Technische Schulden

Die 100-Prozent-Lösung gibt es nicht

Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
In der Softwareentwicklung geht es heute oft um schnelle Ergebnisse. Ohne den Aufbau von technischen Schulden funktioniert das meist nicht. Die Frage ist, wie man damit umgeht.
Ohne technische Schulden kommt im digitalen Wandel kein Unternehmen voran. Die Frage ist aber, wie hoch die Zinsen sind.
Ohne technische Schulden kommt im digitalen Wandel kein Unternehmen voran. Die Frage ist aber, wie hoch die Zinsen sind.
Foto: Mameraman - shutterstock.com

Technische Schulden beschreiben den in Form von Geld und Arbeitszeit zu entrichtenden Preis, den Unternehmen im Nachhinein zahlen oder abstottern müssen, wenn Software nur teilweise fertiggestellt oder technisch schlecht umgesetzt wurde. Im Idealfall werden technische Schulden nach Abwägung möglicher Vor- und Nachteile - in Form von Priorisierungen - bewusst kalkuliert und in Kauf genommen. Doch es gibt auch die negative Variante, die Wikipedia als Anti-Pattern beschreibt. Dann sind technische Schulden die Folge von Unprofessionalität im Entwicklungsprozess und damit deutlich negativ.

Die Software AG hat sich intensiver mit dem Thema beschäftigt. Sie definiert technische Schulden als die zusätzliche Arbeit, die auf Speed getrimmte Softwareteams an digitalen Systemen bewusst erst vornehmen, nachdem die Software bereits in Betrieb genommen wurden. Damit wären technische Schulden nicht per se positiv oder negativ, sondern ganz einfach eine Bedingung für agiles Arbeiten. Allerdings kann die Art und Weise, wie sie entstanden sind, einen wesentlichen Einfluss darauf haben, ob es sich um gute oder schlechte Schulden handelt.

Technische Schulden können teuer werden

So können technische Schulden, die aus einem nur zu 80 Prozent fertiggestellten Minimum Viable Product (MVP) resultieren, positiv sein. Unternehmen sollten sich aber über die fehlenden 20 Prozent im Klaren sein und entscheiden, wie sie damit verfahren wollen. Negativ sind dagegen in der Regel unbeabsichtigte technische Schulden, die beispielsweise durch Versäumnisse in der Entwicklung entstehen. Sie sollten nicht zu oft vorkommen.

Es gibt aber auch noch technische Schulden, die sich im Laufe der Zeit durch sich verändernde Umstände oder Rahmenbedingungen aufbauen. Das kann etwa der Fall sein, wenn veränderten regulatorischen Vorschriften oder technischen Standards genügt werden muss oder sich Unternehmen in ihren Strukturen durch Fusionen, Zukäufe, neue Gesellschaftsformen etc. verändern. Je schneller sich ein Unternehmen wandelt, desto eher können diese ruhenden Schulden zum Thema werden und die IT-Arbeiten behindern oder verkomplizieren.

Gute und schlechte technische Schulden sind laut Software AG für ein Digital-First-Unternehmen Normalität. Wie die Darmstädter im Rahmen einer Studie herausfanden, haben drei von vier Firmen allein im vergangenen Jahr mehr technische Schulden angehäuft als in den Jahren zuvor. Hintergrund ist, dass die Pandemie die digitale Transformation beschleunigt hat, was wiederum zu schnellem, teils hektischem Entwicklungsaufwand führte, mit den entsprechenden Folgen.

Für den Umgang mit technischen Schulden fehlt oft die Strategie

Heute glauben 82 Prozent der Betriebe, ihre technischen Schulden ganz oder teilweise bewerten zu können. Andererseits räumen 58 Prozent ein, das sie keine formale Strategie für die Verwaltung dieser Schulden haben. Während absichtlich eingegangene Schulden trotz zahlreicher Herausforderungen noch recht gut zu handhaben sind, ist der Umgang mit unbeabsichtigten Schulden schwieriger.

Wie bei finanziellen Verbindlichkeiten ist es die Höhe des Zinssatzes, die technische Schulden zunehmend unbeherrschbar macht. Wie lange haben Unternehmen Zeit, bevor wie hohe Zinsen anfallen? Die Betriebe sollten versuchen, das herauszufinden, bevor technische Schulden ihre betriebliche Effizienz, ihre Belastbarkeit oder ihr Wachstum beeinträchtigen.

Ein guter Ausgangspunkt dafür ist die aktuelle Analyse, wie sich vorhandene technische Schulden gegenwärtig auf ein Unternehmen auswirken. Dazu sollten die Betriebe ihre gesamte digitale Landschaft bewerten und Engpässe oder nur eingeschränkt funktionierende Teile ihrer Infrastruktur aufspüren. Oft handelt es sich um viele kleinere Probleme, die aber in Summe dann doch dem schnellen Fortschritt im Wege stehen.

EAM und Process Mining können helfen

Architekturmanagement-Tools können helfen, auf der Plattform- oder Infrastrukturebene zu verstehen, wo es Systeme gibt, die sich negativ auf das Unternehmen auswirken. Möglicherweise lassen sich diese nicht integrieren, verarbeiten bestimmte Datentypen nicht angemessen oder sind einfach nur zu langsam beziehungsweise vom Nachfragevolumen überlastet. Das Allgäuer Startup Cape of Good Code hat diesen Ansatz bei der Entwicklung der Corona-Warn-App verwendet. Es hat die Qualität der Architektur und die technischen Schulden immer wieder bewertet.

Doch auch der Ansatz des Process Mining kann auf Anwendungs- wie auf Mitarbeiterebene helfen, die Effizienz und Effektivität einzelner Systeme oder Prozesse zu bewerten. Im Mittelpunkt steht immer die Frage: Werden die gewünschten Ergebnisse auf möglichst effiziente Art und Weise erreicht? Mit solchen Werkzeugen lässt sich herausfinden, ob bestimmte Prozesse überlastet sind und Systeme so funktionieren, dass Mitarbeiter und Kunden auch wirklich das bekommen, was sie brauchen. Zeigen diese Systeme Probleme und Stockungen auf der Prozessebene an, ist das ein deutlicher Hinweis auf technische Schulden, die beseitigt werden müssen.

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Alles im Blick mit Digital Twin für die gesamte Organisation?

Wie die Software AG ausführt, kann auch das Erstellen eines Digital Twins von einer Organisation (DTO) ein Ansatz sein, Veränderungen präziser zu bewerten und fundiertere Entscheidungen zu treffen. Spiegelt der digitale Zwilling die gesamte Organisation, kann er zum Planen, Testen und Optimieren neuer Prozesse oder Systeme herangezogen werden. Er liefert Vorhersagen auf der Grundlage einer Reihe von Echtzeit- und historischen Datenquellen. Die softwaregestützte Abbildung der Organisation stützt sich auf aktuelle betriebliche Daten und zeigt die Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Anlagen und Systemen.

Viele Unternehmen müssten es allerdings für einen digitalen Zwilling - genauso wie für ihren alltäglichen Betrieb - erst einmal schaffen, ihre Daten zu konsolidieren und zu managen. Dazu ist immer ein gewisses Maß an Integration erforderlich. Und das ist leichter gesagt als getan: Nicht integrierte, isolierte Daten und Prozesse sind nach Einschätzung von einem Drittel der Unternehmen das größte Hindernis bei der Beseitigung technischer Schulden.

Um die Integration voranzutreiben und teilweise auch zu automatisieren, können die Betriebe auch die Einführung einer Plattform in Erwägung ziehen, die beispielsweise das API-Management oder sonstige Verwaltungsaufgaben verrichten. Doch das ist nicht nur eine technische Herausforderung. Wie bei allen Transformationsbemühungen muss auch die Unternehmenskultur diese Initiativen unterstützen. Eine mangelnde interne Abstimmung und das Vorhandensein organisatorischer Silos sind für viele Betriebe immer noch eine zentrale Herausforderung bei der Beseitigung technischer Schulden.

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Management unbeabsichtigter technischer Schulden

Im Zuge der zunehmenden Digitalisierung wissen viele Unternehmen heute technische Schulden als Instrument zu schätzen, um sich schneller zu transformieren und das Wachstum sowie ihre Unternehmenskultur zügiger weiterzuentwickeln. Rückblickend auf die letzten 18 Monate sagen 86 Prozent der befragten Betriebe, dass es sich lohne, technische Schulden aufzunehmen, um neue Produkte und Dienstleistungen auf den Markt zu bringen.

Technische Schulden, die sich im Laufe der Zeit aufbauen, können auch deshalb auflaufen, weil nicht genügend personelle oder finanzielle Ressourcen verfügbar sind, um eine Software bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu 100 Prozent umzusetzen. Oft entstehen sie aber einfach nur, weil sich wichtige Parameter oder Rahmenbedingungen ändern. Die Strategie ändert sich oder Systeme müssen miteinander verknüpft sowie neu eingeführt werden. Das führt zu wachsender Komplexität - in der Umfrage für immerhin 44 Prozent der Hauptgrund für die zunehmende technische Verschuldung.

Die Art von solchen technischen Schulden zu entdecken und damit umzugehen, ist nicht trivial. Wer hier Fortschritte erzielt, wird manchen zukünftigen Aufwand vermeiden können. Dazu müssen sich Unternehmen vor allem im initialen Designprozess die nötige Zeit nehmen, um zukünftige Anforderungen an eine Plattform oder Anwendung zu antizipieren. Würden Überlegungen zu mehr Resilienz - zum Beispiel zur künftigen Integrationsfähigkeit - früher angestellt, ließen sich unbeabsichtigte Schulden oft vermeiden. Deshalb müssen sich die Betriebe keineswegs von ihrem Highspeed-Kurs beim Entwickeln von MVPs abbringen lassen, zumal es hier oft um Systeme für eine eher unmittelbare Aufgabe geht.

... Kontrolle ist wichtiger

Mit Blick auf das Jahr 2022 geben 78 Prozent der Unternehmen an, dass die schnelle Einführung neuer Produkte und Dienstleistungen für sie eine hohe oder sehr hohe Priorität haben wird. Technische Schulden werden Teil der Strategie sein, die es Unternehmen erlauben wird reaktionsfähiger zu werden, Chancen bestmöglich zu nutzen und ihren Wandel voranzutreiben.

Unternehmen sollten aber wissen, in welchem Maß technischen Schulden aufgebaut werden und wie sich vorhandene Schulden verwalten beziehungsweise - falls unbeabsichtigt - abbauen lassen. Hier gilt es ein, harmonisches Gleichgewicht zu finden. Unternehmen, denen das gelingt, haben größere Chancen zu wahrhaft vernetzten Betrieben zu werden, die es schaffen ihre Daten in Werte zu verwandeln und ihre digitale Transformation in die richtige Richtung zu führen.

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