Überschaubare Folgen
Ein Jahr NSA-Skandal
Edward Snowden hat die Welt erschüttert. Die geheimen Dokumente, die der einstige Techniker des US-Geheimdienstes NSA ans Licht brachte, enthüllten ein zuvor unvorstellbares Ausmaß an Überwachung bei nahezu jeder Art elektronischer Daten und Kommunikation. Die Empörung nach einer scheinbar endlosen Serie immer neuer Offenbarungen war gewaltig.
Doch Veränderungen blieben bisher überschaubar. Die Macht der NSA wurde in einer Gesetzesreform nur minimal eingeschränkt, international haben sich die politischen Wogen weitgehend wieder geglättet. Die meisten Internet-Nutzer änderten ihr Verhalten nicht. Zugleich setzen Internet-Firmen mehr denn je auf Verschlüsselung, die eine der letzten unüberwindbaren Hürden für die NSA zu sein scheint. Und in Deutschland wurden zum Jahrestag schließlich doch Ermittlungen im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Lauschangriff auf ein Handy von Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgenommen.
Alles begann am 6. Juni 2013 mit einer aus heutiger Sicht fast schon harmlosen Enthüllung. Der britische "Guardian" und die "Washington Post" berichteten von einem geheimen Gerichtsbeschluss, der den amerikanischen Telekom-Riesen Verizon verpflichtet, Daten über Millionen Anrufe an die NSA und die Bundespolizei FBI auszuhändigen. Experten vermuteten schon lange, dass die Behörden auswerten konnten, wer mit wem wie lange telefoniert. Doch es war das erste Mal, dass ein geheimes Dokument dazu in der Öffentlichkeit auftauchte.
Danach kam es Schlag auf Schlag. Die zweite Welle von Berichten enthüllte PRISM, ein System, über das die NSA Zugriff auf Daten bei Internet-Giganten bekommen kann. Und kurz darauf gab sich die Qualle der Informationen zu erkennen: Edward Snowden, ein 29-jähriger Techniker, der auf Hawaii im Dienst der NSA stand und sich mit vielen tausend Dokumenten davonmachte. Seine Warnungen im Video-Interview mit dem "Guardian" klangen damals noch übertrieben: "Sie haben keine Ahnung, was alles möglich ist." Die Enthüllungen gaben ihm recht.
Man erfuhr, dass die NSA mit Hilfe ihres britischen Gegenparts GCHQ in großem Stil Datenströme aus Unterseekabeln abgriff, sich in den Datenverkehr zwischen Rechenzentren von Internet-Konzernen wie GoogleGoogle und Yahoo einklinkte, Dutzende internationaler Spitzenpolitiker überwachte. Sie speicherte den Enthüllungsberichten zufolge massenhaft Bilder aus dem Videochat von Yahoo, infizierte über 100 000 Computer weltweit, saugte überall Ortungsdaten, SMS und Adressbücher auf. Jüngste Enthüllung: Die NSA sammelt Millionen Bilder, um sie mit Gesichtserkennungs-Software zu prüfen. Alles zu Google auf CIO.de
Nur die Verschlüsselung bleibe noch eine Schwachstelle der NSA, betonte Snowden in seinen Interviews: "Sie kann starke Crypto nicht knacken." Während Umfragen zeigen, dass der absoluten Mehrzahl der Internet-Nutzer die gängigen Kryptografie-Programme immer noch zu aufwendig sind, greifen die großen Technologie-Riesen inzwischen standardmäßig dazu.
Denn die Snowden-Offenbarungen kühlten das zuvor oft harmonische Verhältnis zwischen Internetfirmen und US-Sicherheitsbehörden ab. "Die Regierung hat's vergeigt", brachte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg die Stimmung auf den Punkt. Das Silicon Valley befürchtet dauerhaften Schaden durch Vertrauensverlust. In Europa gibt es eine starke Bewegung, Daten möglichst auf dem eigenen Kontinent zu lagern.
Nach einem Jahr scheint dem Skandal aber allmählich die Luft auszugehen. Auch wenn der von Snowden als Hüter der NSA-Dokumente auserwählte Journalist Glenn Greenwald mehr Offenbarungen verspricht - mit der Zeit wurde der Rhythmus der Enthüllungen langsamer und große Schocker seltener. US-Präsident Barack Obama rang sich im Zuge einer Geheimdienstreform zu der Entscheidung durch, dass die NSA die Telefondaten in den USA nicht mehr selbst speichern, sondern bei Telekom-Konzernen abfragen muss. Das blieb die bisher größte Einschränkung für ihre Überwachungsmacht.
Spannungen zwischen Deutschland und den USA nach der Handy-Affäre (Merkel: "Ausspähen unter Freunden - das geht gar nicht.") ebbten ab. Der Untersuchungsausschuss des Bundestages kam bisher nicht so recht voran und kann sich nicht über eine Befragung Snowdens einigen. Der Informant steckt nach wie vor in Moskau fest, wo Ende Juli sein Asyl-Jahr abläuft. Die USA betrachten ihn als Verräter, der die nationale Sicherheit untergraben hat.
Die wahre Macht der NSA bleibt unterdessen auch ein Jahr nach Beginn der Enthüllungen noch unklar. Die Informationen basieren zu großen Teilen auf Dokumenten, die schon einige Jahre alt und oft nur in der Telegrafen-Sprache von Präsentationen formuliert sind. Mit dem rasanten technischen Fortschritt könnten die Überwacher jetzt schon viel weiter sein. "Ich hoffe, es wird noch mehr Snowdens geben", sagt der finnische IT-Sicherheitsexperte Mikko Hyppönen. (dpa/rs)