Management-Methoden

111 Rezepte zur Führung in der Digitalisierung

06.06.2018
Von Winfried  Kretschmer
In der industriellen Revolution sei mechanisiert und standardisiert worden – zu Lasten des menschlichen Individuums. Durch die Digitalisierung könne der Mensch nun sein Kreativpotenzial voll entfalten, behauptet Reinhard Sprenger in seinem Buch "Radikal digital".
  • Digitalisierung hat eine unbeabsichtigte Nebenwirkung: die Neu- und Höherbewertung menschlicher Fähigkeiten.
  • Die geschieht in drei Bewegungen: Wiedereinführung des Kunden, der Kooperation und der Kreativität.
  • Digitalisierung ist keine technologische Revolution, sondern ein sozialer Umbruch.
  • Reinhard Sprenger: "Das ist wirklich revolutionär: Noch nie wurde in den letzten Jahrzehnten so intensiv über das Unternehmen als Organisation nachgedacht."
Reinhard K. Sprenger
Reinhard K. Sprenger
Foto: Reinhard K. Sprenger

Über die DigitalisierungDigitalisierung ist schon endlos viel geschrieben worden: über den vermeintlichen Rückstand Deutschlands, den daraus erwachsenden Handlungsbedarf und natürlich über technische Details und Implementierungsstrategien in Unternehmen. Was die Digitalisierung aber gesellschaftlich und kulturell bedeutet, darüber wurde wenig gesagt. Reinhard Sprenger hatte vor sechs Jahren empfohlen, das Thema FührungFührung neu zu denken. Jetzt schlägt er dasselbe mit der Digitalisierung vor. "Radikal digital - Weil der Mensch den Unterschied macht", lautet sein Buchtitel. Alles zu Digitalisierung auf CIO.de Alles zu Führung auf CIO.de

Der Mensch war eigentlich nur geduldet

Sprengers Grundgedanke beruht auf der Annahme einer gravierenden Fehlentwicklung: Lange seien Unternehmen als "gut geölte Maschinen" begriffen und immer weiter auf Effizienz getrimmt worden. Der Mensch als Individuum ließ sich in den Hintergrund drängen. Er wurde dann gebraucht, wenn sich Aufgaben nicht maschinell erledigen ließen. Eigentlich war er nur geduldet, überspitzt Sprenger. Er sollte arbeiten, nicht denken. Seine Individualität störte.

CIO.de | Nachgefragt bei Reinhard Sprenger

CIO.de: Wieso soll ausgerechnet die Digitalisierung den Menschen wieder in den Vordergrund rücken? Ist nicht eher das Gegenteil der Fall?

Reinhard Sprenger: Sie haben das entscheidende Stichwort schon genannt: Der Mensch, das Besondere und Effektive, tritt in den Vordergrund. In den Hintergrund treten das Allgemeine und Effiziente, die Standardabläufe und Routinetätigkeiten. Ein Bankberater wird bald, wenn er morgens sein Büro betritt und den Computer anwirft, 80 Prozent seines früheren Jobs erledigt haben.

Deshalb hat er Zeit für das Wesentliche: für Einzelfälle, für die es Urteilskraft braucht, Fingerspitzengefühl. Die digitale Technik der neuen Welt fördert paradoxerweise das, was die industrielle Technik unterdrückte: den Menschen als Gestalter, nicht nur als Ausführenden. Er kann sich auf das konzentrieren, was nur Menschen können, was kein Blechkasten kann. Alle sprechen davon, dass der digitale Wandel unsere Arbeitswelt verändert. Was heißt das nun konkret für den Mitarbeiter im Unternehmen? Und was für die Führungskräfte?

Der Einzelne kann zwischen drei Verhaltensstrategien wählen: step up – hierarchisch weiterstreben nach oben; step aside – in Jobbereiche gehen, die nicht digitalisierbar sind; step in – mit intelligenten Maschinen zusammenarbeiten. Vor allem muss sich jeder weiterbilden. Jeder braucht ein Basiswissen der Technologie. Und Führungskräfte stehen vor großen Herausforderungen.

Sie müssen das Unternehmen entwickeln: vom Ich zum Wir, von der Vorgabe zur Selbstorganisation, von der Fehlervermeidung zum Ausprobieren, von der Binnenorientierung zur Außenorientierung. Das erfordert nicht nur personenzentrische Ansätze, sondern vor allem organisatorische Änderungen. Orientiert an der Frage: Sind wir so aufgestellt, dass wir schnell neue Geschäftsmodelle aufbauen können, die mit der digitalen Welt kompatibel sind?

"Neu- und Höherbewertung menschlicher Fähigkeiten"

Genau das ändere sich heute grundlegend: "Paradoxerweise ist es gerade die technische Entwicklung, die die Re-Integration des Menschen in die Wertschöpfung erzwingt. Denn die Digitalisierung hat eine unbeabsichtigte Nebenwirkung: die Neu- und Höherbewertung menschlicher Fähigkeiten", schreibt Sprenger. Diese "Wiedereinführung des Menschen in die Unternehmen" erfolgt in drei parallelen Bewegungen: als Wiedereinführung des Kunden, als Wiedereinführung der Kooperation und als Wiedereinführung der Kreativität.

Eine soziale Transformation

Dahinter steht natürlich ein grundlegend anderes Verständnis von Digitalisierung. Sie ist keine technologische Revolution, sondern ein sozialer Umbruch. Sie bedeutet nicht eine ungehinderte Machtentfaltung der Maschinen, sondern, im Gegenteil, eine Rückbesinnung auf das, was nur Menschen mit ihrer Urteilskraft, ihrer Fähigkeit zu Kritik und Widerspruch und auch ihrer Fähigkeit zum Umgang mit Paradoxien leisten können. "Die digitale Transformation ist im Kern eine soziale Transformation - des individuellen Mitarbeiters und der orga­nisatorischen Strukturen." Nicht eine Frage der Technik, so Sprenger.

Eben deshalb werde in den Unternehmen heute so viel über Menschen gesprochen: über ihre Mitarbeit, ihr Mitentscheiden, über die Form ihrer Zusammenarbeit, ihr Bedürfnis nach einem Umgang "auf Augenhöhe" und über die organisatorischen Strukturen, die das alles möglich machen sollen. Diese Änderungen, die von der Digitalisierung begünstigt werden, bringt Sprenger wiederum auf den Punkt: "Das ist wirklich revolutionär: Noch nie wurde in den letzten Jahrzehnten so intensiv über das Unternehmen als Organisation nachgedacht." Mit tiefgreifenden Folgen für das Verständnis von Führung und die Rolle der Führungskraft.

111 Rezepte - gut beobachtet und wohldurchdacht

Das alles entwirft Sprenger auf wenigen Seiten - in der Einleitung und im Hinterher. Im Kern besteht das Buch aus 111 Rezepten zur Führung in digitalen Zeiten. Es sind kleine Stücke, gut beobachtet und wohldurchdacht - einfach ein Lesevergnügen. Und eine wertvolle Handreichung für alle, die in Unternehmen Verantwortung tragen und Mitarbeiter führen. Oder die einfach nur wissen wollen, was die Digitalisierung nun genau bedeutet. Es sind kurze Texte, in sich abgeschlossen, die sich unabhängig voneinander lesen lassen, zwischen denen man auch springen kann. Keine Frage, Sprenger beherrscht die große Kunst der Klarheit.

Der Unterschied: Der Mensch besitzt Urteilskraft

Klar arbeitet der Autor auch heraus, was den Menschen von jeder auch noch so hoch entwickelten maschinellen Intelligenz unterscheidet (bis auf Weiteres zumindest). Es ist die Fähigkeit, Daten Bedeutung hinzuzufügen, sie in Beziehung zu setzen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Dazu braucht es das, worüber nur der Mensch verfügt: Urteilskraft. Und noch etwas kommt hinzu: "Die Wiedereinführung des Menschen in die Unternehmen leitet sich letztlich ab von einer Fähigkeit, die immer dem Menschen vorbehalten bleiben wird: sich selbst zu widersprechen. Das zeichnet ihn vor jeder Maschine aus, das ist sein Adel, das ist sein Weg in die Vollständigkeit."

Reinhard K. Sprenger: Radikal digital. Weil der Mensch den Unterschied macht – 111 Führungsrezepte, DVA, 272 Seiten, 25 Euro, Randomhouse

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