Psychologie
Der trügerische erste Eindruck
Die Nase des Lateinlehrers
Sie sehen in einer Verhandlung, einem Meeting oder während einer festlichen Veranstaltung einen Menschen zum ersten Mal und haben umgehend ein besonders gutes oder schlechtes Gefühl. Kennen Sie das? Dann muss es sich noch lange nicht um eine zieldienliche Intuition handeln, die Ihnen für die Verhandlung oder wofür auch immer wertvolle Hinweise liefert. Es könnte vielmehr eine Übertragung sein:
Die Nase des besagten Menschen erinnert Sie an die Nase Ihres ehemaligen Lateinlehrers, der Sie früher im Unterricht gerne vorgeführt hat und so droht schnell eine nicht gerade positive Schublade, in der der Mann eingeordnet wird. Solche Übertragungen finden immer wieder statt, ohne Ihnen in dem Moment bewusst zu sein.
Obwohl Menschen unersetzliche Unikate sind, gibt es nicht all zu selten Ähnlichkeiten, die ihren Niederschlag in diversen Typologien gefunden haben. Es mag das Gesicht sein, das ähnlich ist, die Augen, wie jemand spricht, gestikuliert, geht, sitzt oder die Hände faltet...; die Übertragungsmöglichkeiten sind nahezu endlos. Solange es uns bewusst ist, dass wir gerade eine solche Übertragung erleben, ist dieser Mechanismus kein Problem.
Es bedarf dafür nicht des konkreten Bewusstseins, dass Sie ein neuer Kollege an Ihren Bruder erinnert, der Ihnen sehr am Herzen liegt. Es reicht, wenn Sie merken, dass Sie sich gerade an jemanden erinnert fühlen, wenn auch nur sehr vage.
Sobald die Übertragung jedoch unbewusst abläuft und bei Ihnen nur noch als schiere Antipathie oder Sympathie ins Bewusstsein tritt, wird es problematisch. Denn dann hat dieses intuitive, nicht weiter begründbare Gefühl nichts mit der Person zu tun, auf die Sie sie beziehen, sondern wurzelt in Ihrer Beziehung zu einem anderen Menschen, der irgendwelche beliebigen Ähnlichkeiten aufweist.