Kodex für Videokonferenzen
Virtuelle Kommunikation braucht Normen
Als im letzten Frühjahr die Unternehmen ihre Wissensarbeiter in die Homeoffices schicken mussten, waren die IT-Abteilungen gut beschäftigt, die nötige Infrastruktur bereitzustellen und die Kollegen mit dem nötigen Equipment auszustatten. Engpässe bei VPN-Zugängen, Bildschirmen oder Kopfhörern sind überwunden, die Zusammenarbeit remote und verteilt funktionierte vielerorts besser als erwartet. Auch dank Videokonferenzsystemen wie Microsoft Teams oder Zoom, die reale Begegnungen digital abbilden, und das in unterschiedlichsten Formaten - ob nun vom Bewerbungsgespräch über das tägliche Teammeeting bis hin zu Unternehmensversammlungen.
Acht Stunden Zoom ist nicht produktiv
Alles in Zoom, alles gut? Die Antwort lautet Jein. Ja, weil eine Videokonferenz auch Monate nach Ausbruch der Pandemie oft der einzige Ort ist, an dem sich eine größere Anzahl von Mitarbeitern bedenkenlos treffen und austauschen kann. Nein, weil die rein digitale Kommunikation andere Spielregeln erfordert, die noch gefunden werden müssen. Diese Erfahrung machen selbst Führungskräfte, die auch schon vor Corona regelmäßig im digitalen Raum unterwegs waren, da sie internationale Teams leiten.
Andrea Trapp ist dafür ein gutes Beispiel. Als Director of Business EMEA von Dropbox leitet sie ihre Teams in Hamburg, Dublin, London und Paris von München aus. Vor Corona reiste sie regelmäßig zu den einzelnen Standorten, aber nicht nur: "Früher war ich den Konferenzen an in Dublin, London oder Paris oft als virtuelle Teilnehmerin zugeschaltet. Da unsere Büros bis Jahresende geschlossen sind, nehmen nun alle virtuell teil." Das ist für die Dropbox-Chefin mitunter sogar einfacher: Früher musste sie als einzige virtuelle Teilnehmerin oft versuchen, in das Gespräch mit anderen eingebunden zu werden, die alle physisch in einem Raum anwesend waren und ganz anders untereinander agieren konnten.
Dennoch ist Trapp überzeugt: "Wir müssen Zusammenarbeit neu denken und auch immer wieder nachjustieren. Videokonferenzen sind ein gutes Beispiel dafür. Sie benötigen eine klare Agenda, und wir sollten uns immer die Frage stellen, braucht es eine Videokonferenz oder ein Meeting wirklich?" Die Managerin hat festgestellt, dass Pausen aus den Homeoffice-Tagen "rausediert" wurden. Aber jeden Tag mit acht und mehr Stunden in diversen Videokonferenzen zu verbringen, ist nicht unbedingt produktiv. Es sollte noch genug Zeit bleiben, um andere Aufgaben erarbeiten zu können." Darum hat Trapp ihren eigenen Arbeitstag anders strukturiert, mehr Pausen eingeplant, denn die vergesse man im Homeoffice leicht.
Zudem hat sie sich täglich eine Stunde im Kalender blockiert, um Dinge auch abarbeiten zu können, ohne dass sie gestört wird. Im Homeoffice hat Andrea Trapp ihre Leidenschaft für das Kochen wiederentdeckt. Sie ist sich bewusst, dass jeder, der ausschließlich remote arbeitet und vor dem Bildschirm sitzt, einen Ausgleich braucht. Einige Kollegen haben begonnen, Sprachen zu lernen, andere treffen sich zum virtuellen Mittagessen oder einer abendlichen Happy Hour.
Führungskräfte fordert die virtuelle Zusammenarbeit nach Trapps Erfahrungen in den vergangenen Monaten in besonderem Maße: "Führung hat viel mit Menschen zu tun, ich muss mich fragen. Wie kann ich Menschen motivieren, wie kann ich sie in ihrer Leistung resilient halten?" Gerade in diesen Zeiten, in denen wir uns im Büro nicht mehr persönlich begegnen, sei es noch wichtiger geworden, seine Erwartungshaltung, etwa hinsichtlich der Zielvorgaben, klar zu kommunizieren.
Da der Zwischenruf auf dem Gang nicht mehr funktioniert, sei regelmäßiger Austausch wichtig, resümiert Trapp: "Es hilft nicht weiter, auf das Personalgespräch zu warten." Darum versucht sie selbst, das Ohr an der Basis zu haben und vereinbart seit Mai regelmäßig virtuelle Termine mit einzelnen Mitarbeitern, die nicht direkt an sie berichten.
Digitaler Kodex für Videokonferenzen
Die digitale Kommunikation birgt aber viele Untiefen, hat Sarah Diefenbach in ihren Untersuchungen herausgefunden. Als Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München untersucht sie die Mensch-Technik-Interaktion aus psychologischer Perspektive und fragt sich, welche Effekte Technik auf soziales Wohlbefinden und soziale Interaktion ausübt.
Erste Analysen aus einer laufenden Studie über die digitale Kommunikation in der Arbeitswelt zeigen, dass Teilnehmer Gesprächssituationen in Videokonferenzen oft als schwierig erleben, so Diefenbach: "Das fängt schon mit dem Redner oder Moderator an. Da die nonverbale Kommunikationsebene fehlt und er aus dem virtuellen Auditorium keinerlei Rückmeldung, etwa zustimmendes Kopfnicken oder Blickkontakt, erhält, redet er ins Leere und fühlt sich nicht wertgeschätzt.
Darum neigen viele Redner dazu, in Videokonferenzen zu monologisieren. Umgekehrt ist die Hürde, den Redner zu unterbrechen oder etwas in die Diskussion einzuwerfen, für die anderen Teilnehmer ungleich höher als in der persönlichen Kommunikation." Die Dynamik eines Teams lasse sich in einer Videokonferenz ebenso wenig erfassen wie die Stimmungen einzelner Teilnehmer, insbesondere wenn diese stumm geschaltet sind oder ihre Kamera nicht freigeben.
Darum empfiehlt die Wirtschaftspsychologin, auf der Metaebene über digitale Kommunikation und Zusammenarbeit zu diskutieren und sich auf gemeinsame Regeln zu verständigen. Dazu Diefenbach: "Soziale Normen wie die gegenseitige Begrüßung oder das Aufhalten der Tür sind in der realen Welt selbstverständlich, in der digitalen Welt sind diese Normen aber noch nicht so ausgehandelt." Was für den einen normal erscheint, empfindet der andere vielleicht als respektlos.
Treffen sich Teams nur noch virtuell, sollten sie in Diefenbachs Augen einen gemeinsamen digitalen Kodex erarbeiten. Ausgangspunkt ist stets die Frage, wie laufen Kommunikation und Zusammenarbeit aktuell und wie lassen sie sich verbessern? Schon Kleinigkeiten, etwa dass sich manche Teilnehmer immer erst einige Minuten zu spät in die Videokonferenz dazuschalten, können zu latenter Unzufriedenheit führen. "Fühlt sich ein Team nicht mehr als Team, führt das zum Abfall der Leistungsmotivation", ist sich Diefenbach sicher. Mitarbeiter, die sich nicht aktiv an der virtuellen Kommunikation beteiligen und stets Bild wie Ton ausgeschaltet haben, können sich während der Videokonferenzen leicht in Parallelwelten verabschieden, ohne dass es die Führungskräfte oder ihre Kollegen mitbekommen.
Nicht nur Videokonferenzen, sondern auch Chats sind laut Diefenbach ein Feld, das gemeinsamer Regeln bedarf. So wüssten viele nicht, wie sie ein Posting im Gruppen-Chat einordnen sollen: Ist es so verbindlich wie eine Mail und sollte beantwortet werden? Oder ist ein Posting eher eine Art Nachricht auf einer digitalen Pinnwand, die man lesen sollte, aber auf die man nicht reagieren muss?
Oft entstehen in Chats umständliche Kommunikationsverläufe, die endlosen Ping-Pong-Spielen gleichen, ohne dass es zu einem verbindlichen Ergebnis kommt. Das deutet laut Wirtschaftspsychologin Diefenbach auch darauf hin, dass sich Akteure nicht in ihr Gegenüber hineinversetzen oder sich fragen, was der Chat-Partner möchte. Empathie sei im Chat aber genauso essenziell wie im persönlichen Gespräch. Darum empfiehlt die Wissenschaftlerin: "Telefoniert mal wieder! Gerade emotionale oder kompliziertere Themen eignen sich nicht für einen Chat, da sich Missverständnisse nicht einfach mit einem Smiley reparieren lassen." Diefenbach hat festgestellt, dass Telefonieren für die jüngere Generation nicht mehr selbstverständlich ist und mitunter sogar Ängste existieren, den Kollegen anzurufen.
Ideen entstehen aus der zufälligen Begegnung
Die größte Baustelle in der virtuellen Zusammenarbeit liegt laut den ersten Studienanalysen aber in der fehlenden Begegnung. Viele fühlen sich schlechter informiert, weil kurze Gespräche auf dem Gang, zufällige Treffen eines Kollegen in der Kantine oder der private bilaterale Austausch nicht mehr stattfinden, wenn alle verteilt arbeiten und ausschließlich digital kommunizieren, so Diefenbach: "Das wirklich Wichtige erfährt man oft in der Kaffeeküche oder auf Konferenzen in den Pausen. Das lässt sich schwer ins Virtuelle übertragen, denn vieles, gerade Ideen, entstehen oft aus dem Nicht-Intendierten, aus einer zufälligen persönlichen Begegnung."
In der Studie fragten Diefenbach und ihr Forscherteam, was besser über digitale Strukturen funktioniere und, ob Homeoffice und digitale Kommunikation nicht zum Standard werden könnten. Die Antworten waren eindeutig. Dank digitaler Strukturen können die Befragten ihre Aufgaben besser und effizienter erfüllen. Alles andere lasse sich aber in der Vor-Ort-Arbeit besser erreichen: Ob das nun Motivation und Freude an der Arbeit, das Lösen von Problemen, der Teamzusammenhalt, Inspiration und Kreativität oder die Führung von Mitarbeitern ist.