Was dahinter steckt
Die Furcht Europas vor dem Balkan
Frei nach Karl Marx und Friedrich Engels zu Beginn ihres Kommunistischen Manifests von 1848 heißt es heute: "Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Balkans". Erst im März warnte die Deutsche Bundesbank vor der "Balkanisierung" bei globalen Finanzregulierungen. Der deutsche Außenhandelspräsident Anton Börner beschrieb in den letzten Jahren wiederholt die Folgen einer eventuellen Aufgabe des Euros mit den Worten: "Am Ende steht die Balkanisierung und Marginalisierung Europas".
Der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt schlug nicht nur einmal Alarm, es könnte eine "Balkanisierung des Internet" geben. "Wir haben eine Balkanisierung in Europa", schimpfte vor drei Jahren die deutsche Mineralölwirtschaft mit Blick auf unterschiedliche Vorgaben für Spritmischungen (Stichwort E10). "Der Nahe Osten droht, zum Balkan des 21. Jahrhunderts zu werden", schrieb Ex-Außenminister Joschka Fischer im letzten Jahr in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung". Und schließlich der frühere britische Außenminister und NATO-Generalsekretär Lord George Robertson in der "Washington Post": "Die Abspaltung Schottlands könnte zur Re-Balkanisierung Europas führen".
Aber was ist so schlimm am Balkan? Was macht ihn aus und wo liegt er überhaupt? Der international renommierte slowenische Philosoph Slavoj Zizek hat trefflich, aber vergeblich versucht, den Balkan geografisch zu orten. Für die Serben beginne der Balkan in Bosnien und im Kosovo, weil serbisch-orthodoxe Christen jahrhundertelang die gesamte Christenheit gegen die Muslime verteidigt hätten. Für die im Norden wohnenden Kroaten seien die Serben das Tor zum Balkan, die sie als despotisch und byzantinisch abwerteten. Die Slowenen sähen sich als "Außenposten" des demokratischen Mitteleuropa, wonach auch Kroatien zum Balkan zu zählen sei.
Mehr noch. Österreicher und Italiener blickten auf Slowenien als den Beginn des Balkans. Für einige Deutsche gehöre Österreich wegen seiner engen historischen Verbindungen zum Balkan auch irgendwie dazu. Manche Norddeutsche schrieben selbst den Bayern "ein gewisses balkanisches Flair" zu. Fazit: "Der Balkan ist also immer der Andere, er liegt irgendwo anders, immer ein wenig weiter im Südosten", schreibt Zizek. In der Tat behaupten nicht wenige Münchener, südlich fange der Balkan an. Und in der österreichischen Hauptstadt ist Allgemeingut, dass er "am Südbahnhof beginnt".
Schwieriger noch als die geografische Lage ist die Beschreibung dessen, was den Balkan und die dort wohnenden "Balkanesen" (angeblich) ausmacht. In jedem Fall müssen diese Charakteristika sehr negativ sein, wenn schon 1876 der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck im Parlament klarstellt, der Balkan sei "nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert". Der Balkan interessiere ihn überhaupt nicht, wiederholt er elf Jahre später: "Die Freundschaft von Russland ist uns viel wichtiger als die von Bulgarien und von allen Bulgaren-Freunden, die wir hier bei uns im Land haben".
Heute sieht das ein wenig anders aus. Die EU und vor allem Deutschland versuchen seit längerem, den Beitrittskandidaten Serbien als Russlands engsten Verbündeten in dieser Region auf Sanktionen gegen Moskau einzuschwören. Belgrad weigert sich aber hartnäckig unter Verweis auf seine historisch engen Verbindungen zu den "russischen Brüdern". Das wäre "selbstmörderisch", das Land werde "ohne Russland auf die Knie geworfen", warnte vor Tagen der serbische Politikprofessor Ivo Viskovic im Staatsfernsehen RTS.
Die "Balkanisierung Europas" wird in den meisten Warnungen als Zerfall eines Großen in viele Einzelteile verstanden. Eine neue Kleinstaaterei in der EU, der Rückfall in viele kleine verschiedene Währungen, die Aufteilung des Internets in einzelne abgeschottete Segmente. Der Balkan war jahrhundertelang von zwei großen Imperien beherrscht: Den Habsburgern im Norden und den Osmanen im Süden. Seit dem 19. Jahrhundert befreiten sich die Völker dort in vielen blutigen Kriegen von ihren Besatzern und bildeten Nationalstaaten.
Weil der Balkan aber in der langen Geschichte die Trennungslinie zwischen Ost- und Westrom, zwischen dem angeblich rückständigen Orient und dem fortschrittlichen Okzident war, wurden die Grenzen hier immer wieder in die eine oder andere Richtung verschoben. Nach den Heeren rückten die Zivilisten nach, die sich nicht so schnell den immer neuen Grenzen anpassen konnten. Es entstand der sprichwörtliche Flickenteppich unterschiedlicher Nationalitäten, bunt gemischt. Heute würde man das als multikulturellen Reichtum bezeichnen. Lange galt für die Region das Bild des gescheckten "Leopardenfells".
Doch in grausamen Kriegen selbst noch in den 90er Jahren zerfiel der Balkan in Kleinststaaten. Slowenien, Mazedonien und Kosovo haben zwei Millionen, Montenegro gar nur 620 000 Einwohner. Diese vielen neuen Länder haben gegeneinander noch zahlreiche Rechungen offen. Sie gelten in Westeuropa als rückständig ohne funktionierende staatliche Institutionen und Marktwirtschaften mit raffsüchtigen und diktatorischen Spitzenpolitikern, die MedienMedien und Justiz gängeln. Top-Firmen der Branche Medien
Für den 28. August haben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) zu einer Westbalkan-Konferenz nach Berlin geladen, um einige dieser Probleme anzugehen. Zu Gast sind die Regierungschefs sowie die Außen-, Finanz- und Wirtschaftsminister der sieben jugoslawischen Nachfolgestaaten plus Albaniens.
Die in Berlin lebende kroatische Kulturwissenschaftlerin Marija Katalinic (Organisatorin der Filmreihe "Berlin goes Balkan") nimmt den "Balkanesen" so neutral wie etwa den "Skandinavier". Ironisch fragt sie in der Zeitung "Novi list" (Rijeka): "Balkanesen sind wir, wenn wir über unser Banklimit gehen, wenn wir zwei Stunden Kaffeetrinken während der Arbeitszeit, wenn wir keine Steuern zahlen, unsere Frauen schlagen und unsere Arbeiter ausbeuten. Mitteleuropa sind wir, wenn wir mehr Einkaufszentren als Kindergärten haben, Frauenhäuser, wenn wir kein Geld für Strom haben, aber unsere Kinder iPhones besitzen?"
Der Belgrader Soziologe Jovan Bakic sieht überhaupt keinen Grund, warum der vielbeschworene Westen von einem angeblich zivilisatorischen Berg auf den inferioren Balkan herabschauen könnte. "Der Balkan ist ein Konstrukt des Westens", ist er sicher: "Eine Stereotype, die schon vor dem Ersten Weltkrieg entstand". Europa lege eine "Skala für den Orient an", kritisiert der Unidozent: "Osteuropa ist orientalisch, Südosteuropa noch mehr und die arabischen Länder sowie die Türkei bilden noch mal eine Steigerung".
In Rumänien wird seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Auseinandersetzung mit dem "Balkanismus" geführt. Weitgehende Einigkeit herrscht seitdem, dass die staatlichen Strukturen nicht organisch gewachsen, sondern vom Westen aufgedrückt wurden. Neben den stark agrarisch geprägten Völkern der Region sei eine weitere Gemeinsamkeit die jahrhundertelange Unterdrückung durch Wien und Istanbul. Daraus habe sich ein grundsätzliches Misstrauen der Bevölkerung gegen den Staat entwickelt, den es auszutricksen gelte, was in der gesamten Region als Kavaliersdelikt bewundert wird. Später im Kommunismus habe man die Mangelwirtschaft, Willkür und Diktatur mit "Lavieren und Mogeln" gemildert. In Bulgarien wird das ganz ähnlich gesehen.
Kaum ein Land will zum Balkan gehören, weil der als hinterwäldlerisch gilt. Jede Balkanregion pocht auf ihre angeblich originäre Küche, obwohl die Ursprünge doch meist böhmisch-österreichisch oder osmanisch sind. Symptomatisch dafür ist der Dauerstreit um den Namen des überall verbreiteten arabischen Mokkas. Behauptet wird ein großer Unterschied zwischen dem griechischen, türkischen, serbischen oder bosnischen Kaffee, obwohl das Naturprodukt und seine Zubereitung bis auf Nuancen sehr ähnlich sind. Und wer den Fleischspieß (Souvlaki, Raznjici) oder die Blätterteiggerichte mit Käse, Spinat oder Hackfleisch erfunden hat, ist ein ähnlicher Glaubensstreit wie weiter nördlich die Urheberschaft der Currywurst.
Die immer noch weit verbreitete Abwertung der "Balkanesen" findet ihre Steigerung in Österreich. Dort werden Menschen aus Südosteuropa mit dem wenig schmeichelhaften Ausdruck "Tschuschen" belegt: "Das ist das Zeichen für eine Person, die faul, dreckig, unaufrichtig und unerwünscht ist und die im besten Fall nur gewisse dreckige, niedrig angesiedelte Arbeiten verrichten kann, dienen also", erklärt die kroatische Zeitung "Novi list" diesen fragwürdigen Begriff. Daher könne man nur schwer verstehen, "warum die Bürger Kroatiens so sehr versuchen, vom Balkan in den Westen zu fliehen".
Bei vielen Menschen der Balkanregion gibt es eine Überlegung, die als Theorie oder Bonmot zu bezeichnen ist, je nachdem, aus welcher Ecke man sie betrachtet: Heute sind 5 der 28 EU-Mitglieder Balkanländer. Doch sechs weitere warten draußen vor der Tür auf Einlass. Damit werde sich der tatsächliche oder behauptete Gegensatz zwischen West- und Nordeuropa sowie Südosteuropa mittelfristig von selbst auflösen. (dpa/rs)