"Schlimmer als erwartet"
"Brexit-City" bereut das EU-Aus dennoch nicht
Nein, gesteht Anton Dani und bläst die Backen auf, so hat er sich den Brexit nicht vorgestellt. "Die Realität ist vermutlich schlimmer, als wir es damals erwartet haben", sagt der 57-Jährige und lässt von seinem Café aus den Blick über den Marktplatz von Boston streifen. Es klingt vernichtend. Aber das trügt. Der ehemalige Bürgermeister der ostenglischen Kleinstadt hält den Brexit noch immer für eine gute Idee. Er werde nur von der Regierung in London völlig falsch umgesetzt. So wie Dani, der sich nun immer mehr in Rage redet, fühlen viele Menschen in Boston.
Willkommen in "Brexit City"! Sieben Jahre ist es am Freitag (23. Juni) her, dass Großbritannien für den Brexit votierte. Das Ergebnis fiel knapp aus. Nicht in Boston: Hier stimmten rund 76 Prozent mit Ja, so viele wie in keiner anderen Stadt. Und während in Umfragen die Zustimmung zuletzt auf ein Tief sank, untermauert Boston seinen Status als Brexit-Hochburg. Als das Portal "Unherd" vor einigen Monaten die Menschen im Land mit der Aussage "Es war falsch, dass Großbritannien die EU verlassen hat" konfrontierte, gab es genau einen Wahlkreis, in dem eine Mehrheit dies verneinte: Boston.
Die Landschaft nahe der Nordseeküste ist pittoresk, wegen der vielen Felder gilt die Region als Kornkammer Englands. Traktoren bremsen immer wieder den Verkehr aus. Meilenweit zu sehen ist der berühmte "Boston Stump", der Stummel, wie die Einwohner liebevoll ihren markanten Kirchturm nennen, der hoch über den Gassen der Marktstadt thront. Im Kirchen-Shop bedienen Wendy und Jeanne die Touristen. Sind sie denn noch für den Brexit? Aber natürlich, betonen die beiden älteren Damen freundlich. Der Grund: die vielen Fremden, die in den vergangenen Jahren nach Boston gezogen sind. "Alleine traue ich mich abends nicht mehr in die Stadt", sagen sie.
So wie sie denken viele. "Die Realität gibt ihnen mehr Gründe, gibt ihnen mehr Beweise dafür, dass sie den Brexit wirklich brauchen", sagt Ex-Bürgermeister Dani. Strengere Einwanderungsregeln hatten die Befürworter des EU-Austritts versprochen - in Boston warten sie noch immer darauf. Die Stadt versteht sich als weltoffen. Viele der Pilger, die 1620 auf der "Mayflower" nach Amerika auswanderten, stammten von hier. Und die Stadt an der US-Ostküste heißt Boston, weil sie von Menschen von hier mitgegründet wurde.
An der Spitze der Negativ-Statistiken
Doch langsam reicht es den Leuten in Lincolnshire. Einst eine blühende Hafenstadt, gab es in den vergangenen Jahren kaum eine Negativ-Statistik, die Boston nicht angeführt hätte. Es ist die fetteste Stadt des Landes, die mit der schlechtesten Integration und den niedrigsten Löhnen - und die mit den statistisch meisten Morden.
Viele Leute weisen auf den hohen Zuzug von Migranten hin. Es seien vor allem Menschen aus ärmeren EU-Staaten, die sich tagsüber in Grüppchen auf dem Marktplatz aufhielten, wird in den Pubs erzählt. Angelockt von der einst florierenden Agrarwirtschaft würden einige von ihnen für niedrige Löhne arbeiten und in heruntergekommenen Häusern wohnen, oft mit zu vielen Personen in einem Zimmer. Zwischen 2011 und 2021 hat sich die Zahl der Zugezogenen verzehnfacht. Abends würden sie auf dem Platz vor seinem Café Alkohol trinken, trotz Verbots, erzählt Dani, Mitglied in der Tory-Partei von Premierminister Rishi Sunak.
Doch der Gastronom beteuert, er hege keinen Groll. Vielmehr fühle er sich von London verraten. Die Regierung finde kein Mittel gegen die hohe Zahl der Migranten. Tatsächlich weisen Experten darauf hin, dass es seit dem Brexit zum Beispiel keine Rücknahmeabkommen für irregulär Eingereiste mit EU-Staaten mehr gebe.
Fremd in der eigenen Stadt
In der Praxis hat das Folgen. "Viele haben den Eindruck, dass sie fremd sind in der eigenen Stadt", sagt Dani. Die Kommune bleibe mit den Sorgen alleine. Es würden keine Sprachkurse angeboten, keine Schulen gebaut, keine Lehrer eingestellt. Stattdessen würden das Klinik-Angebot und die Zahl der Nachbarschaftsbeamten verringert. Illegale Müllentsorgung nehme ebenso zu wie Ladendiebstahl oder Drogenhandel. "Unsere Stadt war hübsch. Schau sie dir an, jetzt ist sie Schrott", sagt Dani, den Finger klagend ins Irgendwo gerichtet.
Für den Ex-Bürgermeister ist klar: Die Lösung könne nur "mehr Brexit" heißen. Doch tatsächlich sehen das nicht alle in Boston so. Im Herrenhaus Fydell House sitzt Touristenführerin Jane Keightley und lächelt melancholisch in sich hinein. "Es gibt so viele kleingeistige Leute", sagt sie und holt tief Luft. "Sie haben gedacht, dass sie mit dem Brexit einfach mit dem Finger schnipsen - und alle Migranten sind auf einen Schlag weg", erzählt die Frau, die 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt hat. "Aber das ist Quatsch. So wie der Brexit."
Statistiken geben Keightley durchaus recht. Der Handel mit der EU ist eingebrochen. Neue Zölle und bürokratische Vorschriften hemmen den Austausch mit dem engsten Nachbarn. Die von Brexit-Freunden umjubelte Teilnahme am ostasiatischen Handelspakt CPTPP wiegt nach Ansicht von Experten die Verluste im EU-Geschäft kaum auf. Die Preise für Lebensmittel sind gestiegen, die Reallöhne gefallen. Das von Ex-Premierminister Boris Johnson versprochene Extra-Geld für den maroden Gesundheitsdienst NHS, das dank des Brexits bei Zahlungen an Brüssel gespart werden könne, ist dort nie angekommen.
Einiges liegt auch an den Corona-Folgen, am russischen Krieg gegen die Ukraine. Doch für Experten ist offensichtlich, dass der Brexit einen Anteil an vielem trägt, das im Land schief läuft. "Das Leben der Menschen im ganzen Land - in den "Remain"- wie den "Leave"-Gebieten - wird immer eingeschränkter, grausamer und spröder", kommentierte der Kolumnist Matthew Syed jüngst in der "Sunday Times". "Die Nation ist in einem Angsttraum gefangen." (dpa/ad)