstständig denken und entscheiden können sollen, zählt zu den Grundüberzeugungen von Inhaber Deerberg. Der 53-Jährige hat einige Jahre im Flugzeug- und Maschinenbau gearbeitet und hasst seitdem jegliches Obrigkeitsdenken. Vor 27 Jahren gründete er gemeinsam mit seiner Ehefrau Gabi den Ökoversandhändler. Die Angst vor Fehlern lähme die Kreativität und das Engagement der Mitarbeiter, sagt Deerberg: "Angst ist Unfreiheit."
Jeder Mensch kann führen, glaubt Gernot Pflüger, auch die Schüchterneren würden mit ihrer Verantwortung wachsen. Der ehemalige Musiker und Journalist, der auch als Wachmann und als Verkäufer in einem Computerladen jobbte, gründete in den Achtzigerjahren die Werbeagentur CPP Studios in Offenbach. Mit zwei Dutzend Mitarbeitern produziert der 48-Jährige unter anderem Werbefilme, schafft Events, berät Unternehmen und konzipiert Multimedia-Produktionen. Zu den Kunden zählen IBM, BMW, Audi und Samsung. Jährlicher Umsatz: etwa fünf Millionen Euro.
Doch CPP ist keine normale Werbeagentur. Seit mehr als 25 Jahren kommt Pflüger ohne feste Führungskräfte aus. Stattdessen wechseln sich die Mitarbeiter in der Chefrolle ab: Mal übernimmt der eine, mal der andere eine Führungsposition - je nachdem, wer am besten im Thema ist oder den Kunden besonders gut kennt.
Selbst Investitionen sind Gemeinschaftsentscheidungen. Am Jahresende entscheiden die Mitarbeiter - auch Pflüger hat nur eine Stimme - wie viel Geld im Unternehmen verbleibt oder ausgezahlt wird. Alle erhalten das gleiche Gehalt, nur Pflüger bekommt mehr. "Ich bin als Eigentümer für alles im Risiko, von der Kreditlinie über Investitionen bis hin zu Versicherungen, Miet- oder Leasingverträgen", begründet er die Ausnahmeregelung.
"Ich persönlich favorisiere diese Art von Arbeit", sagt Pflüger, "weil für die Erfolgsfaktoren eines Unternehmens wie Innovation, Veränderungsfähigkeit und Produktivität eine solche Umgebung nach meiner Erfahrung die beste ist."
(Quelle: Wirtschaftswoche)